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Viertel vor Revolution
Es geht um mehr als Meinungsfreiheit: Warum brennen in Spanien die Straßen?
In Katalonien brennen mal wieder die Straßen - und Schuld sind natürlich wieder mal »die Linken«, »die Antifa«, »die Chaoten« oder gleich Terroristen. Doch was sich dort zur Zeit entlädt, ist viel mehr als die Wut über den festgenommenen, linksradikalen Rapper Pablo Hasél. Es geht auch nicht nur um Meinungsfreiheit. In ganz Spanien kämpfen Menschen gegen eine rechte Dominanzkultur, die antifaschistische Kräfte systematisch dämonisiert. In Spanien brennen Straßen, weil es die einzige Möglichkeit ist, Druck auf eine Regierung auszuüben, die sich bislang darauf verlassen hatte, dass es nur genügend Knebel braucht, um weiter Schema F zu fahren.
Rechte Wurmfortsätze
Trotz »Transición«, des Übergangs des faschistischen Systems in eine parlamentarische Demokratie seit 1976, hat sich in Spanien ein Staat etabliert, dessen rechte Wurmfortsätze bis heute faktisch nicht auf demokratischem Weg, auf friedliche Weise kritisiert werden können: Militär und Gerichte sind in der Hand von Rechten und Ultrakonservativen. Wer im Kongress die Monarchie vollkommen gerechtfertigt der Korruption bezichtigt, wird gezwungen, seine Worte zu widerrufen, während Rechtsextreme gegen Migrant*innen und Frauenrechte unter Polizeischutz auf der Straße hetzen dürfen.
Möglich macht das nicht zuletzt die »Ley Mordaza«, ein unter dem rechten Ministerpräsidenten Mariano Rajoy im Jahr 2015 verabschiedetes »Sicherheitsgesetz«, das die Bevölkerung besser schützen soll, aber eigentlich die demokratische Wahrnehmung von politischen Grundrechten mit hohen Geldstrafen bis zu 30 000 Euro belegt. Seit fast sechs Jahren werden damit Menschen kriminalisiert, die Fotos oder Filmaufnahmen von Polizist*innen verbreiten, Barrikaden bauen, aufgelöste Demonstrationen nicht sofort verlassen, in der Öffentlichkeit kiffen, spontan demonstrieren oder aber vor einer »kritischen Infrastruktur« wie dem Parlament in Madrid demonstrieren. Zufällige oder sogenannte verdachtsunabhängige Personenkontrollen von Migrant*innen oder anderen Minderheitengruppen, also »racial profiling«, ist de facto legal. Wer sich strafbar macht, entscheidet nicht etwa ein Gericht, sondern die Polizei.
Auch wer sich in den sozialen Medien über tote Faschist*innen lustig macht, kann für ein Jahr ins Gefängnis kommen. So geschehen 2017 im Fall der Studentin Cassandra Vera, die sich in ein paar Tweets über den franquistischen Admiral Luis Carrero Blanco lustig gemacht hatte, der 1973 von der ETA bei einem Terroranschlag getötet wurde. Mittlerweile ist Spanien auch das Land mit den meisten inhaftierten Musiker*innen auf der Welt, noch vor dem Iran und der Türkei. Wer schlecht über die Regierung oder die Königsfamilie singt, schreibt oder spricht, steht mit einem Bein im Gefängnis.
Meinungsfreiheit für Faschist*innen
Dabei ist es ist kein Geheimnis, dass die »Ley Mordaza« nur diejenigen trifft, die mit rechter Politik nicht einverstanden sind. Vier Tage bevor Pablo Hasél im Februar an der Universität von Lleida wegen Tweets und Raptexten verhaftet wurde, durften in Madrid 300 Neonazis der rechtsradikalen Organisation Juventud Patriota unter Polizeischutz mit Hitlergrüßen, Hakenkreuz-Kränzen und Liedern aus der Franco-Zeit unbehelligt durch die Straßen marschieren, um der »División Azul« zu huldigen, die im Zweiten Weltkrieg an Hitlers Seite mordete. Die rechtsradikale Studentin Isabel Peralta konnte unter dem Schutz der Meinungsfreiheit ganz unverblümt antisemitisch ins Mikrofon hetzen, dass »der Jude« der Schuldige sei, den es jetzt in einem geschwächten Europa zu bekämpfen gilt.
Das einzige, das durch die »Ley Mordaza« wirklich geschützt ist, ist Spaniens postfaschistisches Kasperle-Königreich. Der einzige Zweck, den die »Ley Mordaza« verfolgt, ist die Zerschlagung einer antifaschistischen Demokratiebewegung. Dass die aktuelle, linke Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez ihre Ankündigung wahr macht, die Sicherheitsgesetze zu überarbeiten, darf bezweifelt werden. Sind Sánchez und die PSOE doch längst selbst Teil eines Systems, das mit Zugeständnissen an die Aufständischen an seinem eigen Stuhl sägen würde.
Keine Anerkennung der Opfer
Doch es ist nicht nur allein ein Maulkorb-Gesetz wie die »Ley Mordaza«, das die Frage aufwirft, was Spanien eigentlich in der Europäischen Union verloren hat. Auch 45 Jahre nach Francos Tod gibt es fast keine Aufarbeitung des Franquismus, keine Rehabilitierungen oder öffentliche Anerkennung von 114 000 ermordeten Oppositionellen, linken Politiker*innen oder Gewerkschafter*innen und anderen bis heute als »los rojos« (»die Roten«) gebrandmarkten Antifaschist*innen. Während die Morde der baskischen ETA juristisch aufgearbeitet und die Opfer der ETA sozial, politisch und wirtschaftlich entschädigt wurden, werden die Repressionsopfer der Franco-Diktatur von der Regierung nicht gewürdigt. In der Schule fällt kein Wort über sie im Geschichtsunterricht. Ihre Knochen liegen immer noch verscharrt in Massengräbern. Angehörige bekommen keinerlei öffentliche Unterstützung bei der Suche oder Umbettung ihrer Eltern und Großeltern. Francos Leichnam selbst konnte jedoch noch bis 2019 in einer bombastischen Gedenkstätte unter einem 152 Meter hohen christlichen Kreuz von Rechtsextremen angepilgert werden. Während Länder wie etwa Italien Antifaschismus fest in der Verfassung verankert haben, hat Spanien darauf verzichtet und damit Tür und Tor für eine reaktionäre Regierung offengelassen, seitdem 1975 König Juan Carlos I. zwei Tage nach Francos Tod neues Staatsoberhaupt wurde, ein korrupter Elefantenjäger und skandalträchtiger Steuerhinterzieher, den der Diktator selbst ernannt hatte.
In der Schraubzwinge der Oligarchie
Die spanische Demokratie ist konstant in der Schraubzwinge einer rechtskonservativen Oligarchie, in der es keine Rolle mehr spielt, ob gerade ein rechter oder ein vermeintlich linker Politiker wie Sánchez Ministerpräsident ist. Denn wenn es im EU-Land Spanien selbst einer linken Regierung nicht möglich ist, den katalanischen Politiker Oriol Junqueras aus der Haft zu entlassen, damit er gemäß eines höchstrichterlichen Urteils des Europäischen Gerichtshofs seinen Sitz im Europaparlament einnehmen kann, dann treibt das nicht nur einen Rapper wie Pablo Hasél zur Verzweiflung, der König Felipe VI. einen Faschisten nennt und die Guillotine fordert. Und doch werden die antidemokratischen Verquickungen von Polizei, Militär, Justiz und Politik von der postfranquistischen Mehrheitsgesellschaft nicht in Frage gestellt, sondern als bestehende Ordnung vollkommen affirmiert. Und so stehen die spanischen Antifaschist*innen vor der unheiligsten Allianz politischer Macht: Hegemonie gepanzert mit Zwang.
Die Polizei soll noch härter zuschlagen
Die meisten Spanier*innen verurteilen die Aufstände. Sie wären froh, wenn die Spinner auf der Straße endlich zur Vernunft kommen würden, damit man wieder fröhlich bei Zara shoppen kann. Diese naiv-neoliberale Wirtschaftshörigkeit zeigt sich auch in der deutschen Berichterstattung, etwa in der FAZ. »Hilferuf aus Katalonien: Barcelona, die Welthauptstadt des Feuers?« wird da rhetorisch gefragt, um festzustellen, dass 300 katalanische Unternehmer*innen und Wirtschaftsvertreter*innen nun »genug von Gewalt und politischem Stillstand« hätten. Seit den Regionalwahlen, die Mitte Februar stattfanden, kehre auf den Straßen Kataloniens keine Ruhe ein. Die Firmen- und Verbandschef*innen, die 90 Prozent der katalanischen Wirtschaft repräsentieren, forderten, dass die katalanische Regierung ihre »demokratische Autorität und ihre Verantwortung ohne Komplexe« ausüben solle, »um wieder ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen«. Fünf Banken, Polizist*innen, ein Zara-Geschäft und ein Hotel seien attackiert worden. Damit steht fest: Wenn die Polizei jetzt noch härter zuschlägt, ist in Spanien wieder Friede, Freude, Tortilla. »Hat Spanien etwa ein Demokratieproblem?«, wie der »Spiegel« ungläubig nachfragt.
»Alles ist gelogen«
In beiden Artikeln steht kein Satz, der die Riots mit der abgefuckten Gesamtsituation Spaniens in Verbindung bringen würde. Dafür ist in der FAZ der irrelevante Hinweis zu lesen, dass wohl auch »ausländische Anarchisten eine Rolle« gespielt hätten, weil die Polizei sechs Italiener und einen Franzosen in Barcelona festgenommen hätte. In dieselbe Kerbe haut auch der hippe katalanische Musikproduzent und Fernsehmoderator Risto Mejide, wenn er in seiner TV-Show »Todo es mentira« (»Alles ist gelogen«) feststellt, es sei vollkommen gerechtfertigt, dass die Polizei Leute zusammenschlage, die sich der Staatsgewalt nicht unterordnen wollen. Mit 1,2 Millionen Fans folgen ihm auf Instagram viermal so viele Menschen wie dem spanischen Ministerpräsidenten. »Ich schäme mich dafür, was ihr aus Barcelona macht. Ich schäme mich dafür, dass es junge Leute wie euch gibt, die nicht die Jungen in Barcelona repräsentieren und alles kaputt machen. Ihr verdient die Straßen nicht, in denen ihr lauft«, wetterte Mejide im spanischen Fernsehen.
Was macht die EU?
Der Skandal besteht aber weniger in den Riots als in der internationalen Ignoranz, wenn Deutschland und andere europäische Powerplayer die täglichen Repressionen und die Gewalt des spanischen Staates nicht skandalisieren und sanktionieren.
Man ist doch sonst so stolz auf das Selbstverständnis der EU als »Wertegemeinschaft«, die in ihren offiziellen Zielen eine Gesellschaft anstreben will, in der »Inklusion, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung selbstverständlich sind«.
Solange Spanien nicht auch von außen unter Druck gesetzt wird, bleibt deshalb nur zu hoffen, dass Pablo Hasél nicht der Letzte war, der seinen Mund aufmacht. Und auch, dass sich nach Pedro Almódovar und Javier Bardem noch weitere bekannte Persönlichkeiten öffentlich gegen die spanischen Zustände aussprechen. Bis dahin bleibt Antifaschismus weiter Handarbeit.
Elena Wolf schreibt für die Wochenzeitung »Kontext« die Kolumne »Die schon wieder« und hält sich regelmäßig in Barcelona auf, wenn nicht gerade Pandemie ist.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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