Ein doppelter Kraftakt

Über die Mühen des »nd«, zu bleiben und sich zu verändern

Wenn ein System instabil wird, ruckelt, hängen bleibt und absturzgefährdet ist, dann ist die vorläufige Rettung der abgesicherte Modus. Unzählige PC-Benutzer kennen das aus leidvoller Erfahrung. In der Endphase der DDR gab es zwar noch keine Personalcomputer für jedermann, aber das System wurde instabil, ruckelte, blieb hängen - und brach am Ende zusammen.

Viele Einrichtungen, Behörden, Betriebe im Osten Deutschlands überlebten die jähen Veränderungen der Jahre 1989 und 1990 nicht oder wurden bald danach kalt erwischt. Einen abgesicherten Modus gab es für fast niemand. Auch und schon gar nicht für das »Neue Deutschland«. Das jahrzehntelange propagandistische Flaggschiff der SED musste sich bald in der Marktwirtschaft behaupten und sich zudem scharfer politischer Angriffe erwehren. Vor allem aber stellten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Blatt vom Kopf auf die Füße. Gegründet worden war die Zeitung nämlich vor genau 75 Jahren - gleichzeitig mit der SED - als Nachfolgerin von zwei Vorläufern: des KPD-Blatts »Deutsche Volkszeitung« und des SPD-Organs »Das Volk«. Eine Volkszeitung war das ND immer weniger, je länger die DDR existierte, trotz der riesigen Auflage - es war vielmehr Funktionärsblatt, Staatsanzeiger, Instrument des allerengsten SED-Führungszirkels.

Das änderte sich nach der Wende 1989 und der deutschen Vereinigung 1990. »nd« wurde allmählich, aber unaufhaltsam ein Ort linker Debatte, des Meinungsstreits, des Interesses an allem, was linke, emanzipatorische Politik und Bewegung ausmacht. Zu einer eigenständigen, manchmal auch eigensinnigen publizistischen Plattform mit inzwischen zahlreichen Ablegern und Beibooten. Diese Entwicklung ist zugleich eine Geschichte fortgesetzter Selbstbehauptung: gegen politisch motivierte Attacken, gegen die Konkurrenz auf dem umkämpften Medienmarkt und längst auch gegen den rabiaten Umbruch der gesamten Zeitungsbranche in Zeiten der weltweiten Vernetzung und Digitalisierung.

Solche Kämpfe kosten Kraft, sie können aber auch Kraft geben. Wir blicken in dieser Jubiläumsausgabe vor allem auf die letzten 30 Jahre, weil es ganz und gar nicht selbstverständlich ist, dass der Kraftakt gelungen ist, die Zeitung und das nd-Gebäude allen Widrigkeiten zum Trotz zu erhalten - dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dank auch den Leserinnen und Lesern. Und weil wir, wenn wir jetzt in der nd-Belegschaft über eine Genossenschaftsgründung diskutieren, nicht über ein schickes Projekt reden, sondern über einen weiteren Kraftakt: einen Weg, die Existenz der sozialistischen Tageszeitung für die Zukunft zu sichern. Damit wir Möglichkeiten eröffnen für weitere Veränderungen, die nötig sind: das Nachdenken über die eigene Arbeit, der Ausbau des Digitalen, die Suche nach tragfähigen Finanzierungsmodellen für linken Journalismus. Von dem die Macher leben können und der für die Leser ein Gewinn ist.

Dafür setzen wir uns ein, und dabei bauen wir auch auf Sie, liebe Leserinnen und Leser: auf Ihr Interesse, Ihren kritischen Blick und Ihre solidarische Unterstützung. Nur weil wir uns in den letzten 30 Jahren beständig verändert und weiterentwickelt haben, sind wir geblieben. Und das ist auch unser Anspruch für die Zukunft. Immer daran denkend, dass drei Gründungsimpulse auch nach 75 Jahren gültig sind: Antifaschismus, soziale Gerechtigkeit, Frieden. Und wohl wissend, dass es einen abgesicherten Modus nicht geben wird.

Wolfgang Hübner, Mitglied der Chefredaktion

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Das »nd« bleibt gefährdet

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