• Kultur
  • Psychologie im Lockdown

Vorsicht Zeit-Schleife!

Lockdown-Demenz: Ich muss öfter überlegen, welches Jahr wir haben

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein beliebter Test von Psychiatern ist es, ältere Menschen danach zu fragen, welches Datum und welchen Wochentag wir gerade haben. Wer das nicht weiß, gilt - gleichsam im Schnelltest - als dement. Ich gestehe, dass ich mittlerweile auch nicht mehr weiß, welchen Tag wir gerade haben und das auch gar nicht so schlimm finde. Heute ist ohnehin wie gestern und morgen. Da ändert sich erst einmal nichts. Schlimmer ist allerdings, dass ich öfter überlegen muss, welches Jahr wir haben. Nach einigem Nachdenken komme ich darauf, dass 2020 wohl vorbei und 2022 noch nicht begonnen hat.

Das sei die Lockdown-Demenz, sagt meine Tochter. Gemeint ist das Herunterfahren unseres individuellen und gesellschaftlichen Bewusstseins bis knapp oberhalb der Zurechnungsgrenze, aber manchmal sehr knapp. Weitreichende Entscheidungen sollte man in dieser Situation nicht treffen, etwa eine neue Regierung wählen oder auch nur die Route seines täglichen Spazierwegs ändern. Es kann sein, man findet dann nie wieder nach Hause zurück. Es kann auch sein, man bekommt nicht mit, welche riesigen Subventionen welche Großunternehmen gerade bekommen und an welchen Gesetzen herumgebogen wird.

Nach über einem Jahr ist der Ausnahmezustand auf ungute Weise normal geworden. Bald werden sich nur noch wenige Ältere an ein Leben davor überhaupt erinnern. Wann hat man sich das letzte Mal in eine Gruppe von Menschen begeben, ohne Angst vor Infektion zu haben? Wann habe ich das letzte Mal jemandem die Hand geschüttelt? Mich in einem geschlossenen Raum mit anderen Menschen aufgehalten, ohne daran zu denken, dass man jetzt doch mal wieder lüften sollte? Mich gar in ein überfülltes Szenekino gedrängt, ohne Angst zu haben?

Unsere Weltkoordinaten haben sich nach über einem Jahr bereits verändert. Es wird mindestens so lange dauern, wie der Ausnahmezustand jetzt schon andauert, diesen auch wieder halbwegs zu vergessen. Wir tragen eine wachsende Sehnsucht nach dem Analogen in uns, nach unmittelbar Erlebbarem - ein Gespräch vis a vis, das Theater, ein Konzert. Nicht allein, sondern mit anderen, denn ursprünglich sind wir nun mal soziale Wesen.

Doch das ungute Wort »social distancing« trifft es präzise. Wir entfremden uns einander. Umgang mit anderen ist keine Normalität mehr. Wir können doch auch skypen oder die Lesung, weil sie sonst ganz ausfallen müsste, ins Internet verlegen? Ja können wir, aber dabei bewegen wir uns im virtuellen Raum. Das ist nicht ein reduzierter Raum, sondern ein anderer. Den wir nur gut geerdet betreten sollten, weil er uns sonst schnell aus der Bahn tragen kann, und wir nicht mehr wissen, was das eigentlich ist: Realität. Oder doch nur ihr digitaler Abglanz?

Als Lewis Carroll 1865 »Alice im Wunderland« schrieb, war dies ein Geniestreich an produktiver Einbildungskraft. Eine fiktive Welt war geschaffen, die man wie durch den Spiegel betrat. Dahinter lag die Fantasie-Welt von sprechenden Kaninchen, ominösen Hutmachern und gefährlichen Spielkarten. Heute hat sich die Situation umgekehrt. Wann dürfen wir den digitalen Raum wieder verlassen? Denn hier gibt es keine gerichtete Zeit, kein Vergehen. Alles existiert gleichzeitig, und der Zeitfluss scheint jederzeit umkehrbar. Aber unsere Lebenszeit ist nicht umkehrbar, wir gehen in uns unbekanntem Tempo dem eigenen Tod entgegen.

Beide Erfahrungen haben sich im Corona-Lockdown extrem verstärkt. Wir spüren unsere Endlichkeit, bis hin zur Angst vor Krankheit und Tod, doch gleichzeitig explodiert eine digitale Welt, die davon nichts weiß, in der es keinen Anfang und kein Ende gibt. Wie soll man nun beides zusammendenken und auch es zusammenfühlen?

Wenn das überhaupt möglich ist, dann braucht es viel Zeit und jenen Spielraum an Fantasie, den vor allem die Kunst ermöglicht, besonders das Kollektiverlebnis Theater, in dem etwa auf der Bühne gestorben wird, und im Publikum, wenn die Vorstellung die nötige Faszinationskraft hat, probeweise mitgestorben wird - und danach geht man in ausgelassener Runde etwas essen und trinken. Das nennt man einen kathartischen Effekt. Der erlaubt uns die Tragödie des Lebens auch als Komödie anzusehen. Ein Kinobesuch oder ein Rockfestival, selbst ein Fußballspiel haben ähnliche Effekte. So allein scheint seelische Gesundheit angesichts technischer Überforderung für unseren notorisch rückständigen Sinnesapparat möglich. Es sind derartige Nachklänge archaischer Rituale, die wir nicht ungestraft in einen digitalen Raum auslagern können. Sonst sind wir bald ein Volk von psychisch schwer Beschädigten.

Manchmal staunt man, wie visionär Kunst sein kann, sogar in Form einer ungefähr hundertzwanzigteiligen Serie wie »Monk«, die von 2002 bis 2009 gedreht wurde. Dort sehen wir Tony Shalhoub im Endstadium des Stadtneurotikers. Er ist längst aus jeder noch gesellschaftlich akzeptablen Balance gekippt, nichts als ein psychisch Kranker. Er stellt sich als »ehemaliger Polizist« vor, wenn ihn jemand fragt. Er leidet unter allen nur denkbaren Ängsten, vor allem vor gefährlichen Keimen, mit denen er sich infizieren könnte. Wenn ihm jemand einen Händedruck aufnötigt (das gab es damals noch), dann reicht ihm seine Assistentin sofort ein Tuch, mit dem er seine Hand säubert. Unter Hygieneaspekten vorbildlich - aber sozial gesehen ist Mr. Monk, der geniale Ermittler, ein schwerer Neurotiker, der nur eine Verabredung nie absagt: die mit seinem Therapeuten. Da lebt einer bereits in jenem Lockdown, den wir anderen (noch) nicht als Normalzustand akzeptieren.

Inmitten der künstlichen Stillstellung von Leben, das doch aus Bewegung besteht, blickt man anders auf seinen Laptop und das durchaus hellsichtige Filmangebot diverser Anbieter. Der Klassiker der Stunde ist zweifellos »Und täglich grüßt das Murmeltier« von 1993. Bill Murray hängt als misanthropischer Wettermann fürs Fernsehen in einer Zeitschleife fest. Täglich erlebt er den gleichen Tag noch einmal - die gleichen vorhersehbaren Begegnungen, die gleichen Resultate. Und am nächsten Tag haben alle außer ihm das gestern Geschehene vergessen, und alles wiederholt sich von vorn. Der Film gilt als Komödie, ist aber ein Psychogramm des Wahnsinns. Die Frage stellt sich dabei: Ist man es selbst oder sind es die anderen, die den Verstand verlieren? Genauer, es ist das Vergessen von Geschichte, die damit beginnt, dass gestern, heute und morgen - und sei es minimal - voneinander unterschieden sind. Nur so können wir Zeit als Phänomen überhaupt begreifen. Wenn wir das nicht mehr tun, versinken wir in ihr und ihren Zeitschleifen. Das kann man dann Demenz nennen oder auch anders. Jedenfalls sind wir dann keine Subjekte unseres Handelns mehr, sondern bloße Objekte kreisender Zeit, aus der wir nicht mehr ausbrechen können.

Klingt das apokalyptisch? Vielleicht, aber die Offenbarung des Johannes ist nicht nur ein immer noch lesenswertes Stück Literatur aus der Bibel, sie bündelt auch Menschheitserfahrung in ihrem fortgesetzten (und oft vergeblichen) Versuch, nicht der Selbstentfremdung zu erliegen. Es gibt auch sehr gegenwärtige Beiträge zum Thema Apokalypse. Der Film »Yesterday« von 2019 (noch vor Corona also) etwa bündelt die Verlusterfahrung auf halbem Wege zwischen Amnesie und Demenz. Nach einem großen weltweiten Stromausfall und zusätzlich einem Busunfall ist ein gescheiterter Musiker plötzlich noch der einzige, der sich an die Beatles erinnert. Er spielt nun deren Musik, die von der jubelnden Masse als völlig neu aufgenommen wird und ist plötzlich weltberühmt. Aber wer möchte in einer Welt, die ihr Gedächtnis verloren hat, noch berühmt werden?

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.