»Krieg gegen die Bevölkerung«

Heike Hänsel über ihre Erfahrungen in Kolumbien als Teil einer internationalen Überprüfungsmission

In den Medien hierzulande ist es um Kolumbien wieder still geworden, nachdem die Proteste ab dem Generalstreik vom 28. April wochenlang Schlagzeilen wegen ausufernder Gewalt der Sicherheitskräfte machten. Hat sich die Lage in Kolumbien beruhigt?

Momentan gibt es keine Massenmobilisierung und die Straßenblockaden sind erst einmal gestoppt, aber die Menschen sind trotzdem hoch mobilisiert durch das, was sie die vergangenen Monate an Gewalt durchlebt haben. Orte des Widerstands und des Protests werden als Treffpunkte aufrechterhalten, dort kommen Menschen zusammen aus den armen Stadtteilen, viele Jugendliche, Künstler*innen, um sich gegenseitig zu unterstützen und auszutauschen. Es gibt zum Beispiel besetzte Polizeipunkte, die umgewandelt wurden in kreative Treffpunkte mit Bücherei, Kleidertausch, Wandmalereien, Musikangeboten, Konzerten, Filmvorführungen. Dies sind wichtige soziale und politische Anlaufstellen in ganz Cali. Gleichzeitig verfolgen die Polizei und bewaffnete Zivilpersonen die Opfer und Zeugen von Polizeigewalt, schüchtern sie massiv ein, um Anzeigen gegen Polizei und Militär zu verhindern und den Protest zu schwächen. Für den 20. Juli, den Unabhängigkeitstag Kolumbiens, sind aber bereits neue Massenproteste geplant.

Interview
Heike Hänsel ist stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Sie nahm vom 5. bis 9. Juli an einer internationalen Verifizierungsmission zur Gewalt in Kolumbien teil. Der Mission gehörten Beobachter*innen aus zwölf Ländern Europas und Lateinamerikas sowie aus den USA an. Mit Heike Hänsel sprach für »nd« Martin Ling. 

Sie sind als Teil einer internationalen Mission gerade vor Ort in Kolumbien. Was sind die zentralen Erkenntnisse?

Die Mission hatte vor allem den Auftrag, Berichte von Augenzeugen und Opfern staatlicher und paramilitärischer Gewalt zu dokumentieren, um diese sowohl der nationalen als auch internationalen Öffentlichkeit, Menschenrechtsinstitutionen und internationalen Gerichten zur Verfügung zu stellen. In vielen Berichten zeichnete sich schon ein Muster ab: Es gibt eine enge Zusammenarbeit von Polizei, Militärpolizei, Militär, Paramilitärs, Unternehmern, um die Proteste niederzuschlagen. Dabei wurde systematisch auf die Protestierenden an vielen Orten der Stadt scharf geschossen, es wurde gezielt getötet, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Man muss hier wirklich von Krieg gegen die Bevölkerung sprechen. Im Fokus stehen besonders afrokolumbianische und indigene Protestierende in den armen Stadtvierteln, Jugendliche der »primera línea« (ersten Reihe, d. Red.), Journalist*innen, freiwillige Sanitäter*innen der medizinischen Brigaden, Anwält*innen sowie Menschenrechtsverteidiger*innen. Gleichzeitig ermittelt die Staatsanwaltschaft bisher nur in wenigen Fällen, viele haben zudem das Vertrauen in die Justiz völlig verloren und machen keine Anzeigen geschweige denn Aussagen, weil die Justiz Teil des Problems ist.

In Berichten aus Cali war zu lesen, dass Paramilitärs in Jeeps durch die Straßen fuhren und einfach Demonstranten niederschossen. Sind die Praktiken der Paramilitärs, der Einsatz von Schusswaffen, das »Recht« auf Selbstjustiz erkennbare Muster im aktuellen Konflikt?

Ja, eindeutig. Durch bewaffnete Personen in Zivil, die oft eine Nähe zu Polizei und Militär zeigten oder sogar gemeinsam mit ihnen kämpften, wird die staatliche Gewalt noch verstärkt und es besteht die Gefahr eines neuen paramilitärischen Modells in den Städten. Diese Zivilpersonen kommen aber nicht nur aus paramilitärischen Strukturen, sondern auch aus dem Umfeld reicher Geschäftsleute sowie zivil gekleideter Polizei und Militärs. Gleichzeitig gibt es eine systematische Stigmatisierung und Kriminalisierung des Protests als Terrorismus, einer vom Ausland gesteuerten Guerilla oder kriminelle Vandalen, die diese Militarisierung der Stadtteile und Straßen legitimieren soll. Viele sprechen hier von »sozialen Säuberungen«, da in erster Linie arme Menschen von Gewalt und Morden betroffen sind.

Der rechte Präsident Iván Duque hat angeordnet, dass das Militär bei der Beseitigung der Blockaden und bei Festnahmen von Protestierenden eingesetzt werden soll. Ist ein schleichender Putsch im Gange?

Ich halte es nicht für einen Putsch, da die Regierung Duque diese Militarisierung selbst vorantreibt nach dem Vorbild des rechtsextremen ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe (2002-2010). Die Polizei untersteht in Kolumbien dem Verteidigungsministerium und das trägt auch die Verantwortung für konzertierte bewaffnete Aktionen gegen Blockaden und Protestierende, an deren Ende oft zahlreiche Tote standen. Durch die gezielte Eskalation der Situation mittels Polizei und Militär sollen Chaos und Unsicherheit erzeugt werden, die auf einen dauerhaften Ausnahmezustand zielen.

Was sind die ersten Schlussfolgerungen der Kommission?

Das Wichtigste wäre erst einmal ein Rückzug von Polizei und Militär aus den Stadtteilen und Straßen, da dies eine permanente Bedrohung für die Protestbewegung darstellt, sowie ein neuer Anlauf für ernsthaften umfassenden Dialog über die Forderungen der Protestierenden. Gleichzeitig sind Sicherheitsgarantien für massiv bedrohte Personen nötig. Die Justiz muss aktiv gegen bewaffnete Personen in Zivil und gegen paramilitärische Strukturen vorgehen, sonst wird es zu weiteren Massakern und gezielten Tötungen kommen. Strukturell gesehen müsste die Polizei einem zivilen Ministerium unterstellt und die Verantwortlichen für die brutale Polizeigewalt strafrechtlich verfolgt werden.

2022 ist in Kolumbien Wahljahr. Im März Parlamentswahlen sowie im Mai und Juni die beiden Runden der Präsidentschaftswahlen. Sind geordnete Wahlen überhaupt vorstellbar aus jetziger Sicht?

Das ist noch nicht abzusehen. Wenn die Einschüchterungen und die permanente Bedrohung und Verfolgung gegen alles, was progressiv oder links ist, so weitergeht, sind freie und faire Wahlen nicht vorstellbar. Schon jetzt gibt es daher Aufforderungen von Menschenrechtsorganisationen an die EU, eine frühzeitige und umfassende Wahlbeobachtungsmission einzurichten, die mehrere Monate vorab im Land ist und auch das gesamte elektronische Wahlsystem überprüft.

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