In der Kalorienfalle

Fett, Zucker und Geschmacksverstärker in Fertiggerichten verführen zum Weiteressen

  • Renate Wolf-Götz
  • Lesedauer: 5 Min.

Schnell eine Fertigpizza in den Backofen zu schieben oder eine Dose Ravioli aufzuwärmen, ist bequem und spart Zeit. Kein Wunder, dass stark verarbeitete Lebensmittel immer beliebter werden. Fast die Hälfte der hierzulande verzehrten Nahrung kommt aus industrieller Fertigung. Damit steigt die Menge an Kalorien, die dem Körper regelmäßig zugeführt werden, und die Zahl der Übergewichtigen wächst. Jeder zweite Erwachsene in Deutschland gilt als zu dick.

Einen Zusammenhang zwischen dem kontinuierlichen Konsum an Fertiggerichten und der Zunahme an Gewicht und Körperfett haben Stoffwechselforscher um Kevin Hall vom National Institute of Diabetes im US-Bundesstaat Maryland anhand einer Studie festgestellt. Die im Fachmagazin »Cell Metabolism« veröffentlichte Studie, die sich auf 20 Testpersonen ohne Vorerkrankungen beschränkte und über einen Zeitraum von vier Wochen lief, war zwar relativ einfach angelegt. In zwei Gruppen geteilt wurden die Probanden wechselweise zwei Wochen lang hoch verarbeiteten Lebensmitteln oder frisch zubereiteten Mahlzeiten vorgesetzt. Aus dem Ergebnis ließ sich eindeutig schließen, dass der Verzehr hochverarbeiteter Nahrungsmittel dazu verleitet, mehr zu essen, bevor sich ein Sättigungsgefühl einstellt, so Hall.

Bei beiden Gruppen achteten die Forscher darauf, dass die drei täglichen Mahlzeiten samt den zusätzlichen Snacks, die den Probanden serviert wurden, immer die gleichen Mengen an Kohlenhydraten, Fett und Zucker enthielten. Während die Testgruppe, die mit hochverarbeiteter Nahrung startete, beispielsweise Honig-Nuss-Müsli aus der Packung und industriell hergestellte Muffins zum Frühstück bekam, bestand die morgendliche Mahlzeit der zweiten Gruppe aus unverarbeiteten Lebensmitteln wie Naturjoghurt mit frischen Früchten, Haferflocken und Nüssen. Bei der Menge, die die einzelnen Personen zu sich nahmen, gab es kein Limit. Dabei zeigte sich, dass die Gruppe, die mit hochverarbeiteten Nahrungsmitteln verköstigt wurde, kräftiger zulangte, bevor sich ein Sättigungsgefühl einstellte, als die Teilnehmer der Vergleichsgruppe. Letztendlich hatten sie rund 500 Kalorien täglich mehr aufgenommen, was zu einer durchschnittlichen Gewichtszunahme von einem Kilo führte. Im gleichen Maß nahmen die Testpersonen ab, die unverarbeitete Nahrungsmittel verzehrt hatten.

Die fein abgestimmten Regulierungsmechanismen, die das Sättigungsgefühl so steuern, dass der Körper ausreichend versorgt wird und kein überschüssiges Fett einlagert, scheinen zu scheitern, wenn regelmäßig hochverarbeitete Fertiggerichte auf den Tisch kommen. »Wir glauben, wir könnten bestimmen, wie viel wir essen«, sagt Marc Tittgemeyer. »Aber diese Entscheidungen können wir nicht mit unserem Willen steuern«, so der Stoffwechselforscher am Max-Planck-Institut in Köln. Schon während die ersten Bissen die Sinne aktivieren, schätzt das Gehirn ein, wie viel Nahrung der Körper braucht, um die Energiespeicher aufzufüllen. »Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Geschmacks- und Geruchssinn«, erklärt Tittgemeyer. »Aber auch das Auge ›isst‹ mit.« Der Verzehr von Fertiggerichten bremst indessen den sogenannten homöostatischen Prozess aus, der dafür sorgt, das Gleichgewicht im Körper aufrechtzuerhalten.

»Wir messen den hochverarbeiteten Nahrungsmitteln automatisch weniger Kalorien bei, als sie tatsächlich enthalten«, sagt Tittgemeyer. Hinzu kommt der Suchtfaktor. Hochverarbeitete Lebensmittel mit viel Fett, Zucker und oft zusätzlichen Geschmacksverstärkern lösen ein Feuerwerk des Glückshormons Dopamin im Gehirn aus. Das führt dazu, dass Fertigpizza und -pasta, Chips oder Schokokekse zum Weiteressen verführen, nachdem der Hunger bereits gestillt ist. »Die homöostatische Regulation wird dabei vom Belohnungssystem überlagert«, erklärt der Ernährungswissenschaftler. In der Natur kämen derartige Kombinationen nicht vor, außer in der Muttermilch. »Das erklärt unsere hohe Affinität dazu.«

Was den Inhalt industriell hergestellter Nahrungsmittel wie Margarine, abgepacktes Brot oder Müslimischungen betrifft, fällt Stefan Kabisch vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung ein vernichtendes Urteil: »Hochprozessierte Lebensmittel haben mit dem ursprünglichen natürlichen Produkt nur noch wenig zu tun«, sagt der Lebensmittelforscher. Zur Definition einzelner Nahrungsgruppen, für die es EU-weit bisher keine einheitliche Deklaration gibt, hat eine brasilianische Arbeitsgruppe die sogenannte Nova-Einteilung in vier Stufen entwickelt, die als Grundlage für wissenschaftliche Untersuchungen dient und Verzehrempfehlungen gibt. In Stufe vier sind hochverarbeitete Nahrungsmittel aufgeführt. Die Leitlinie für diese haben Wissenschaftler in einer Faustregel zusammengefasst: alles, was aus mehr als fünf Inhaltsstoffen besteht und nicht in der eigenen Küche hergestellt werden kann.

In seiner Vergleichsstudie hatte Kevin Hall Produkten wie fettarmer Fertigschokomilch Ballaststoffe zugefügt, um den Nährwertgehalt der beiden Testgruppen anzugleichen. Auf die Zusammensetzung der Fette, Zucker und Geschmacksverstärker, die darüber entscheiden, wie der Körper Nährstoffe aufnimmt, hatte die Ballaststoff-Beigabe keinen Einfluss. Beim Verzehr von Fertigprodukten mit hohem Zuckeranteil steigt der Blutzuckerspiegel schnell an. Das regt eine erhöhte Ausschüttung des Stoffwechselhormons Insulin an und aktiviert die Fettzellen, zirkulierende Fettsäuren im Blut einzulagern. Damit ist eine Gewichtszunahme programmiert.

Ballaststoffe, die unverarbeiteten Lebensmitteln beigesetzt werden, können den Blutzuckeranstieg abmildern. Besser sei allerdings, eine Orange zu essen, statt einen Orangensaft zu trinken, empfiehlt Stefan Kabisch. Man müsse erst die einzelnen Orangenschnitze zerkauen, bevor Zucker und Vitamine freigesetzt werden. Durch den Kau- und Verdauungsvorgang werde dem Gehirn ein länger anhaltendes Sättigungsgefühl signalisiert. Bei ausgepresstem Orangensaft oder verdünntem Saftgetränk falle dagegen die Verdauungsarbeit weg, und der Blutzuckerspiegel steige steil an.

Neben dem Zucker enthalten Fertigprodukte häufig einen viel zu hohen Gehalt an gesättigten Fettsäuren. Mitunter als natürliche Geschmacksverstärker deklariert, dienen sie dazu, ein Fertiggericht cremig erscheinen zu lassen. Das vermeintliche Geschmackserlebnis beschert dem Verbraucher aber versteckte Kalorien und über kurz oder lang überschüssige Pfunde.

Proteine sucht man dagegen meist vergebens bei der Zusammensetzung hochverarbeiteter Lebensmittel. »Dabei sind wir erst satt, wenn wir genügend Eiweiß aufgenommen haben«, erklärt Stephen Simson. Unabhängig davon sei die verzehrte Menge an Kohlenhydraten und Fetten, so der Biologe, der an der Universität Sydney forscht. Ohne Zusatz von Proteinen könne man sich an Fertigprodukten leicht überessen, ohne sich wirklich satt zu fühlen. In Fachkreisen wird dieser Prozess Proteinhebel-Hypothese genannt.

Wissenschaftler wie Kabisch sehen an dem weitverbreiteten Konsum hochverarbeiteter Lebensmittel noch ein anderes Problem: »Oft hat man im Alltag zu wenig Zeit, dreimal täglich eine Mahlzeit frisch zuzubereiten.« Letztendlich sei es Sache der Politik, die Industrie stärker in die Pflicht zu nehmen, wenn es darum geht, Fertigprodukte mit weniger Fett und Zucker und dafür mit mehr Nährstoffen herzustellen.

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