Herrschaft der Maschinen

Digital ist besser? Philipp Löhles Stück »Die Mitwisser« am Hans-Otto-Theater in Potsdam

»Das Internet ist für uns alle Neuland«, gab Angela Merkel vor acht Jahren zum Besten. Die Bundeskanzlerin, ausgestattet mit einigen Ecken und Kanten, vor allem aber mit sich scheinbar stetig entziehenden Angriffsflächen, hat sich vier Legislaturperioden lang hübsch durchlaviert - erst in den letzten Jahren kam, vornehmlich von rechter Seite, entschiedene Kritik zum Ausdruck. Das Wort »alternativlos« gehört zu ihren Standardvokabeln, und man darf annehmen, dass ihr politisches Talent vor allem darin bestand, die Wählerschaft glauben zu machen, diese Eigenschaft treffe auch auf ihre Person zu. Möglicherweise war sie auch selbst dieser Überzeugung.

Merkels Bemerkung über das Internet erntete daher einigermaßen überraschend viel Spott. Die Kritik damals war auch deswegen so überflüssig, weil sie im Gestus frühadoleszenter Besserwisserei vorgetragen wurde und keinerlei politische Auseinandersetzung hervorzurufen im Stande war oder auch nur gedachte, das zu tun. »Stimmt ja alles nicht; das Internet - das kennt man doch schon fast ein Leben lang«, erahnt man die altklugen Stimmen des Protests von damals. Aber war der Merkel’sche Satz so falsch? Tatsächlich erweckt das Internet auch heute noch den Eindruck, ein Gebiet vor Einzug der Zivilisation zu sein, das sehr dringend einer konstitutionellen Regulierung bedürfte. Mit technologischer Routine und Durchblick im Meer der Hypes allein ist niemandem geholfen.

Keine schlechte Idee, auf das hoffnungslos altmodische, ganz und gar dem Analogen verhaftete Medium Theater zurückzugreifen, um über die digitalen Abgründe nachzudenken. Am Potsdamer Hans-Otto-Theater feierte eine Inszenierung von Philipp Löhles Stück »Die Mitwisser« - mit dem wegweisenden Untertitel »Eine Idiotie« - am vergangenen Sonnabend Premiere. Sollte die Arbeit eigentlich bereits im März des letzten Jahres herauskommen, fiel sie dem ersten Lockdown in der kulturabstinenten Pandemiezeit zum Opfer. Ein Mitschnitt wurde zwei Monate später zum digitalen Ersatzangebot. Es folgten Umbesetzungen auf und hinter der Bühne. Jetzt aber ist die Inszenierung so in der Reithalle, der kleineren Spielstätte des Stadttheaters, zu sehen, wie sie von Regisseur Marc Becker konzipiert und geprobt wurde.

Nun taugen die darstellenden Künste - einigen Missverständnissen zum Trotz - nur schlecht dazu, abbildhaft die Realität zu reproduzieren. Und wirklich niemand möchte Schauspielerinnen und Schauspielern beim abendfüllenden Blick auf die digitalen Endgeräte zusehen. Philipp Löhle, Jahrgang 1978 und Autor von einer Reihe häufig nachgespielter Theatertexte, umgeht einen solchen einfachen Fehler, indem er für sein Stück über die fortschreitende Digitalität eine Übersetzung findet.

Theo und Anna Glass, gespielt von Arne Lenk und Alina Wolff, sind ein durchschnittliches Paar im vordigitalen Zeitalter. Das Bühnenbild in durchdringendem Braun mit klassischer Tapete (Bühne: Harm Naaijer) und die Ausstaffierung der Figuren mit zünftigen Blusen und Perlenketten oder Hemd, Fliege und Weste (Kostüme: Alin Pilan) lassen keinen Zweifel daran, dass wir uns um fünfzig Jahre in der Zeit zurückversetzt befinden. Ein Kwant ist die neueste Anschaffung des Theo Glass. Dieser Kvant, gespielt von Jacob Keller und etwas albern mit einer Perücke in verwaschenem Rosa versehen, ist das Äquivalent zu den Siris und Alexas unserer Tage. Er ist die ganz und gar lebendige Verkörperung der leblosen Einsen und Nullen, die sich zu dem Netz spinnen, das unseren Alltag durchzieht.

Noch nicht der Klischeekiste entstiegen, ist Theo in dem Stück ein Technikenthusiast und begeistert von den Möglichkeiten seines Kwants, wohingegen Anna an der Neuerung zweifelt. Der Kwant fungiert als Haushaltshilfe, wobei er eifrig Produktempfehlungen ausspricht. »Wenn Ihnen a gefällt, gefällt Ihnen vielleicht auch b.« Bald schon durchdringt er das gesamte Leben im Hause Glass. »Kwantifizierung« wird auf der Bühne zum geflügelten Wort. Dass er scheinbar nichts kostet, ist schon bald infrage gestellt. Denn - so viel Pädagogik muss an diesem neunzigminütigen Theaterabend sein - er sammelt natürlich eifrig Daten. Anna nutzt den Kwant sogar, um die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft zu erhöhen oder um herauszufinden, ob sie mit ihrem Mann überhaupt zusammenpasst. Dafür werden alle Intimitäten mit dem Kwant geteilt. Effizienz und Fortschrittsglaube sind die entscheidenden Stichworte.

Eine ganze Reihe von Eigenheiten des Lebens im digitalen Überlebenskampf wird aufgerufen. Der Kwant zieht auf Wunsch - je nach persönlicher Vorliebe - die passenden Nacktfotos aus seiner Umhängetasche. Der Kwant vergisst nicht, und er kommuniziert fortwährend mit anderen Kwants. Auf Wunsch serviert er plumpe Unterhaltung im Youtube-Schnipsel-Format: Unfälle als Humoresken und Katzen, die wie Hitler aussehen. Das sorgt für Lacher. Was hier vorgeführt wird und worin sich das Publikum dann wiedererkennen soll, verweist auf den intellektuell jämmerlichen Zustand der Gesellschaft. Aber sind diese durch das Internet verstärkt sichtbaren Phänomene das Hauptproblem des digitalen Zeitalters? Sind das nicht Symptome allgemeinmenschlicher Verblödung, die auch das Privatfernsehen als Massenmedium bereits vor Augen führte?

Theo Glass arbeitet als Enzyklopädist, und - man ahnt es schon - sein Job ist natürlich besser beim Kwant aufgehoben. Was als Arbeitshilfe für den Menschen gedacht war, ersetzt den Menschen als Arbeitskraft. So weit, so richtig. Nur fügt Lustspielautor Löhle auch diesen Umstand in das Handlungsgeflecht ein, ohne dass etwas daraus folgen würde. Es scheint fast so, als würde der Dramatiker die Auswüchse des digitalen Irrsinns theatral aufbereiten, sich aber an den tatsächlichen Herausforderungen vorbeimogeln.

»Eine Photographie der Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nichts über diese Institute«, sagte Bertolt Brecht vor neunzig Jahren und fand Worte dafür, dass eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit für die Kunst darin liegt, dass für die Darstellung komplexer ökonomischer Vorgänge überhaupt erst eine Form gefunden werden muss. Den Datenkapitalismus szenisch erfahrbar zu machen, wurde an diesem Abend leider nicht einmal versucht. Er bleibt in der Unterhaltungsfalle stecken, deren kritischer Kern nur auf den nächsten Lacher zielt. Zumindest ein Bonmot hält das Stück für das Publikum bereit: »Wir haben die Welt verstanden, warum sollen wir sie noch ändern?«

Nächste Vorstellungen am 28./29.8. und 10./11.9.

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