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Erschütternde Zeugnisse eines Terrorregimes
Hermann Kaienburg hat die Geschichte des Konzentrationslagers Sachsenhausen akribisch nachgezeichnet
Nördlich von Berlin mussten vor 85 Jahren politische Gegner des Naziregimes das Konzentrationslager Sachsenhausen errichten. Es sollte ein zentrales »Muster- und Ausbildungslager« werden. Benannt wurde es nach einem heutigen Stadtteil von Oranienburg, der damals noch eine selbstständige Gemeinde war.
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Hermann Kaienburg: Das Konzentrationslager Sachsenhausen 1936-1945. Zentrallager des KZ-Systems.
Metropol, 734 S., geb., 39 €.
Ungefähr 200 000 Menschen aus etwa 40 Nationen wurden im Laufe der Jahre dort inhaftiert. Zunächst waren es deutsche Antifaschisten, dann »Minderwertige«, wie im menschenverachtendem NS-Jargon Juden, Homosexuelle, »Zigeuner«, »Asoziale« oder Zeugen Jehovas bezeichnet wurden. Mit Kriegsbeginn füllte sich das KZ Sachsenhausen mit Menschen aus ganz Europa. Zehntausende starben an Hunger, Krankheiten, infolge von Zwangsarbeit, Misshandlungen oder medizinischer Experimente; mindestens 13 000 sowjetische Kriegsgefangene wurden systematisch ermordet, darunter in den ersten »Gaswagen«, die dann im okkupierten Osten massenweise eingesetzt wurden.
Am 21. April 1945 begann die Räumung des Lagers durch die SS. Die Rote Armee war nur noch wenige Kilometer entfernt. 33 000 der verbliebenen 36 000 Häftlinge wurden in 500er-Gruppen nach Nordwesten in Marsch gesetzt. Tausende Häftlinge starben unterwegs. Wer an Entkräftung zusammenbrach, wurden von den SS-Männern erschossen.
In der Nähe von Schwerin, inzwischen von ihren Bewachern in panischer Angst vor den Sowjetsoldaten verlassen, trafen die Häftlinge auf ihre Befreier, auf Einheiten der Roten Armee und der US Army. Die ausgemergelten, von den Strapazen des »Todesmarsches« und teils jahrelangem Leiden im Lager gezeichneten Menschen wurden anschließend in Kasernen und Krankenhäusern untergebracht, damit sie genesen konnten - was nicht immer gelang.
Am 22./23. April 1945 erreichten sowjetische und polnische Streitkräfte das Hauptlager und befreiten die dort zurückgelassenen Häftlinge, 3000 Kranke, von denen in den folgenden Wochen noch mindestens 300 starben. Im Mai konnten die meisten westeuropäischen Häftlinge in ihre Heimat zurückkehren, während jene aus Osteuropa zunächst eine Überprüfung in Repatriierungslagern durchmachen mussten.
Das ehemalige KZ wurde bereits in der frühen DDR zu einer Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus. Nach der Wende gab es heftige Diskussion um eine inhaltliche Neuausrichtung. Ehemalige Häftlinge fühlten sich nicht einbezogen. Dann musste das pietätlose Ansinnen einer Discounterkette abgewehrt werden. Heute ist Sachsenhausen wieder würdiger Gedenk- und Lernort.
Jetzt ist ein umfassendes Werk zur Geschichte des 1936 errichteten KZ Sachsenhausen erschienen, verfasst vom Historiker und ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme Hermann Kaienburg, der damit im nunmehrigen Ruhestand eine langjährige intensive Forschungsarbeit abgeschlossen hat.
Dem »Todesmarsch« sind nur ein paar Seiten gewidmet, die jedoch besonders erschütternd sind. Ein Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes berichtete: »Am Morgen des 22. April entdeckten wir die ersten 20 erschossenen Häftlinge am Straßenrand auf einer Strecke von sieben Kilometern zwischen Löwenberg und Lindow; alle waren durch Kopfschuss getötet worden. In dem Maße, in dem wir vorankamen, stießen wir auf eine immer größere Anzahl von erschossenen Häftlingen am Straßenrand oder in den -gräben. In den Wäldern zwischen Neuruppin und Wittstock fanden wir dann regelmäßig an den Stellen, wo die Häftlinge übernachtet hatten, oder an den Halteplätzen mehrere Leichen, die zum Teil in die Lagerfeuer geworfen und halbverkohlt waren.« Solch Zeugnisse sollten gerade heute gelesen werden!
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