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- Thomas Brasch
Ein Dichter ohne Geist?
Keine Melancholie, keine Poesie: Im Film »Lieber Thomas« porträtiert der Regisseur Andreas Kleinert das Leben des DDR-Schriftstellers Thomas Brasch
»Lieber Thomas« - dieser Filmtitel klingt wie ein freundlicher Brief des Regisseurs Andreas Kleinert an den 2001 gestorbenen Autor Thomas Brasch. Aber er spielt auf die unfreundliche Szenerie von »Lieber Georg« an, jenem 1980 von Manfred Karge am Schauspielhaus Bochum zur Uraufführung gebrachten Stück Braschs. Untertitel: »Ein Eis-Kunst-Läufer-Drama aus dem Vorkrieg«.
Darin geht es um Georg Heym, den von Vaterhass getriebenen und am Zeitekel fast erstickenden Expressionisten, der 1912 beim Eislaufen auf dem Wannsee einbrach. Man hört am Ufer seine Schreie, fast eine Stunde lang kämpft der im Eis Steckende um sein Leben, aber niemand kommt ihm zu Hilfe - er ertrinkt.
Heym ist einer seiner Brüder im Geiste: aggressiv und doch höchst subtil im Erspüren von Zeitsituationen malt er kommende Untergänge aus. Eine archetypische Situation, wie sie Brasch nicht mehr losließ.
Verlorene Söhne? Vielmehr noch verlorene Väter, unfähig aus ihren Rollen auszubrechen: Georg Heyms Vater erträgt die Hinrichtungen nicht, die er als Staatsanwalt überwachen muss und bricht zusammen. Thomas Braschs Vater, der Funktionär Horst Brasch, will sich erschießen, als die Parteispitze ihn fallen lässt.
Darum geht es bei Thomas Brasch von den ersten bis zu letzten Texten, um seine Gewissheit: »Es ist die Gegenwart nichts anderes als das Resultat der Vergangenheit.« Darum das bohrende Nachfragen, als es längst keiner mehr hören will: Warum hast du das getan?
Urszenen: Horst Brasch, der Vater, der mit einem der Kindertransporte nach England gelangt war - gerettet vor der drohenden Vernichtung als Jude in Nazi-Deutschland - leitete dort seit 1942 die »Freie Deutsche Jugend«, jene FDJ, aus deren Gründergeneration sich schließlich bis zum Ende der DDR deren Führungsriege konstituierte: Erich Honecker, Hermann Axen, Heinz Keßler ... Nur Horst Brasch, der FDJ-Mitgründer, wurde nach seiner Rückkehr aus dem Exil in die zweite, dann gar dritte Reihe abgeschoben, selbst noch als stellvertretender Kulturminister entlassen.
Taugt so einer zum Hassbild? Horst Brasch war gläubiger Kommunist, für den Scheitern keine Kategorie ist, die er für sein Leben zulässt. Doch was hieß das für die drei Söhne und eine Tochter (Thomas, Klaus, Peter und Marion)? Thomas, geboren 1945 im englischen Westow, kam 1956, mit elf Jahren auf eine Kadettenschule der NVA - vier lange Jahre lang. Die Quelle seines verunglückten Lebens, wie er es sah: der verstoßene Sohn, schutzlos Militärs ausgeliefert, die größtenteils aus der Wehrmacht kamen.
Als der vormalige Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, der den Tod Zigtausender deutscher Soldaten vor Stalingrad zu verantworten hatte, aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in die DDR entlassen wurde, standen die Offiziere der in Gründung befindlichen NVA stramm vor ihm. Das Preußentum, mitsamt blindem Gehorsam, setzte sich ungebrochen fort.
Wer von seinem Wehrdienst in der NVA zurückkam, konnte danach nicht mehr an diesen Staat glauben. Und erst ein Kind in Uniform wie Thomas Brasch? Gewiss, die Kadettenanstalten wurden einige Jahre später geschlossen, die hohen Wehrmachtsoffiziere in den Ruhestand versetzt. Aber die Wunde blieb - bei Brasch vernarbte sie nie, nicht einmal schief, wie Heiner Müller einmal über die deutsche Geschichte schrieb. Sie blieb offen. Brasch riss sie sogar selbst immer wieder auf.
Mit der Szene beginnt Andreas Kleinert seinen zweieinhalbstündigen Film: Ein schwarzer Tatra rollt über leere Straßen, am Steuer Horst Brasch, von Jörg Schüttauf mit einer gewissen müden Hilflosigkeit angesichts der den Menschen beherrschenden Ideologie gespielt. Auf dem Rücksitz sein ältester Sohn Thomas, das ahnungslose Kind, das sich freut, bald Uniform zu tragen. Und dann Bettelbriefe an den Vater schreibt, ihn aus dieser Hölle herauszuholen. Man muss durchhalten, bekommt er zu hören - so wie Kleist oder Rilke in ähnlicher Situation von ihren Vätern. Die Erfahrung des väterlichen Verrats beherrscht fortan Thomas Braschs Leben.
Auftritt Albrecht Schuch. Sein Thomas Brasch ist grobschlächtig, provokant, egoman getrieben von Gier nach Frauen und Worten, fast ein Georg-Heym-Typ, aber auch das nur fast. Und Schuch trägt nun die Brasch-Texte durch den Film, aber für mich klingen sie plötzlich nichtssagend. In Braschs »Hamlet gegen Shakespeare« heißt es: »Das Wort hinter dem Wort.« Und genau auf dieses wartet man hier vergebens. Nichts geht hier mit der Hauptfigur mit: kein Traum, keine Melancholie, keine Poesie.
Es kann gewiss sein, dass man eine zu feste Vorstellung davon hat, wie man jemanden zeigen sollte - und dann etwas ganz anderes passiert. Aber hier passiert nichts, alles bleibt äußerlich. Schuch verfehlt das Wesentliche: den Intellektuellen Brasch, der dieser trotz seines gelegentlich rabiaten Auftretens war. Brasch-Leser wissen das, jene, die die großartigen Dokumentationen von Christoph Rüter und Annekatrin Hendel (»Familie Brasch«) gesehen haben, ebenso.
Doch bei Schuch erscheint Brasch wie ein West-68er, dessen Anklage gegen die Vätergeneration politischer Aktionismus ist und mehr nicht. Thomas Brasch leidet an seiner inneren Zerrissenheit, an der Schuld seines Landes. Wie merkwürdig, dass bei Wikipedia der so wichtige Kleist-Preis, den ihm Christa Wolf als Alleinkuratorin 1987 zusprach, nur beiläufig erwähnt wird. Dabei zeigt uns ihre Preisrede viel vom Wesen dieses Kleist verwandten Dichters: »Der Riß der Zeit, der durch den Mann geht. Die Abwehr Braschs gegen insistierende Deutungsversuche spürte ich deutlich, je länger ich in seinen Texten las, eine Scheu vor Entblößung, eine Warnung vor Zudringlichkeit.«
Dass »Vor den Vätern sterben die Söhne« auf persönliche Entscheidung Honeckers hin, in der DDR nicht erscheinen durfte, machte das Buch im Westen zum Bestseller und den ausgereisten Autor heimatlos.
Im Bild des von Schuch gezeigten Grobians, der sich am autoritären Vater abarbeitet (der für einen autoritären Staat steht), fehlt mir der Gedanke seines Jugendfreundes Florian Havemann, der wie Brasch Flugblätter gegen den Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 verteilte und ebenfalls eingesperrt wurde. Er erinnert sich, Thomas Brasch sei »der intelligenteste Mensch gewesen, den ich bis dahin getroffen hatte«. Aber eben an widerspruchsvollen Gedanken mangelt es »Lieber Thomas«. Denn auch im Westen hört Brasch nicht auf, über die Möglichkeit eines anderen, nichtstalinistischen Sozialismus nachzudenken.
Zweifellos ist Andreas Kleinert ein hoch ambitionierter Regisseur, der mit »Wege in die Nacht« 1999 einen wichtigen Film über deutsch-deutsche Verwerfungen drehte. Ganz bewusst mit dem bewunderten Hilmar Thate als aus der Zeit gefallenem Altfunktionär, der zum Gewalttäter wird. Aber Thate konnte diesen zerrissenen Menschen auch spielen! Thate war bereits in Thomas Braschs »Engel aus Eisen« ein prägender Schauspieler gewesen.
Und da zeigt sich eine fatale Dialektik, die zum Scheitern von »Lieber Thomas« führen musste: Kleinert will seinen Brasch-Film im Stil von »Engel aus Eisen« drehen. Schlüsselbilder, die aus der Realität ins Traumhafte übergehen, abrupte Schnitte, die durch die Schwarz-Weiß-Sequenzen gehen. Aber leider ist die Kopie niemals ein aufschließender Ansatz für Eigenes. Weder die mysteriöse Fixierung Braschs auf den Zusammenhang von Verbrecher und Künstler noch seine unstillbare Wut über die falsche Art, wie die DDR zu Ende ging, prägen hier die Atmosphäre. Sätze wie »Der Westen ist tödlich für den Kopf, für alles«, rauschen dann bloß noch vorbei.
Wie lebendig begraben wohnte Brasch die letzten Jahre seines Lebens in einer viel zu großen und zu teuren Wohnung am Schiffbauerdamm, schrieb wie besessen am »Mädchenmörder Brunke«. 16 000 Seiten entstanden halb im Drogen-, halb im Schreibrausch, von denen bis heute nur ein Bruchteil veröffentlicht wurde. Eine Flucht aus der Zeit, oder gerade der Versuch, ihr anders beizukommen? Darüber wird noch zu reden sein.
»Lieber Thomas«: Deutschland 2021. Regie: Andreas Kleinert, Buch: Thomas Wendrich. Mit: Albrecht Schuch, Jella Haase, Ioana Iacob, Jörg Schüttauf. 157 Minuten. Jetzt im Kino.
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