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Alles neu aus dem Nichts heraus
Das Theater Chemnitz bringt das Leben ehemaliger vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen auf die Bühne
Was braucht es im Leben, um glücklich zu sein? Gemeint ist nicht, was der Apothekenkalender dazu sagt, nein, das richtige, das echte Glück im richtigen, echten Leben, in dem manche Wege weit sind, in dem Träume meistens Träume bleiben und allerhand schiefläuft. Der Geruch von Zuhause? Ein Gericht aus der Kindheit? Manchmal ist es nur die Abwesenheit von Unglück.
Am Theater Chemnitz befragen sich dazu drei Frauen auf der Bühne, keine Schauspielerinnen, echte Menschen, denen das Leben in Deutschland das Label »ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiterin« aufgedrückt hat. Ihnen ging es in der Nachwendezeit noch viel beschissener als den meisten Ostdeutschen. Gemeinsam hatten sie die Unbestimmtheit: Arbeit weg, Zukunft weg, Träume weg, aber hey: alles neu, hurra! Exklusiv hatten sie den Rassismus.
Die Regisseurin Miriam Tscholl und Autorin Dagrun Hintze haben viele Interviews geführt, bis Thúy Nga Ðinhs, Thi Nhu Lâm Nguyens und Ngoc Bích Pfaffs Geschichten als Essenz blieben. Unterschiedlich sind sie, aber in einem genau gleich: Der Wille, etwas zu erleben, aus dem alten Leben herauszutreten in das Ungewisse mit all seinen Verheißungen und Realitäten, das verbindet die drei. Lâm kommt erst zum Studium nach Deutschland und dann noch einmal als Vertragsarbeiterin Jahre später zurück in die DDR. Sie reist 14 Tage mit dem Zug an, und nach der russischen Grenze wird es unheimlich: Ab hier gibt es nur noch Brot. Heimat adé, das merkt man zuerst am Essen.
Bích und Nga kamen in den 1980er Jahren aus Vietnam in die sächsische Provinz, wo es nur »tote Bäume und schwarze Raben« gab, später landeten alle in Chemnitz, weil sich dort eine kleine Community gebildet hatte.
Sie wohnen in Wohnheimen, sechs Quadratmeter pro Person. Eine eigene Wohnung ist nicht erlaubt, Deutsch sollen sie in drei Monaten lernen, aber eigentlich reichen auch die Wörter Schweißnaht, Türaufhängung und Dederon. Bloß nicht heimisch werden und nach fünf Jahren sollen die Vietnamesen bitteschön wieder zurück. Die drei Frauen sind noch da und ihre Lebensgeschichten sind das Herz des Stücks »So glücklich, dass du Angst bekommst«.
Bích, Nga und Lâm kamen als junge Frauen, fast Mädchen noch, in die DDR. Sie wollten weg von zu Hause, nicht für immer, aber sie wollten etwas anderes sehen und ein anderes, ein besseres Leben als ihre Eltern. Normale Sehnsüchte normaler junger Menschen. Nga ging zwei Wochen in den Hungerstreik, um ihren Vater und die Mutter zu überzeugen, sie ausreisen zu lassen. In der DDR ist ihr Arbeitsalltag in den VEB streng reglementiert, Heimweh macht sich breit. Trotzdem ist Zeit für Leben.
Eine große Rolle in den Erzählungen nehmen die Kinder der Frauen ein. Die rigide Haltung der DDR zum Thema: Verhütung war vorgeschrieben, Kontakt zu (deutschen) Männern unerwünscht, Abtreibungen an der Tagesordnung, sonst drohte die Ausreise. Lâm ließ zwei ihrer Kinder in Vietnam zurück, Bích bekam als einzige in ihrem Wohnheim ein Kind, obwohl der Druck auf sie immens war. Alle wussten, dass es verboten war. Sie läuft auf dem Krankenhausflur an den Säuglingen in ihren Plastikschalen vorbei und entscheidet: dieses Mal nicht. Eigentlich war sie auf dem Weg, auch ihr drittes Kind abtreiben zu lassen. Irgendwann ist das Ich nun mal stärker als die Paragrafen.
Lâm hat eigentlich Großes vor, hat studiert, will sich nach dem Ende der DDR etwas Neues aufbauen und findet sich, wie die beiden anderen in der Arbeitslosigkeit wieder. Sie waren die ersten Arbeitslosen nach der Wende und teilten dieses Schicksal dann mit vielen Ostdeutschen. Aber keine Zukunft war für die drei Vietnamesinnen keine Option.
Harte Arbeit, das, was sie eigentlich anders als ihre Eltern machen wollten, rettet die Frauen. Egal, ob sie jeden Tag, bei jedem Wetter auf dem Chemnitzer Marktplatz stehen, Tag und Nacht in der Änderungsschneiderei schuften oder drei Jobs gleichzeitig stemmen, um den Kindern den Tanzkurs zu ermöglichen. Sie kämpfen sich durch, wie es die Verhältnisse nun mal von ihnen verlangen. Lâm wird für die 14 Jahre, die sie in Vietnam gearbeitet hat, bevor sie in die DDR kam, nie eine Rente bekommen. So lebt es sich nun mal unter dem Radar.
Die drei Vietnamesinnen spielen sich selbst, machen sich aber nie zum Opfer. Weder der DDR noch des Kapitalismus und des Rassismus, den es gab und gibt. In ein spannendes Zwiegespräch geraten sie dabei immer wieder mit den Puppen (gestaltet von Atif Hussein, geführt von Claudia Acker, Linda Fülle und Keumbyul Lim), die ihre jüngeren Ichs verkörpern. Emotionalität etwa überlassen die drei den Puppen, was viel über die eigene und zugeschriebene Rolle der Vietnamesen in Deutschland erzählt. Ein kluger Einfall der Regie. Einmal sagt ein Arbeitskollege: »Ihr Vietnamesen lacht immer, obwohl ihr nichts versteht.« Wahrscheinlich verstanden sie zu viel.
Das Stück beginnt in einer Schneiderei, von hier aus geht es nach Vietnam, dann an die Werkbank in der DDR und in die Waschküche des Wohnheims, wo Bích jedes Mal, wenn sie die Windeln ihres Kindes waschen will, die Trommel auseinanderbauen muss, um das Maschinenöl abzuwaschen, das ihre Vorgänger*innen hinterlassen haben. Im Hintergrund hängt die Moritzburg in einem goldenen Bilderrahmen, Symbol für Bíchs Traum vom besseren Leben und Kulisse für das Defa-Supererfolgsmärchen »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, Bíchs Lieblingsfilm, den sie in Vietnam im Kino sah.
Mit »So glücklich, dass du Angst bekommst« verleiht das Figurentheater Chemnitz bisher wenig gehörten Stimmen eine (noch immer zu kleine) Bühne. Es sind drei Frauenstimmen (so wie alle auf der Bühne Frauen sind), die einen wichtigen Aspekt der Wiedervereinigung ergänzen, denn mit dem großen Bruch mussten alle Ostdeutschen zurechtkommen, aber im harten Kampf um einen neuen Platz am Buffet blieb den Vietnamesen nur der Katzentisch. So war nicht nur die Arbeit von heute auf morgen weg, auch aus den Wohnheimen flogen sie alsbald raus. Es musste irgendwie weitergehen, denn weder Staat noch Gesellschaft interessierten sich sonderlich für sie. Geld sollte die Reise zurück nach Vietnam anstoßen, das sagt alles übers Menschenbild. Dazu die scheußlichen Ereignisse von Rostock.
Inzwischen ist eine Generation nachgewachsen, die wieder vieles anders machen will, die auch klarer benennt, was Rassismus ist und war. In einer rührenden Intervention sind im Stück Videos zu sehen, die Bíchs, Lâms und Ngas Töchter zeigen, die ihren Müttern die Anerkennung geben, die eine deutsche Mehrheitsgesellschaft bis heute nicht auf die Reihe bekommen hat. Rund 60 000 vietnamesische Vertragsarbeiter*innen lebten in der DDR, nach der Wiedervereinigung waren es noch etwa 16 000. Inzwischen ist die Community auf etwa 183 000 angewachsen. Ein versöhnliches Zeichen, nach allem, was schiefgelaufen ist.
Nächste Vorstellungen: 12.11, 11. und 12.12.
www.theater-chemnitz.de
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