Die Jüngsten verlieren bei jedem Lockdown

Die psychiatrische Versorgung von Kindern und Jugendlichen hatte schon vor Corona Lücken - diese werden jetzt gravierender

Die Lebenszufriedenheit der Kinder hat sich laut dem Präventionsradar der Ersatzkrankenkassen in der Pandemie um mehr als 50 Prozent verschlechtert. Die Hälfte der Heranwachsenden kommt nicht auf 90 Minuten Bewegung am Tag. Die Behandlungsfälle von Menschen unter 18 Jahren mit Diabetes und Adipositas haben 2020 zugenommen. Allein in Berlin und Brandenburg hat sich die Zahl der Minderjährigen mit depressiven Episoden, die stationär behandelt wurden, 2020 verdoppelt. Essstörungen traten häufiger auf. Zudem werden Vorsorgeuntersuchungen nicht wie geplant durchgeführt. Das sind nur einige Aspekte der gesundheitlichen Auswirkungen der Corona-Politik auf Kinder und Jugendliche.

Der Verband der Ersatzkassen (VDEK) hatte am Dienstag Wissenschaftler, Mediziner und Politiker eingeladen, um - auch über die Bundesländer Berlin und Brandenburg hinaus - Wege aus dieser Gesundheitsmisere heraus abzustecken. Der Kassenverband, zu dem auch Schwergewichte wie die Techniker und die Barmer gehören, konnte natürlich eine ganze Reihe bestehender Präventionsprojekte für junge Menschen anführen, unter anderem zu Themen wie Ernährung, Bewegung oder Stressreduzierung.

So gut gestaltet und gemeint die Projekte aber auch sind, es gibt ein Problem dabei: Diese Angebote erreichen nicht alle Kinder, die sie brauchen. Auch in der Pandemie haben vor allem Akademikereltern einen Blick auf das Verhalten ihres Nachwuchses, bei dem größeren Teil der übrigen Bevölkerung »verschwinden die Kinder hinter dem Smartphone«, erklärt Julia Asbrand von Berliner Humboldt-Universität die Situation aus ihrer Sicht. Die Psychologin und Psychotherapeutin forscht unter anderem zu Angststörungen und zur Regulierung von Emotionen.

Auf der VDEK-Veranstaltung thematisiert auch sie die Versorgungsprobleme in dem Bereich, die es schon vor der Pandemie gab. »Wenn wir uns vorstellen, welche Entwicklungsschritte Kinder in einem Jahr machen, dann kann unter den jetzigen Bedingungen viel verpasst werden.« Das Problem dürfe in den zuständigen Einrichtungen und Behörden nicht einfach ausgesessen werden. »Ein Drittel der Kinder kommt gut durch die Krise wegen guter Vorbedingungen.« Für die anderen sei es besonders wichtig, dass Schulen und Freizeitangebote offen bleiben. »Der soziale Kontakt muss aufrechterhalten werden, gern auch mit Maske. Die Kinder haben sich von der ersten Welle noch nicht erholt.«

»Wer wieder zumachen will, schädigt die Kinder«, erklärt der Berliner Kinderarzt Burkhard Ruppert, zugleich Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin. Der Mediziner mit Praxis in Reinickendorf spricht sich ebenfalls dagegen aus, sich nur auf die Widerstandskraft der Kinder und Familienstrukturen zu verlassen. »Was brauchen Kinder, damit sie gesund aufwachsen können? Dass sich 13 Millionen Erwachsene endlich impfen lassen! Das ist unser Hauptproblem. Diese Erwachsenen halten das Problem am Laufen«, explodiert Ruppert fast. Die Zeit der Appelle sei vorbei: »Wenn wir Kinder und Alte retten wollen, müssen wir endlich die verpflichten, die nicht geimpft sind.« Es gehe nicht mehr nur um eine Impfpflicht von Pflege- und Gesundheitspersonal.

Aus Sicht der Landespolitik in Brandenburg ergänzt Michael Zaske, Abteilungsleiter im Gesundheitsministerium, das Plädoyer für eine allgemeine Impfpflicht mit der Absichtserklärung, trotz der aktuellen Inzidenzrekorde die Schulen aufhalten zu wollen. Noch sei die Frage nicht abschließend zu beantworten, ob die junge Generation irreparable Schäden aus der Pandemie mitnimmt. Zu befürchten sei das jedoch.

Hinweise darauf kommen vom Projekt Krisenchat.de. Die Chatplattform wandte sich an Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 25 Jahren. Mit 300 extra geschulten ehrenamtlichen Fachkräften, darunter Psychologen, Psychotherapeuten und Sozialpädagogen, ist sie das größte Angebot ihrer Art in Deutschland. »Wir haben jede Nacht 10 bis 15 verschiedene Menschen, die sich mit gravierenden Problemen zu Wort melden. Darunter häufig Mädchen, die Suizidgedanken äußern«, erklärt Kai Lanz, der jugendliche Gründer der Plattform. Häufig helfe der Austausch im Chat, oft ist aber eine langfristige Begleitung nötig. Viele der Rat- und Hilfesuchenden werden in ambulante oder stationäre Versorgung vermittelt. Die Plattform wird von Krankenkassen, Einzelspendern und dem Gesundheitsministerium unterstützt und finanziert. In Anspruch genommen wird sie vor allem von 12- bis 20-Jährigen. Viele haben depressive Symptome, verletzten sich selbst oder haben Suizidgedanken. »Ein Pandemiebezug ist deutlich, aber nicht in allen Fällen«, so Lanz. Eine erste wissenschaftliche Auswertung begann kürzlich gemeinsam mit der Universität Leipzig.

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