- Kultur
- »Der Hofmeister« von Bertolt Brecht
Die deutsche Misere ausbuchstabiert
Die andere Klassikeraneignung: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner lassen am Deutschen Theater Berlin Bertolt Brechts »Der Hofmeister« nachspielen
Jürgen Kuttner, eine Berliner Bekanntheit und auch eine typische Erscheinung der Hauptstadt, tritt an ein Mikrofon, mit Karteikarten ausgestattet, sichtlich gut gelaunt. Wer Kuttner kennt, der weiß: Dieser Mann wird sich nicht kurzhalten. Und so spricht er, viel und schnell, halbfrei holpernd. Bald ist man beladen mit einer Mischung aus Informationsschwall und Kalauerkaskade. So muss es sein, wenn man einen Radiomann auf die Theaterbühne lässt. Um es vorwegzunehmen: Diese Vorrede, gewissermaßen der Prolog vor dem Prolog, ist der langwierige, ungelenke Teil dieses überzeugenden, klugen Theaterabends.
Wir befinden uns in den Kammerspielen, der kleineren Bühne des Deutschen Theaters Berlin. Hier, so erfahren wir von Kuttner, erlebte am 15. April 1950 Bertolt Brechts »Der Hofmeister« seine Premiere. Zu einer Zeit also, als Brecht nach den schwarzen Jahren des Exils nach Deutschland zurückgekehrt war. Die DDR hatte ihm eine eigene Theatergruppe in Aussicht gestellt, das schon damals legendäre Berliner Ensemble. Allerdings, ein eigenes Haus ließ noch bis 1954 auf sich warten. Ehe das Theater am Schiffbauerdamm, das heute auch den Namen Berliner Ensemble trägt, bezogen werden konnte, gastierte Brecht mit seinen Mitarbeitern am Deutschen Theater. Es war eine konfliktreiche Übergangszeit.
Dort griff Brecht, mit Unterstützung seines Bühnenbildners Caspar Neher und der jungen Regisseure Egon Monk und Benno Besson, auf einen ungewöhnlichen Stoff zurück. Die Kulturpolitik der DDR hielt die Aneignung der Klassiker hoch, und nur zu gerne richtete man den Blick gen Weimar. Brecht aber besann sich auf Weimars gefallenen Künstler Jakob Michael Reinhold Lenz, der ewig Stürmer und Dränger blieb, und sein Stück »Der Hofmeister«. Heute kennen wir Lenz vor allem als den Wahnsinnigen, als den ihn uns Georg Bücher in seiner gleichnamigen Novelle beschrieb.
Aus Zeitdokumenten wissen wir, wie sehr Brecht haderte, wenn es darum ging, die richtigen Stoffe für die junge Republik zu finden. Etwas beitragen wollte er, sich Illusionen zu machen war aber seine Sache nicht. In seiner Gedichtsammlung »Buckower Elegien« schrieb er von den »Gewohnheiten, noch immer«, und er stellte die Frage, was wohl dieser oder jene gemacht hatte, nur wenige Jahre zuvor, als der Autor sich, »öfter als die Schuhe die Länder wechselnd«, wie es an anderer Stelle in Brechts Œuvre heißt, auf der Flucht befand. »Der Hofmeister« - in Brechts eigener Fassung wird das überdeutlich - war das passende Stück für diese Zeit, und es wurde, bescheiden gesagt, ein regelrechtes Ereignis.
Mit dem Prolog, den Brecht seinem Drama vorangestellt hat, wird klar, was man inhaltlich zu erwarten hat: »Wills euch verraten, was ich lehre: / Das ABC der Teutschen Misere!« Und die Art und Weise der Darstellung verdeutlichen die Eingangszeilen ebenfalls. Der titelgebende Antiheld tritt hervor, um die Darbietung selbst, mit einigem Humor, zum Gegenstand zu machen. So ist das Theater nach Brecht: nicht rührend, sondern die Realität an die Oberfläche schüttelnd.
Läuffer, unser Hofmeister, findet eine schlecht bezahlte Anstellung als Privatlehrer im Haus des adligen Majors von Berg. Immerhin, alle drei Monate wird ihm ein Pferd bereitgestellt, damit er Bibliotheken - oder sind es doch Bordelle? - aufsuchen kann. Als ihm das dann doch verwehrt wird, sucht er Abhilfe bei seiner Schülerin Gustchen, die doch eigentlich dem Hallenser Studenten Fritz versprochen ist, von dem sie indes lange nichts gehört hat. Der Skandal ist unvermeidlich, als die beiden beieinanderliegend im Bett erwischt werden. Ein Asyl findet Läuffer beim Dorfschulmeister, dem er zur Hand geht. Doch es hilft nichts: Er fällt abermals in Versuchung. Dieses Mal heißt das Fräulein Lise. Dem Problem letztgültig ein Ende zu setzen, greift er zum Messer und kastriert sich selbst. Ein Eingriff, der unverhofft ganz neue Perspektiven, auch beruflicher Art, eröffnet.
Wie aber soll man einen solchen Stoff heute anfassen? Kuttner und sein Kompagnon Tom Kühnel bleiben ganz bei Brecht, der neben Heiner Müller der Schutzheilige dieses Regieduos ist. Dafür zeigen sie einen Inszenierungsmitschnitt von 1950, der noch in den Kinderschuhen der Theaterdokumentation steckt. Szenenfotos, die im Sekundentakt aufgenommen und zu einem Film, der eher an ein Daumenkino gemahnt, montiert wurden, sind im Deutschen Theater nun über fast die gesamte Bühnenbreite projiziert.
Rechts sitzt Matthias Trippner mit einem vielseitigen Instrumentenarsenal, mit dem er diesen Foto-Video-Theater-Abend musikalisch live begleitet. Ebenfalls auf der Bühne nehmen die Schauspieler Peter René Lüdicke, Helmut Mooshammer, Kathleen Morgeneyer und Birgit Unterweger Platz. Die vier sowie Kuttner treten zusammen oder einzeln an die Mikrofone, die an der Rampe aufgereiht sind, und sprechen den Figurentext zu den Bildeindrücken.
In gut 80 Minuten wird dieses Spektakel über die Bühne gebracht. Die Schauspieler tun gut daran, nicht nur den stummen Brecht-Darstellern der Projektion eine Stimme zu geben, sondern auch Auszüge aus den sogenannten Hofmeister-Notaten zum Besten zu geben. Darin offenbart sich nicht nur der Brechtsche Umgang mit dem Text auf den Proben, sondern auch der Blick auf die alte, neue deutsche Heimat. Die Vorführung der Aristokratie im »Hofmeister«? Sie verbirgt nicht, sondern offenbart die Kontinuitäten, die es in Deutschland allen Änderungen zum Trotz gab und gibt.
Die DDR, die Brecht nicht zufällig, sondern sich der Vorzüge und Nachteile bewusst, zum Wohnsitz für seinen sehr frühen Lebensabend ausgewählt hat, erkannte er auch als das, was sie war: eine bürgerliche Gesellschaft. Kontrolle und Zwang zur Normalisierung als deren Grundbestandteile sind nicht zu übersehen - mitunter bis zur geistigen Selbstentmannung. »Der Hofmeister selbst erntet unser Mitgefühl, da er sehr unterdrückt wird, und unsere Verachtung, da er sich so sehr unterdrücken lässt«, notierte Brecht. Dass uns eine solche Kritik auch heute noch angeht, muss wohl nicht eigens gesagt werden.
Fraglich ist, ob ein anderer Zugriff auf dieses Stück als der gewählte überhaupt möglich ist. Es ist eine etwas historisierende Herangehensweise, die den alten B. B. einmal mehr auch auf seinen Platz im Museum verweist. Brecht hat das giftige Wesen des deutschen Spießbürgers ausfindig gemacht. Aber was nützt es, wenn heute darin wohl doch nur »toxische Männlichkeit« erkannt würde. Die Fallstricke des Dramas sind zu groß, wenn das Interesse an einer intellektuellen Durchdringung der gegenwärtigen Gesellschaftsprobleme verkümmert ist und nur noch in der Nennung der immer gleichen Schlagworte überhaupt zum Ausdruck kommt.
Kühnel und Kuttner sind am Theater Garanten für die interessanteren Themen und für aufschlussreiche (Wieder-)Entdeckungen. Führt man sich allein die Arbeiten vor Augen, die sie in den letzten Spielzeiten am Deutschen Theater entwickelt haben, bekommt man fast den Eindruck, so schlimm könnte es gar nicht stehen um das Theater der Gegenwart. Es sind die Skandalstücke des letzten Jahrhunderts, derer sich die zwei angenommen haben: Brechts Dissidentendrama » Untergang des Egoisten Johann Fatzer«, Heiner Müllers Kollektivierungsdrama »Die Umsiedlerin« und Peter Hacks’ Postrevolutionsdrama »Die Sorgen und die Macht« zum Beispiel. In einem eher provisorischen Abend im Berliner Kino Babylon haben sie sich erstmals dokumentarisch dem »Hofmeister« angenähert.
Die am vergangenen Sonnabend nun zur Premiere gekommene bühnenreife Fassung veranschaulicht mustergültig, worin Stärken und Schwächen des Kuttner-Kühnel-Klubs liegen. Den beiden mangelt es nicht an mutiger Bereitschaft, sich in der Geschichte und ihren angeblich ad acta gelegten Kapiteln thematisch zu bedienen. So aufschlussreich das oft auch ist, so ist es ästhetisch weit weniger reizvoll oder bekommt mitunter sogar mitunter den Charakter einer Revue für Bildungsbürger. Dass diese »Hofmeister«-Wiederholung mit Witz und Scharfsinn dennoch positiv auffällt im Spielplaneinerlei, sagt wiederum viel über das Theater, wo man derzeit zwar zeitgeistig allerhand Gegenwart auf die Bühne zu stellen versucht, aber die Lust an der genauen Gesellschaftsanalyse entfällt.
Wollte man dieses Wagnis wieder angehen, wäre Brecht für die Künste kein schlechter Ratgeber. Der Tradition der Lehrmeisterei deutscher Prägung hatte er sein Stück entgegengesetzt. »Schüler und Lehrer einer neuen Zeit / Betrachtet seine Knechtseligkeit, / Damit ihr euch davon befreit!«
Nächste Vorstellungen: 16.12., 1., 11. und 17.1.
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