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Ein Auto wird zur Therapiecouch

Vom Orgasmus zum Drehbuch: Der Film »Drive my Car« erzählt die Geschichte eines Künstlerpaares

Die eigentliche Bühne für den Film »Drive my Car«: Ein roter Saab 900 Turbo, der zum Ort der Selbstreflexion wird
Die eigentliche Bühne für den Film »Drive my Car«: Ein roter Saab 900 Turbo, der zum Ort der Selbstreflexion wird

Für die einen ist es die Muse, für die anderen LSD. Woher die Inspirationen, die Kreativität, die Ideen bei der Entstehung eines Kunstwerks kommen, wurde in der Kunstgeschichte schon immer gerne diskutiert.

Bei Oto, einer bekannten Drehbuchautorin, ist die Inspirationsquelle der Orgasmus. Nach dem Höhepunkt beginnt Oto ihrem Mann Yusuke Kafuku, einem Bühnenschauspieler und Regisseur, erotische, fantasievolle Geschichten zu erzählen, an die sie sich am Tag danach kaum erinnert. Doch Kafuku merkt sich alles und erzählt ihr ihre Offenbarungen vom Vorabend im Auto auf dem Weg zur Arbeit. So entstehen Otos Werke.

Das klingt nach einem schönen, künstlerischen Zusammenleben. Nur, Oto (Reika Kirishima) schläft auch mit anderen Männern, die jeweils andere Teile der nach dem Orgasmus entstandenen Geschichten kennen. Als Kafuku (Hidetoshi Nishijima) dies eines Tages zufällig erfährt, entscheidet er sich fürs Schweigen. Er hat Angst, Oto zu verlieren; so tut er, als wüsste er nichts. Zu dieser Zeit ist er beschäftigt mit einer Inszenierung von Tschechows »Onkel Wanja«, in der er Iwan Petrowitsch Wojnizkij, den Wanja, spielt. Oto hat ihm alle Dialoge vorgesprochen und auf Kassette aufgenommen, außer jene von Wanja. Kafuku lässt diese im Auto abspielen und spricht selber seinen Part. Ein weiteres schönes künstlerisches Ritual dieses Paares. Früher jedenfalls. Denn nun sind diese Auto-Proben für Kafuku eine nervenzehrende Übung. Wo er das eigentliche Gespräch mit Oto meidet, ist er nun im ständigen Dialog mit ihrer Stimme, die ihm mal als Dr. Astrow sagt: »Du beneidest ihn bloß!«, mal als Sonja ihn tadelt: »Nicht deine Überzeugungen sind schuld, schuld bis du selbst.« Und als Wanja gesteht er: »Mein Leben, meine Liebe - was soll ich mit ihnen anfangen?«

Theater und Realität mischen sich in diesem Auto, einem roten Saab 900 Turbo, der die eigentliche Bühne des Films »Drive my Car« des japanischen Regisseurs Ryusuke Hamaguchi ist. Das Werk basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Haruki Murakami. Murakami - wiederum inspiriert von einem Lied der Beatles - erzählt darin von einem Schauspieler namens Kafuku, der sich von einer jungen Frau chauffieren lässt. Während der Autofahrten beginnt er auf einmal, der fremden, oft schweigenden Chauffeurin von seiner toten Frau und deren Untreue zu erzählen.

Hamaguchi macht daraus einen dreistündigen Film. Dafür ist Murakamis Stoff zu kurz - so lässt Hamaguchi noch andere Texte in die Geschichte einfließen, allen voran um Scheherazade. Seine Version von »Drive my Car« fängt erst nach einem langen - 40-minütigen - Prolog an. Wir sehen aus der Vogelperspektive Kafuku in seinem roten Oldtimer auf der Autobahn fahren. Zwei Jahre sind vergangen, Oto ist gestorben, Kafuku bekommt ein Angebot, bei einem Theaterfestival in Hiroshima »Onkel Wanja« zu inszenieren. Dort wird ihm eine Chauffeurin, Misaki (Toko Miura), zur Verfügung gestellt - gleich, ob er einverstanden ist oder nicht. Nun muss Kafuku die Anwesenheit dieser Fremden in seinem besonderen, rituellen Proberaum, seinem Auto, akzeptieren, in dem Otos Stimme nach wie vor »Onkel Wanja« vorliest - wie eine japanische Scheherazade, die weiterlebt, indem sie weiter erzählt.

So wird dieses Auto allmählich zu einem vertraulichen Raum, gar zur Therapiecouch, wo Selbstreflexion stattfindet, die Vergangenheit verarbeitet wird, unbekannte Gedanken in Worte gefasst werden. Dabei sind die Charaktere des Films sparsam mit Worten und Dialogen. Die Stille bekommt eine zusätzliche Bedeutung - wie eine Pause zwischen den Noten in der Musik.

Die sonstigen Dialoge sind vor allem die aus »Onkel Wanja«, die bei den langen Proben in Hiroshima gesprochen werden. Auf Englisch, Japanisch, Koreanisch, Mandarin, sogar in koreanischer Gebärdensprache. Denn Kafuku arbeitet mit Schauspieler*innen, die aus verschiedenen Teilen Asiens kommen und jeweils in ihrer eigenen Muttersprache ihre Zeilen sprechen, teilweise ohne die Sprache der anderen zu verstehen. Eine multilinguale Inszenierung. Ist das die Richtung, in die das Theater der Zukunft öfter gehen wird? Hamaguchi jedenfalls schenkt in »Drive my Car« dieser Sprachvielfalt einen großen Raum.

»Drive my Car« ist Japans Beitrag, der um eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Bester internationaler Film konkurriert. Das Werk wurde im Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals von Cannes uraufgeführt und gewann unter anderem den Preis für das beste Drehbuch. Hamaguchi wurde dieses Jahr zudem für seinen Episodenfilm »Wheel of Fortune and Fantasy« auf der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.

Aus mehreren Stimmen und vielen Anspielungen besteht »Drive my Car«: Tschechow, Murakami, Beatles, Scheherazade - alle schreiben neben Hamaguchi an diesem Werk mit. Ein filmisches Beispiel für das, was die bulgarische Literaturtheoretikerin Julia Kristeva »Intertextualität« nennt: dass sich im Raum eines Textes mehrere Aussagen überlagern, die aus anderen Texten stammen. Jeder Text ist also im Sinne Kristevas ein »Mosaik von Zitaten«. Einige Stücke dieses Mosaiks sind hier vom Regisseur selbst eingefügt, den Rest entdeckt jede Zuschauer*in für sich.

»Drive my Car«: Japan 2021. Regie: Ryusuke Hamaguchi, Buch: Ryusuke Hamaguchi und Oe Takamasa. Mit: Hidetoshi Nishijima, Toko Miura, Masaki Okada, Reika Kirishima. 179 Minuten. Start: 23. Dezember.

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