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Krankenversicherer fürchten hohe Defizite
Einige mitgliederstarke AOK müssen als erste gesetzliche Kassen ihre Zusatzbeiträge erhöhen
Für mehr als ein Viertel der gesetzlich Krankenversicherten endete das Jahr mit einer Hiobsbotschaft: Sie müssen 2022 höhere Beiträge zahlen. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) hat dazu Angaben seiner Mitglieder ausgewertet. Ein leicht höherer Zusatzbeitrag wird bei neun der elf Allgemeinen Ortskrankenkassen fällig. Mehr zahlen müssen damit 21 Millionen Versicherte. Erhöhungen wurden von mehreren mitgliederstarken AOK angekündigt, darunter die in Bayern und Baden-Württemberg, die ihren Zusatzbeitrag jeweils um 0,2 Punkte auf 1,3 Prozent erhöhten. Bei der AOK Hessen stieg der Obolus ebenfalls um 0,2 Punkte auf schon 1,5 Prozent, bei der AOK Nordost gar auf 1,7 Prozent. Bei der AOK Nordwest fällt der Beitragssprung mit 0,4 Punkten doppelt so hoch aus und führt am Ende zu einem Zusatzbeitrag von 1,7 Prozent. Sogar 0,5 Punkte mehr verlangt die AOK Rheinland/Hamburg.
Diese Anpassungen bei den Zusatzbeiträgen erfolgten gerade bei Kassen mit einer ungünstigen Versichertenstruktur: Hier sind besonders viele Menschen im unteren Einkommensbereich Mitglieder. In deren Haushaltseinkommen macht sich jede, auch geringe Erhöhung bei den Abgaben noch deutlicher bemerkbar. Diese Gruppe gehört auch nicht zu jenen, die wegen einer Beitragserhöhung schnell die Kasse wechseln.
Außerdem: Für ALG-II-Bezieher kommt eine Versicherungspauschale von den Jobcentern. Teile der Erhöhung belasten also die öffentlichen Kassen. Ein Problem besteht genau für diese Versichertengruppe aus Sicht der gesetzlichen Kassen darin, dass die Pauschalen bislang nicht kostendeckend sind. Im Koalitionsvertrag ist jedoch vorgesehen, diese zu erhöhen. Die GKV könnte insgesamt bei kostendeckenden Pauschalen um 10 Milliarden Euro entlastet werden.
Den AOK zu schaffen macht zudem eine Gesetzesänderung vom Februar 2020. In dem damals in Kraft getretenen Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz (FKG) wurde der Risikostrukturausgleich unter den Kassen neu justiert. Mit dem Instrument sollen die finanziellen Folgen der Versicherung bestimmter Personengruppen ausgeglichen werden: Kassen mit mehr einkommensstarken Mitgliedern erhalten weniger Geld zugewiesen, Kassen mit mehr schwer kranken Versicherten mehr.
In die Berechnung dieses Ausgleichs wurde 2020 eine Regionalkomponente aufgenommen. Damit sollen regionale Unterschiede bei den Kassenausgaben ausgeglichen werden. Während dies von der Gruppe der Ersatzkassen (unter anderem TK und Barmer) begrüßt wurde, warnen die AOK eher vor einer Abnahme der Genauigkeit des Ausgleichs. Überversorgung in Ballungsräumen werde zulasten der Versorgung in ländlichen Räumen zementiert.
Entsprechend konnte die mit rund 28 Millionen GKV-Versicherten größte Kassenart, die Ersatzkassen, ihre Beitragssätze stabil halten. Neun im Vergleich sehr viel kleinere Betriebskrankenkassen (BKK) senkten zum Jahreswechsel ihre Beiträge. Mit 17,1 Prozent ist die BKK24 aktuell die bundesweit teuerste aller gesetzlichen Krankenkassen, die günstigste ist die BMW BKK mit 14,9 Prozent.
Branchenvertreter befürchten, dass im kommenden Jahr flächendeckend deutliche Beitragserhöhungen nötig werden könnten. Vereinzelt wird schon vor einem Beitragstsunami 2023 gewarnt. Drohende Milliardenlöcher in den Jahren 2021 und 2022 hätten nur durch staatliche Sonderzuschüsse und den Rückgriff auf Kassenreserven gestopft werden können. Der Bundestag hatte für 2022 einen Bundeszuschuss von insgesamt 28,5 Milliarden Euro bewilligt. Hintergrund waren vor allem Zusatzausgaben und Einnahmeausfälle durch die Corona-Pandemie.
»Auch für das Jahr 2023 zeichnen sich schon wieder GKV-Defizite in ähnlicher Größenordnung ab«, warnte Carola Reimann, Vorsitzende des AOK-Bundesverbands, dieser Tage. Und die Vorsitzende des GKV-Spitzenverbands, Doris Pfeiffer, betont: »Wird nichts unternommen, müssen die Beiträge Anfang 2023 im Durchschnitt um fast einen Prozentpunkt steigen.« Das wären bei einem Monatseinkommen von 3500 Euro eine Mehrbelastung von 35 Euro für Versicherte und Arbeitgeber.
Bei den gesetzlichen Krankenkassen setzt sich der Beitrag aus dem allgemeinen Beitragssatz in Höhe von 14,6 Prozent des Bruttoeinkommens und einem Zusatzbeitrag zusammen. Diesen kann jede Kasse für sich festlegen. Beide Beitragsteile werden je zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bezahlt. Bei einer Erhöhung des Zusatzbeitrags haben Versicherte ein Sonderkündigungsrecht.
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