Der diskrete Charme der Ideologie

Es ist das erste berühmte Werk von Slavoj Žižek: Mehr als 30 Jahre nach Erscheinen liegt »Das erhabene Objekt der Ideologie« auf Deutsch vor

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 7 Min.

Um Slavoj Žižek zu kennen, muss man ihn nicht gelesen haben. Als Einführung in Person und Werk kann man sich ein kurzes parodistisches Video des slowenischen Schauspielers und Komikers Klemen Slakonja anschauen. »Ich bin ein Philosoph, ich provoziere gerne, wir leben in perversen Zeiten, deshalb erzähle ich euch einen perversen Witz«, so tritt das Double des berühmten slowenischen Philosophen auf - mit nervösen Ticks, gebrochenem Englisch und undeutlicher Aussprache. So kennt man Žižek, als hochgradig neurotischen Dauerredner, von einem Podium zum anderen tingelnd oder populäre Filme mit Psychoanalyse und Marxismus kommentierend.

Der »echte« Žižek ist selbst einer Parodie nahe; einen »Klassenkampfkasper« nannte ihn Dietmar Dath einmal. Das mag auch daran liegen, dass Žižek wie eine Figur aus einem »einzigen Zug« wirkt, das Merkmal aller komischen Charaktere. Und niemand anders als er selbst könnte einem gepflegt ein paar Bände Lacan und Hegel um die Ohren hauen und erklären, dass die Wahrheit nur in der Verdopplung und Wiederholung liegt, das »Echte« eine Illusion ist und sich im Witz das Reale ausdrückt und so weiter und so fort.

Wie man bei den Filmkomödien von Ernst Lubitsch von einem »Lubitsch-Touch« spricht, könnte man auch von einem »Žižek-Touch« sprechen. Hollywood trifft Hegel, Oper auf Kafka, und mit Freud geht’s zu Stalin - die Lust an überraschenden Wendungen und ungeahnten Verbindungen zeichnet das Werk des 1949 in Ljubljana geborenen Philosophen aus. Als er 1989 sein Buch »Das erhabene Objekt der Ideologie« veröffentlichte, war die heutige Hauptstadt von Slowenien noch Teil der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien - bevor diese in Bürgerkrieg und Friedensbombenhagel unterging.

Das »Ende der Ideologien« hatten Sozialwissenschaftler wie Daniel Bell seit dem Ende der 50er Jahre verkündet, mit dem Ende der DDR und dem damit einsetzenden Zerfall der Sowjetunion schien es sich aus westlicher Perspektive einzulösen. Mit dem Neoliberalismus war die Wiederauflage der politischen Ideologie der Ideologiefreiheit bereits etabliert. Je weniger die Menschen ihr Glück an große Ideen hängen und je mehr sie bereit sind - oder gezwungen, die Neoliberalen sehen es da nicht so eng -, es auf dem Markt zu suchen, desto weniger störanfällig für Faschismus und Krieg würde sich die Gesellschaft erweisen, so die letzte der großen Erzählungen.

Dass Žižek mit dem Ende der Ideologie nichts anfangen kann, liegt an zweierlei: Erstens hält er diese Behauptung selbst für ideologisch. Und zweitens geht er über den liberalen Begriff von Ideologie hinaus. Der besagt bekanntlich, dass Menschen komische Ideen haben, die sich dann schädlich auf ihr Verhalten auswirken, weniger komische Ideen also bessere Ergebnisse zeitigen.

Wie jede marxistische Ideologiekritik dreht Žižek die Sache um, er will den Menschen zunächst nicht in die Köpfe schauen (das später), sondern auf ihre Füße und Hände, sprich: auf ihr gesellschaftliches Handeln. Und da zeigt sich nämlich, einige Seiten Analyse des Warenfetischismus später, dass die Wirklichkeit selbst ideologisch ist - das Kapital als ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis von Personen, wie Marx sagt. Und weil dieses Verhältnis auf einem blödsinnigen Wiederholungszwang, der Wertverwertung, basiert, ist es zunächst egal, was die einzelnen Menschen nun denken, warum sie das tun.

Im Vorteil ist diejenige Ideologie, die keinen festen Inhalt vorgibt, ja sogar jene, die nicht einmal fordert, dass man an sie glauben muss. Je freier der Einzelne im Umgang ist und je mehr man sich selbst eine Privatideologie basteln kann, desto fester ist auch das ideologische Gehäuse als solches.

Doch Žižek geht auch über die marxistische Tradition hinaus, indem er Ideologie nicht einfach als Täuschung über die wirklichen Zustände begreift, über die man nur aufklären müsste. Er folgt der zentralen Einsicht der Psychoanalyse, dass für den Menschen als lustsuchendes Wesen alles zum Quell von Lust werden kann (die genitale Sexualität ist gewissermaßen nur ein Sonderfall dieser Fähigkeit zur Besetzung).

Die ketzerische These von Žižek ist nun nicht nur, dass Ideologie einen perversen Lustgewinn bietet, sondern dass das umso besser funktioniert, je sinnloser die Regeln sind, denen sie folgt, wie man allerorten beobachten kann. Dieses Genießen sucht sich immer neue Wege, auch hier sind ideologische Inkonsistenz und Irrationalität nicht unbedingt von Nachteil.

Bevor man das nun als Spinnerei aufgrund zu exzessiver Lektüre von Sigmund Freud und seines französischen Nachfolgers Jacques Lacan abtut, sollte man sich die Probleme der herkömmlichen Ideologiekritik vergegenwärtigen. Dazu gehört, dass die üblich betriebene informationsbasierte Aufklärung nicht verfängt. Einem Antisemiten dürfte beispielsweise egal sein, wie die Juden »wirklich« sind, weil das Jüdische ein Phantasma mit einer bestimmten psychischen und sozialen Funktion ist. Und diese gilt es zu verstehen, wenn man die »Grenzen der Aufklärung«, wie es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno einmal nannten, durchbrechen will.

Üblicherweise wird heute der Antisemitismus als ein durch Stereotype vermitteltes Vorurteil verstanden, als »eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass auf Juden äußern kann«, wie es in einer geläufigen Definition heißt. Bräuchte es also bloß eine andere Wahrnehmung und das konsequente Brandmarken aller Stereotype?

Das Paradox einer solchen Praxis ist, dass sie nicht einmal den Zirkel der Vorurteile verlassen kann, in dem sie operiert. Sie vermutet hinter den Vorurteilen ebenjenen Zusammenhang, der den Antisemitismus auszeichnet. Laut Žižek verfehlen wir so das Wesen des Antisemitismus. Ihm zufolge sind die Vorurteile keine Wahrnehmungsstörung, sondern kaschieren oder rationalisieren notdürftig das antisemitische Phantasma. Wir sollten also den Kampf gegen Antisemitismus nicht als Aufklärung darüber, wie die Juden »wirklich« sind, missverstehen, sondern im Gegenteil als Aufklärung über die Psychodynamik des Subjekts in einer verkehrten Gesellschaft begreifen.

Der Antisemitismus im Speziellen und die Ideologie im Allgemeinen beruhen nach Žižek auf der Verdrängung eines zugrunde liegenden Antagonismus, einer realen Unmöglichkeit. Ideologie leugnet diese und bietet einen projektiven Ersatz an, in dem die Widersprüche verschwinden. So ist »die Vorstellung einer ›Gesellschaft als Körper‹ das fundamentale ideologische Phantasma«, schreibt er.

Das ideologische Bedürfnis entsteht mit der Verleugnung der Widersprüche oder Unmöglichkeiten. Ideologie ist nach Žižek »eine Chiffre, eine entstellte Repräsentation eines gesellschaftlichen Antagonismus«. Einerseits stellt das die Ideologiekritik vor die Aufgabe, darin die zugrunde liegenden Konflikte zu entschlüsseln und zur Selbstaufklärung des Subjekts beizutragen. Andererseits ergibt sich die weitere Aufgabe, eine alternative Deutung dieser Konflikte und eine alternative Artikulation anzubieten. Klassenkampf nennt Žižek als Beispiel.

Über 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung, da nun endlich die deutsche Übersetzung von »Das erhabene Objekt der Ideologie« vorliegt, zeigt sich deutlich die Herausforderung, die sich nach dem vermeintlichen Ende der Ideologie ergibt: die Artikulation der radikalen Unmöglichkeit des neoliberalen Gesellschaftsexperiments. Keine positiven Parolen, wie es doch noch weitergehen könnte, stattdessen die Wiederaneignung der Negativität. Es mag paradox klingen, aber das könnte eine neue Politik verbinden, ohne sie zu vereinheitlichen. Denn diese Unmöglichkeit ist von überallher greifbar, im Verhältnis der Klassen, in dem der Geschlechter oder in dem zur Natur. Das, was fehlt, was nicht geht, ist das Gemeinsame, das Geteilte.

Wie der Protagonist einer Komödie ist Žižek stur in der Richtung und beweglich in den Wendungen. Noch in seinen neuesten Büchern wie »Für einen neuen Kommunismus. Ein Linker wagt sich aus der Deckung« greift er Passagen aus »Das erhabene Objekt der Ideologie«, seinem vermutlich konzentriertesten Werk, auf - ganz abgesehen von der bekannten Mischung aus perversen Witzen, Hitchcock-Filmen, Philosophiegeschichte und Psychoanalyse. Variiert Žižek sich nur selbst? Und wirkt das ziemlich schrullig? Doch alle Kasperei hat auch einen ernsten, vielleicht tragischen Kern.

Slavoj Žižek: Das erhabene Objekt der Ideologie. A. d. Engl. v. Aaron Zielinski. Passagen-Verlag, 336 S., br., 42 €.

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