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Mit dem Immunsystem gegen Krebs
Onkologen verfolgen neue Ideen gegen die Täuschungsmanöver von Tumorzellen
Krebserkrankungen gehören weiterhin zu den wichtigsten Todesursachen weltweit. Während 2020 schon 19,3 Millionen Menschen an schwerwiegenderen Krebsformen erkrankten, wird damit gerechnet, dass es 2040 mehr als 30 Millionen dieser Patienten sein werden. Die Zahlen nennt Michael Baumann, Vorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) Heidelberg. »Deutschland liegt mit mehr als einer halben Million Neuerkrankungen und 200.000 Todesfällen pro Jahr international weit vorn«, sagt der Mediziner und Radioonkologe.
Die Wirksamkeit der Behandlungen hierzulande ist im Vergleich nicht so schlecht: 65 Prozent aller neu diagnostizierten Patienten überleben fünf Jahre. Das heißt aber zugleich, dass 35 Prozent dieser Gruppe vor Ablauf dieser Zeitspanne sterben. Selbst wenn die Krankheit nicht zum Tode führt: »Die mehr als vier Millionen Menschen, die heute nach oder mit einer Krebserkrankung weiterleben, leiden häufig unter einer verminderten Lebensqualität, späten Nebenwirkungen der Therapien oder müssen mit erhöhten Krankheitsrisiken klarkommen«, gibt Baumann zu bedenken.
Die Prävention von Krebserkrankungen bleibt noch zu wenig wirksam: 40 Prozent der Fälle könnten vermieden werden sowie 50 bis 70 Prozent aller Todesfälle – durch einen gesunden Lebensstil, Vermeidung von krebserregenden Stoffen am Arbeitsplatz, aber auch durch Impfungen von Neugeborenen gegen Hepatitis B oder von heranwachsenden Mädchen gegen HPV. Da dieses Potenzial schwer zu heben ist, müssen Mediziner weiterhin oft eingreifen, wenn sich Tumoren schon gezeigt haben.
Behandelt wird Krebs, je nach Form und Ausbreitung im Körper, mit Chemo- und Strahlentherapie sowie operativ. In den letzten Jahren ist eine weitere Möglichkeit hinzugekommen, nämlich die Nutzung von Teilen des Immunsystems. Hier gibt es bestimmte Parallelen zur Reaktion auf Viren: Diese werden vom Immunsystem erkannt und abgestoßen – oder eben nicht. Auch Tumorzellen können dem Immunsystem ausweichen. Diese Mechanismen gilt es auszuschalten. Eine Möglichkeit dazu sind sogenannte Checkpoint-Inhibitoren, die laut Baumann heute aus der klinischen Behandlung schon nicht mehr wegzudenken sind. 2018 gab es dafür den Medizin-Nobelpreis.
Eine der Überlebensstrategien von Krebszellen ist das Ausschalten der Immunabwehr. Hier kommen die T-Zellen ins Spiel, die zum adaptiven, also erworbenen Teil des Immunsystems gehören. Sie können große transplantierte Organe komplett abstoßen, erklärt Patrick Schmidt. Der Biologe leitet eine Arbeitsgruppe am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg. Die Einrichtung wird vom DKFZ, der Deutschen Krebshilfe und zwei Heidelberger Kliniken getragen. Für die Immun-Krebstherapie genutzt wird ein Protein auf der Oberfläche der T-Zellen. Dieser Rezeptor, auch Checkpoint genannt, moduliert die Antwort der T-Zellen auf Fremdkörper. Tumorzellen nutzen die Struktur ebenfalls: Sie bremsen darüber die Schlagkraft der T-Zellen.
Während der 90er Jahre entdeckte der spätere Nobelpreisträger, der US-Amerikaner James P. Allison das genannte Protein an der Zelloberfläche. Wird es gezielt blockiert, lässt sich die Immunreaktion gegen Tumore verstärken. Mit den Checkpoint-Inhibitoren stehen heute monoklonale Antikörper gegen die Bremswirkung der Checkpoints zur Verfügung. Sie sind die ersten wirksamen Immuntherapeutika gegen Krebs. Gute Ergebnisse erzielen sie etwa gegen Lungenkrebs oder das maligne Melanom.
Das menschliche Immunsystem ist laut Schmidt ein ausbalanciertes System, das mit seinen Bestandteilen effektiv auf äußere Faktoren reagiert. »Bei einer Krebserkrankung wird es jedoch dysreguliert, die Effektivität verwischt.« Tumoren entwickeln regelrecht Umgehungsstrategien, sie tarnen sich etwa mit Proteinen, die das Immunsystem aktiv fernhalten. Und der Tumor kann wachsen. Eine Strategie dagegen ist, die Bremsen der Checkpoints zu lösen.
Eine andere Variante ist die, körpereigene Strukturen des Patienten zu entnehmen, sie zu verändern und zurückzugeben. Es wird von einem »lebenden Medikament« gesprochen – und man ahnt es: Das funktioniert nur sehr spezifisch. Der Vorgang muss für jeden Patienten neu gestartet werden, und das wird teuer. Zu diesen Therapien zählt etwa die Car-T-Zell-Therapie. Die Abkürzung Car steht für »chimärer Antigenrezeptor«. Eine Chimäre ist ursprünglich ein Mischwesen der griechischen Mythologie, das etwa Löwe und Ziege vereinte. In der Medizin und Biologie werden so Organismen genannt, die aus genetisch unterschiedlichen Zellen bestehen – und inzwischen wird das Prinzip auch in der Immunonkologie genutzt.
Praktisch sieht das so aus, dass aus dem Blut des Patienten T-Zellen entnommen, im Labor vermehrt und durch DNA-Fragmente gentechnisch verändert werden. Dabei bilden sich die »chimären« Antigenrezeptoren auf der Zelloberfläche. Sie richten sich wiederum gegen krebsspezifische Oberflächenproteine. Der Patient erhält die veränderten Zellen mit einer Infusion.
Oft kommt es dabei zu schweren Nebenwirkungen durch Überaktivierung des Immunsystems. Das zeigt aber zugleich, ähnlich wie bei Impfreaktionen, dass die Therapie anschlägt. Ab einem bestimmten Grad können Nebenwirkungen lebensgefährlich werden. Laut Schmidt sind sie klinisch in den Griff zu bekommen, zum Beispiel dadurch, dass die Dosis der verabreichten T-Zellen reduziert wird. Zusätzlich kann die Therapie potenziell neurotoxisch wirken (mit Symptomen wie Schwindel, Kopfschmerzen oder Krämpfen), wobei der Mechanismus noch ungeklärt ist. Auch deshalb müssen Patienten nach der Therapie noch unter Beobachtung im Krankenhaus bleiben.
2021 waren in Deutschland drei Car-T-Zell-Therapien zugelassen, darunter Kymriah des Herstellers Novartis gegen akute lymphatische Leukämie (ALL) und ein bestimmtes Lymphom. Auch die anderen Therapien sind gegen Formen von Krebs im blutbildenden System gerichtet, nicht gegen sogenannte solide Tumoren. Aber auch für diesen Bereich soll das Verfahren in Zukunft entwickelt werden.
Die Car-T-Zell-Therapien sind für einige Krebsformen bereits gut etabliert: Bei Leukämien wird in etwa 85 Prozent der Fälle eine komplette Remission erreicht, Tumoren sind also nicht mehr nachweisbar. 77 Prozent der so behandelten Patienten überleben das erste Jahr – und dabei handelt es sich um Fälle, bei denen alle anderen Behandlungsoptionen schon ausgeschöpft waren. Bei Lymphomen wurde hingegen eine komplette Remission nur in knapp 40 Prozent der Fälle erreicht. Das ist dennoch ein bisher ungekannter Erfolg in dieser Gruppe von Krebserkrankungen, die das lymphatische System befallen.
Bislang werden in Heidelberg etwa 50 Patienten pro Jahr so behandelt. Da international wenige Herstellungszentren existieren und die Produkte nur in gefrorenem Zustand transportiert werden können, gibt es Wartelisten. Von der Abnahme des Blutes aus der Vene bis hin zur Infusion der veränderten Zellen dauert es etwa vier Wochen. Für Patienten im Endstadium der Krankheit sei das sehr lange, sagt Schmidt. Das könnte sich ändern, wenn die Herstellung nicht mehr in den USA erfolgen muss, sondern auch in Deutschland Kapazitäten aufgebaut werden. In Heidelberg soll noch in diesem Jahr ein Zentrum fertiggestellt werden, das zumindest am eigenen Standort Patienten versorgt. Wenn es gelänge, in Deutschland an Uniklinken Herstellungszentren einzurichten, könnten die Gesamtkosten, die jetzt bei etwa 300.000 Euro pro Patient liegen, aus Sicht des Wissenschaftlers jedoch deutlich gesenkt werden, möglicherweise auf bis ein Zehntel der jetzigen Kosten.
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