Was heißt Tauschwert auf Kiswahili?

Der Soziologe Joachim Mwami übersetzt »Das Kapital« von Karl Marx in eine verbreitete afrikanische Sprache

  • Loren Balhorn
  • Lesedauer: 10 Min.
Julius Nyerere, der erste Präsident des unabhängigen Tansania, propagierte einen afrikanischen Sozialismus.
Julius Nyerere, der erste Präsident des unabhängigen Tansania, propagierte einen afrikanischen Sozialismus.

Professor Mwami, Sie arbeiten seit Langem daran, »Das Kapital« von Karl Marx in die afrikanische Sprache Kiswahili zu übersetzen. Wie kam es zu diesem Projekt?

Auf die Idee waren meine mittlerweile verstorbenen Kolleg*innen und ich ursprünglich Mitte der 80er Jahre gekommen. Wir hatten beschlossen, die Kapitel unter uns aufzuteilen. Aber erst 2008 oder 2009 wurde diese Idee konkreter, als mich Professor Issa Shivji von der Universität Daressalam darauf ansprach.
Joachim Mwami
Joachim Mwami
Kaum ein Buch hatte so großen Einfluss darauf, wie die Menschen über die Gesellschaft und deren Veränderung nachdenken, wie »Das Kapital« von Karl Marx. Der Soziologe Joachim Mwami, der an Universitäten in Tansania und Nigeria lehrte, übersetzt das Marx-Werk erstmals in Kiswahili – eine Sprache, die von etwa 100 Millionen Menschen auch in ostafrikanischen Staaten wie Kenia, Uganda, der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda, Burundi, Somalia, Mosambik und Malawi gesprochen wird. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt das Projekt. Loren Balhorn führte das Interview, das zuerst auf der Webseite der Stiftung erschien (rosalux.de) und für »nd« leicht gekürzt und bearbeitet wurde.

2014 hatte ich einen ersten Übersetzungsentwurf für alle 33 Kapitel im ersten Band der englischen Fassung fertiggestellt. Damals lehrte ich in Nigeria. Als ich 2015 in den Ferien nach Hause, nach Tansania kam, besuchte ich meinen jungen Kollegen Sabatho Nyamsenda und sprach mit ihm über meine Arbeit. 2016 zog ich wieder nach Tansania und bearbeitete die Übersetzung, bis mich Dorothee Braun, die das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Daressalam leitet, fragte, ob wir nicht eine Person mit dem Endlektorat beauftragen und die Übersetzung veröffentlichen sollten.

Auf welchem Stand ist die Übersetzung?

Das Manuskript geht momentan an das Fachlektorat, um sicherzustellen, dass Sprache, Konzepte und Terminologie im ganzen Buch stimmig sind. Dazu gehört ein kleineres Heft, eine Anleitung zur Marx-Lektüre, die ich in den letzten Jahren geschrieben habe.

Es klingt so, als hätten Sie in den letzten Jahrzehnten eine ganze Menge Zeit und Energie in dieses Projekt gesteckt. Ist Ihnen die Aufgabe leichtgefallen?

Mir ist die Arbeit recht schwergefallen, weil ich sie alleine erledigen musste. Bei vielen englischen Begriffen ist es schwierig, das richtige Wort in Kiswahili zu finden, weil der englische Wortschatz vergleichsweise groß und nuanciert ist. Da das Manuskript nun einem professionellen Lektorat vorgelegt wird, hoffe ich, dass dabei eine bessere Terminologie gefunden wird, als es mir möglich war.

Können Sie ein Beispiel für einen schwer zu übersetzenden Begriff nennen?

Der zentrale Begriff der Ware wurde zum Beispiel als bidhaa übersetzt. Das ist kein Problem. Es gibt aber zwei Eigenschaften von Waren: den Gebrauchswert und den Tauschwert. Wert kann ohne Weiteres als thamani übersetzt werden. Aber Gebrauchswert? Ich verwende den Ausdruck thamani mafao. Für den Tauschwert steht dann thamani mauzo. Ob das für Kiswahili-Sprechende leicht verständlich ist, kann ich nicht einschätzen.

Auch andere Konzepte bereiten Schwierigkeiten, etwa die Entstehung des Geldes. Marx hat die Entstehung des Geldes hervorgehoben und dabei eine bestimmte Terminologie verwendet. Zum Beispiel die verschiedenen Wertformen. Wenn ich das in Kiswahili übersetze, bin ich mir nie so recht sicher, ob meine Übersetzung stimmt. Ich kann schließlich nicht im deutschen Original nachschauen, aber das ist gar nicht das Problem. Das Problem ist eher: Können die Wörter des Kiswahili die Bedeutung der englischen Fassung korrekt wiedergeben?

»Das Kapital« ist ein sehr dichter und schwieriger Text, selbst für englische oder deutsche Muttersprachler*innen. Welches Publikum wünschen Sie sich?

»Das Kapital« ist im Grunde ein Buch für das Proletariat, die Arbeiterklasse, für die durch das kapitalistische System Ausgebeuteten und Unterdrückten. Ich bin überzeugt davon, dass das Buch eine überaus positive Wirkung entfaltet, wenn es bei Menschen mit geringem Einkommen in Umlauf kommt.

Als Student an der Universität Daressalam hatte ich 1976 die Gelegenheit, in einer der Textilfabriken der Stadt marxistische Politische Ökonomie zu lehren. Ich habe die gleichen Begrifflichkeiten verwendet wie an der Universität. Dabei konnte ich feststellen, dass die Fabrikarbeiter*innen mich besser verstanden haben, wenn wir über Fragen diskutiert haben wie: Was ist Ausbeutung? Oder: Wer ist Arbeiter*in und wer Kapitalist*in? Sie konnten diese Begriffe viel besser verinnerlichen als meine Studierenden an der Universität, die gebildete Angehörige des Kleinbürgertums waren.

Ich gehörte zu den, wie es damals hieß, Militanten und hatte den Marxismus schon in der Jugend verinnerlicht, aber meine Kommiliton*innen konnten mich in Diskussionen nicht verstehen: »Nein, Mwami, in Tansania gibt es keine Ausbeutung.« Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass Menschen mit geringem Einkommen »Das Kapital« verstehen können. Ich kann es nicht beweisen, aber die Geschichte wird mir recht geben.

Wie sind Sie mit marxistischen Ideen in Berührung gekommen?

1968 arbeitete ich als Bibliotheksassistent in Daressalam und las viel Kritisches zur römisch-katholischen Kirche und zur Religion im Allgemeinen. Als Walter Rodney 1972 sein Buch »Afrika - Die Geschichte einer Unterentwicklung« veröffentlichte, war ich einer der ersten in der Bibliothek, die es lasen. Damals war ich ein richtiger Nationalist - es war die Zeit der Arusha-Deklaration, als viele junge Menschen in Tansania den Sozialismus einführen und etablieren wollten.

Die Universität Daressalam war in den 60er und 70er Jahren ein Sammelbecken für kritisches Denken, und in der Bibliothek konnten wir auf viele von radikalen Studierenden herausgegebene Zeitschriften zugreifen. Da habe ich angefangen, marxistisches Wissen aufzusaugen. Als ich 1975 als Spätstudent an die Universität kam, war ich ein sehr enthusiastischer Radikaler, las viel auf Marx bezogene Literatur, vor allem Marx selbst. 1978, bei meinem Abschluss, war ich ein richtiger Marxist - vom Wissensstand her, vielleicht aber sogar in der Anwendung.

Sind Sie leicht an marxistische Literatur gekommen?

An der Universität, ja. Das Gute war, dass einige radikale Studierende dort großen Einfluss ausübten. Sie sagten immer, wir sollten mehr lesen. Wenn wir bürgerliche Literatur lasen, gaben sie uns Bücher zum selben Thema aus marxistischer Perspektive.

Uns haben auch radikale Vorlesungen bewegt, etwa von Issa Shivji oder Mahmood Madani. Sie rieten uns, die Gelegenheit zu nutzen und mehr Wissen aufzubauen, um gegen die »bürgerlichen« Radikalen gewappnet zu sein.

Sie haben sich also vom »afrikanischen Sozialismus« abgegrenzt, der offiziellen Staatsideologie Tansanias?

Genau. Vor der Universität war ich ein reiner Nationalist, sehr begeistert von Ujamaa, dem afrikanischen Sozialismus des Präsidenten Julius Nyerere. Als ich anfing, Marx und marxistische Literatur zu lesen, stellte ich fest, dass diese Form von Sozialismus Unsinn war und Ähnlichkeiten mit den Ideen von Robert Owen und anderen im 19. Jahrhundert in England hatte, die Engels als »utopischen Sozialismus« bezeichnete. Das war für mich der Bruch mit Nyerere, denn er hatte kein wissenschaftliches Verständnis von Kapitalismus, Unterdrückung und Ausbeutung.

Ist Marxismus an den Universitäten immer noch populär?

Nein, das ist vorbei. Es gibt nur noch ganz wenige marxistische Dozierende. Ich finde, die Studierenden von heute wollen nicht über Marxismus diskutieren oder sich als Marxist*innen identifizieren, weil sie vielleicht kein Stipendium bekommen, wenn sie sich positionieren.

Viele selbst ernannte marxistische Denker*innen meinen, der klassische Marxismus sei von Haus aus eurozentristisch. Er biete hilfreiche Einsichten, aber kein hinreichendes Verständnis der sozialen und ökonomischen Entwicklungen der nichtwestlichen Welt. Stimmen Sie dem zu?

Dem widerspreche ich nachdrücklich. Wer behauptet, der Marxismus könne in Afrika nicht funktionieren, liegt ganz falsch. Ich denke, es handelt sich um ein zu einfaches, ein falsches Verständnis von Marx und Marxismus. Ich würde eher Folgendes sagen: Der Marxismus ist wissenschaftlich; noch wichtiger ist aber, dass er eine wissenschaftliche Philosophie darstellt, die sich von der liberalen Philosophie wesentlich unterscheidet. Es ist nicht neu, dass der Marxismus falsch verstanden wird. Das dient zur Verwirrung vor allem der jungen Köpfe und derjenigen, die nicht verstehen, was in Afrika vor sich geht.

Heute ist Afrika ein Produkt des Kolonialismus. Und Kolonialismus ist ein Produkt des Kapitalismus. Wir können die afrikanischen Verhältnisse nur verstehen, wenn wir den Kapitalismus und seine Verankerung in diesen Verhältnissen verstehen. Und wir können den inneren Kern des Kapitals nur mittels des Marxismus verstehen. Der Marxismus hilft uns, die unterhalb der Oberfläche verborgenen Prozesse zu begreifen. Wir nutzen ihn auch in Tansania, um unsere soziale Lage besser zu analysieren und zu verstehen.

Wie würden Sie die tansanische Gesellschaft heute in marxistischen Begriffen beschreiben?

Wir bezeichnen Tansania als eine neokoloniale Gesellschaft. Tansania wurde im Wesentlichen in zwei oder drei Phasen kolonisiert, angefangen mit dem deutschen, gefolgt vom britischen Kolonialismus. Nach der Unabhängigkeit begann der Neokolonialismus.

Wir sind der Ansicht, dass in den deutschen und britischen Kolonialsystemen koloniale Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen etabliert wurden. Julius Nyerere und das Regime nach ihm haben diese sozioökonomischen Strukturen nur kopiert und angepasst. Sie wurden nie aufgegeben oder umgestoßen. Wir haben sie also immer noch.

Unseres Erachtens besteht die Grundfunktion einer jeden Kolonie darin, den Wohlstand in die imperialistischen Länder Westeuropas, aber auch Asiens und Nordamerikas zu transferieren. Nyerere hat zumindest versucht, diese Strukturen zu verstehen und sie auf seine Weise zu verändern. Er setzte aber die merkwürdige Methode des »utopischen Sozialismus« ein, wie wir es nennen würden. Daher konnte er diese Strukturen nicht umwandeln und ist gescheitert. Und darum konnte sich in Tansania eine neue kapitalistische Klasse etablieren.

Diese Klasse herrscht bis heute, allerdings in einer nachgeordneten Position. Sie ist den Interessen der imperialistischen Mächte Europas, Amerikas und Asiens unterworfen.

Was bedeutet das für die sozialistische Strategie in Tansania? Wie können sich Marxist*innen unter diesen Umständen politisch engagieren?

Meiner Meinung nach müssen wir akzeptieren, dass Tansania ein neokoloniales Land ist, mit ganz anderen ökonomischen Perspektiven als Europa, Asien oder Amerika. Wir haben eine kleine Gruppe Kapitalist*innen und sehr, sehr viele Kleinbäuer*innen. Es gibt einen kleinen Industriesektor, eine kleine Arbeiterklasse und viele Arbeitslose. Diese gesellschaftlichen Klassen sind die größte Mobilisierungsquelle, nicht Leute wie Sie und ich. Unsere Rolle besteht darin, dieses besondere Wissen, den Marxismus, in ihre Köpfe zu bringen, damit sie ihre eigenen Methoden entwickeln können, um gegen Unterdrückung und Ausbeutung zu kämpfen.

Gibt es viel marxistische Literatur in Kiswahili?

Nein, ich würde sogar sagen, es gibt gar keine, bis auf einige wenige Texte, die von Aktivist*innen aus dem Englischen übersetzt wurden. Aber selbst englischsprachige marxistische Bücher sind in Tansania sehr schwer zu bekommen. Selbst einige der Bücher von Professor Shivji, der in Tansania lebt, sind in den hiesigen Buchläden nicht verfügbar.

Es braucht also mehr sozialistische Literatur im Land.

Genau. Die wenigen Marxist*innen lassen sich an zwei Händen abzählen und sind sehr alt. Ein paar Junge tauchen gerade auf, aber sie stehen vor vielen Problemen. Da ist etwa der ökonomische Druck, der die gleichzeitige akademische und politische Arbeit erschwert. Das Tempo des Lernens und Veröffentlichens ist immer noch recht gering.

Momentan entsteht eine Gruppe junger Menschen, die fragen, warum die Arbeitslosigkeit steigt, warum es derart ausgeprägte ökonomische Ungleichheiten gibt. Deshalb bin ich optimistisch, dass in vielleicht zehn Jahren viele junge Menschen marxistisch eingestellt sein werden.

Sie arbeiten eng mit dem Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Daressalam zusammen. Wie wirkt sich die Präsenz der Stiftung auf die Region aus?

Die Stiftung bewirkt viel. Sie hat Programme gefördert, damit wir in die Dörfer fahren und mit den Arbeiter*innen sprechen konnten. Sie hat auch viele unserer Publikationen gefördert. Andere Organisationen arbeiten seit kurzem nicht mehr mit uns, weil sie politische Repressalien fürchten, aber die Rosa-Luxemburg-Stiftung steht immer an unserer Seite. Es ist großartig.

Sie haben den ersten Band des »Kapitals« übersetzt. Gibt es Pläne für die anderen beiden Bände?

Ich will zumindest noch Band zwei übersetzen. Aktuell arbeite ich an Kapitel zwölf und habe 250 Seiten geschafft. Nach Band drei kann ich glücklich sterben. Das ist im Grunde mein Plan.

Wichtiger ist aber, dass ich nach der Veröffentlichung von Band eins einen marxistischen Kurs mit meinen besten Studierenden starten möchte. Da können wir »Das Kapital« Abschnitt für Abschnitt in Kiswahili lesen und darüber diskutieren.

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