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Der sophistische Rebell
Von der Studentenrevolte über die RAF zur marxistischen Theorie: Wolfgang Pohrts Schriften lesen sich heute wie aus einer anderen Welt. Sie sind inzwischen in einer bis auf den Briefband abgeschlossenen Werkausgabe neuaufgelegt worden - ein kursorischer Überblick
Da nun mit der alten Welt gründlich aufgeräumt wird und viele eben noch beinahe zeitgeschichtliche Ereignisse in die Vorvergangenheit rücken, soll hier jemand vorgestellt werden, der ein für westdeutsche Verhältnisse klassischer politischer Protagonist der nun untergehenden Epoche war: Wolfgang Pohrt. Dessen Werke wurden von Klaus Bittermann vollständig gesammelt und in einer Ausgabe bei Edition Tiamat veröffentlicht, die nun abgeschlossen ist, wenn man von den überlieferten Briefen einmal absieht, die bald ausgeliefert werden - ebenso eine von dem Verleger verfasste Biografie.
Aktiv wurde Wolfgang Pohrt im Rahmen der revolutionären Studentenerhebung 1967 bis 1969 im Umfeld der Frankfurter Sektion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Er musste und durfte Krahl zuhören. Neben den Kilometern, die bei Demonstrationen abgelaufen wurden, mit denen nach Eigenaussage »wenig zu Spaßen war«, hat Pohrt meterweise Literatur verschlungen. Und dabei Kette geraucht. In Folge wurde dann weniger demonstriert, als vielmehr dissertiert. So auch Pohrt, der ein sehr gebildeter Marxist wurde. Etwa das letzte, was er wollte. Den Marsch durch die Institutionen brach er folgerichtig ab oder trat ihn nie so recht an, auch das war damals üblich. Statt an der Uni hat er sich dann als Feuilletonist betätigt und eine Menge Essays und Vorträge geschrieben. Später sogar ganze Bücher, etwa eines über Balzac. Unmittelbaren Einfluss hatten diese Schriften wenig, wenn es auch in jeder neuen Generation einige Liebhaber gab und gibt - Eckard Henscheid etwa oder Dietmar Dath.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Als Kind der ’68er begleitete Pohrt die langgezogene Auflösung seiner Bewegung. Man kann alle seine Einwürfe aus der Zeit der alten BRD heute noch gut lesen, im Grunde dürfte es kaum eine bessere Quelle geben. Zumindest ist für jeden Linken etwas dabei, über das er sich ärgern oder freuen kann. Die Theoretiker können die »Theorie des Gebrauchswerts« lesen und rätseln, was da über die Wertform steht. Eventuell finden sie etwas, das hilft zu verstehen, warum es zu keiner Zusammenbruchskrise kommt, obwohl die Zeit dafür immer wieder reif erschien. Die Praktiker können lachen und darauf verweisen, daß er sich von diesem Geschwurbel später latent distanziert hat, weil dieser Dissertation »die Herkunft aus dem Wissenschaftsbetrieb anzumerken ist, gegen den sie sich sträubt.« Sie können dafür die Essays über die Rote Armee Fraktion (RAF) lesen: »Der Fehler der RAF war weder die Anwendung von Gewalt noch waren es Kriminaldelikte, sondern ihr Fehler war die Niederlage im antiimperialistischen Kampf.« Oder beide Fraktionen ärgern sich über die unermüdliche Zurückweisung der Pseudopraxis wie der Pseudotheorie, kulminierend in seiner Kritik an der Friedensbewegung, die dann von den Revolutionären Zellen in einem Anschlagsschreiben zitiert wurde. Ohne weiteren Kommentar, als Teil des Textes, von dem sich Pohrts Sätze nicht einmal abhoben.
Polemische Texte in unruhigen Zeiten
Dann kam der Untergang der Sowjetunion und Pohrts publizistische Tätigkeit steigerte sich. Er war er mittlerweile Hofpropagandist der Zeitschrift »Konkret« geworden und selbst ein linker Millionär gab ihm ein Stipendium. Der große Einheitstaumel, ein Revival der Friedensbewegung, dann Pogrome, Rot-Grün, ein Angriffskrieg gegen Jugoslawien und dazu eine alternde Bevölkerung. Pohrt müht sich ab, seinen schwankenden Gegenstand zu greifen und gleichzeitig anzugreifen. Man kann sich darüber wundern, dass er erst den imperialen Feldzug der USA gegen den Irak begrüßte, um diese Position Jahre später im Gespräch mit Jürgen Elsässer wieder zu verwerfen: »Stellen wir uns doch mal vor ein Terrorkommando habe das Kunststück fertig gebracht, einen dieser ekelhaften amerikanischen Flugzeugträger zu versenken. Jeder verstünde das.« Bei Pohrt geht es zusammen. Immer unzufrieden war er ein Agent der Unzufriedenheit. Stets dialektisch hatte er beide Seiten im Kopf. Seine eigene Position - nach eigener Angabe war er ein Kleinbürger - ist immer extremistisch und scheint ins Gegenteil zu wechseln, wann immer er will. Pohrt war unter den Schülern der kritischen Theorie der größte Sophist und ehrlichste Rebell. Negative Dialektik nannte man das einst.
In dieser Zeit ließ Pohrt auch sein vielleicht wichtigstes Buch bei Edition Tiamat verlegen: »Brothers in Crime. Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit«. Es kommt ohne jeden linken Pappkamerad aus und ist im Grunde eine konsistente Weiterschreibung seiner esoterischen, aber guten ökonomischen Analyse aus der »Theorie des Gebrauchswerts«. Das Kapital hat die Menschen zusammengebracht. Aber sie wurden eben nur durch das Kapital zusammengebracht und sind einer tatsächlichen Vereinigung gar nicht fähig. »Es scheint die Kraft zu fehlen, welche nötig ist, wenn man die einzelnen fürs Kollektiv begeistern will. Tendenziell kämpft jeder nur für sich.« Ein wenig wie im gegenwärtigen Kampf gegen das Virus: Ein allgemeiner Marschbefehl, ohne die geringsten Anzeichen von Marsch. Statt an die Front wurde die Jugend in den Hausarrest geschickt. Statt sie zum heldenhaften Kampf zur Rettung der Alten einzuziehen - die sich immer gefreut hätten, wenn ihnen jemand etwas Gesellschaft leistet, ihnen vorliest oder sie gar etwas pflegt - langweilten sie sich hinter ihren Devices und legten Speck an. Die Alten hat man dabei einfach verwelken lassen, der Eintritt in die Altenverwahranstalten war sogar verwehrt. Besucht hat sie schon davor keiner. Pohrt hätte eine gewisse morbide Leidenschaft für solche Sottisen der Gegenwart gehabt. Seine Zeit ist um, aber liest man jetzt dieses 1997 erschienene Buch, kommt man auch unserer Zeit etwas näher.
Rückzug und Comeback
Ab Ende der 1990er Jahre zog sich Pohrt eine Weile zurück. Für »Konkret« gab er noch einige Selbstinterviews. Einige Linke hat er noch 2003 mehr en passant vor den Kopf gestoßen, indem er einen Vortrag im Tempodrom hielt. Bei dieser für damalige Verhältnisse lebendigen Veranstaltung war man enttäuscht und es wurde sich ein wenig erregt. Ein Schneeflöckchen schrieb: »Wie die Meute Wolfgang Pohrt erlegte«. Pohrts Kommentar: »Unter Meute stelle ich mir Hunde bei einer Fuchsjagd vor. Sie rennen, sie hecheln, der Speichel tropft ihnen aus dem Maul, sie blecken die Zähne und haben gierige Augen. Mit einem Wort: Tiere sind lebendig, das konnte man von Leuten im Saal am wenigsten behaupten.« Tatsächlich war das frühvergreiste Publikum im wesentlichen davon angepisst, dass Pohrt ihnen vorrechnete, dass so ein Altersheim wie Deutschland keinen Faschismus mehr macht.
Dann kamen 2003 Hartz IV und 2008 die Finanzkrise. Die Illusion des ewigen Friedens und Wohlstandes verging, Pohrt blieb still. 2012 endlich erschien eine ganz positivistische Darstellung der Ohnmacht von Salonkommunisten, wie er selbst einer war: »Kritik am Kapitalismus ist, wie wenn eine Maus dem Elefanten auf den Fuß tritt. Der Maus mag es Befriedigung verschaffen, sie kann vor anderen Mäusen damit angeben, der Elefant merkt nichts davon«. Entsprechend erscheint unser ungeliebtes ökonomisches System ebenso positivistisch als gesellschaftliche Natur: »Kapitalismus forever«. Bei einem der wenigen Vorträge nach diesem Buch ziehen ihn die anderen Mäuse des Verrats: »Heute hält Pohrt es mit dem Sieger der Geschichte« hieß es unisono. Da Kapitalismuskritik ihr Hobby war, hätten sie von Pohrt warme Worte gebracht. Aber Pohrt war von Dutschke agitiert, von Guevara begeistert. Marx kam wie bei anderen erst, als es mit der wirklichen Bewegung vorbei war. Auf die Praxis käme es an: »Die Finanzkrise war für uns ein Offenbarungseid. Wenn alle gegen den Sozialismus sind, bin ich dafür. Dafür sein reicht. Aber wenn die Leute ermunternd nicken, müsste ich ihn machen.« - »Es bestätigt sich abermals: Wenn die Klasse, die wir die herrschende nennen, durchhängt, tun wir es auch, nur noch mehr. Wir brechen förmlich zusammen, wenn wir wegen einer Krise oder sonst was unter Handlungsdruck geraten. Wir sind ratlos und so hilflos wie die Massen, die in der Depression nicht revolutionär werden, sonder depressiv.« Die Worte verklangen, noch ein letztes Buch über »die Menschheit als Amöbe« erschien 2013: »Das allerletzte Gefecht«. Einige Jahre blieben ihm noch. Nur wenige kamen zu seinem Begräbnis am 8. Februar 2019 in Stuttgart, als seine Asche neben den Überbleibseln seiner Frau begraben wurde.
Die Werkausgabe von Wolfgang Pohrt erscheint bei Edition Tiamat. Bis auf den letzten elften Band mit Briefen sind nun alle Bände mit seinen Schriften erschienen. Dieser Tage erscheint außerdem eine von Klaus Bittermann verfasste Biografie.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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