Werbung

Die erste Ministerin

Kommunistin, Häretikerin und Feministin: Vor 150 Jahren wurde Alexandra Kollontai geboren

  • Elfriede Müller
  • Lesedauer: 7 Min.
Ministerin Alexandra Kollontai in ihrem Haus in Moskau 1946. Auf dem Bücherregal hinter ihr steht ein Porträt der Ministerin des republikanischen Spaniens, Isabel de Palencia, der Autorin ihrer Biografie.
Ministerin Alexandra Kollontai in ihrem Haus in Moskau 1946. Auf dem Bücherregal hinter ihr steht ein Porträt der Ministerin des republikanischen Spaniens, Isabel de Palencia, der Autorin ihrer Biografie.

Alexandra Kollontai war sowohl ein Kind ihrer Zeit als auch dieser weit voraus. Sie nahm führend an der Russischen Revolution teil und gestaltete bis 1921 die Frauenpolitik der Bolschewiki. Sie war eine häretische Kommunistin und Mitbegründerin der ersten ernst zu nehmenden Opposition innerhalb der Bolschewiki, der »Arbeiteropposition«. Nach deren Scheitern im Kampf für mehr Demokratie in den Betrieben und gegen die entstehende Staatsbürokratie wurde sie zum diplomatischen Dienst ins Ausland beordert. Als sie in Moskau mit 79 Jahren starb, war sie neben Stalin die einzige Überlebende der Säuberungen aus der ersten Sowjetregierung.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

In der Sowjetunion hatten ihre revolutionären Entwürfe für die »Neue Frau« nach Lenins Tod 1924 keine Rolle mehr gespielt. Sie kämpfte für die ökonomische und sexuelle Befreiung gleichermaßen. Kollontai beanspruchte, dass Frauen - vor allem die arbeitenden Frauen - zum Kollektivsubjekt der Emanzipation werden, dass der Kampf der Geschlechter Teil des Klassenkampfs wird. Wie später die 68er-Bewegung politisierte sie das Alltagsleben und stellte es ins Zentrum ihrer Kapitalismuskritik.

Dass das Private politisch ist und einen Schlüssel zur Befreiung darstellt, hatte Kollontai schon 1890 erkannt, als sie sich der marxistischen Untergrundbewegung in St. Petersburg anschloss, wo sie am 19. März 1872 als Tochter einer Finnin und eines ukrainisch-russischen Generals geboren wurde.

Ausgehend von den Analysen von Marx und Engels zur Familie und von August Bebels »Die Frau und der Sozialismus« lehnt sie die Heirat ab, weil diese die Frauen aus jeder Klasse unterdrückt. Der Sozialismus sollte Frauen endlich von ihrer Doppelbelastung von Lohn- und Hausarbeit befreien, damit sie die Gesellschaft gestalten können. Sie lässt sich von ihrem ersten Mann scheiden und ihren Sohn Mikhail beim Vater, um 1898 Sozialwissenschaften in Zürich zu studieren - im einzigen Land, in dem Frauen zu dieser Zeit ein Studium aufnehmen konnten.

Die russische Revolution von 1905 ist für Kollontai wie für viele andere der Beginn eines neuen Lebens. Sie schult Arbeiterinnen in Marxismus, schreibt viele Artikel und ermuntert Frauen, das Wort zu ergreifen und die Doppelmoral der patriarchalen Familie anzugreifen. 1908 muss sie aus Russland fliehen und zieht für neun Jahre nach Berlin, wo sie sich mit der Psychoanalyse vertraut macht. Ihr Ziel wird es, vom Schreiben zu leben, um sich ganz der Politik widmen zu können, beeinflusst von Georgi Plechanow und Rosa Luxemburg.

Im April 1917 kehrt sie nach Russland zurück, bricht im Juli mit den Menschewiki wegen deren Haltung zum Krieg und schließt sich den Bolschewiki an. In Lenins erster Regierung wird sie als Volkskommissarin für soziale Fürsorge die einzige Frau und damit die erste Ministerin der Welt. Sie steht an der Spitze des 1919 von der Kommunistischen Partei eingerichteten Zhenotdel, des weiblichen ZK, das dafür sorgen soll, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Frauen zu verbessern. Russland ist das erste Land der Welt, das 1920 die Abtreibung legalisiert. 1930 wird das Zhenotdel mit der Begründung abgeschafft, dass alle Frauenprobleme in der Sowjetunion durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel »gelöst« worden seien.

Als Stalin 1922 Generalsekretär wird, ist lexandra Kollontai eine der ersten Oppositionellen, die in den diplomatischen Dienst ins Ausland geschickt werden. 1923 wird sie Botschafterin in Norwegen, wiederum als erste Frau der Welt. Doch es ist ein Rückzug. Sie wird 23 Jahre lang im Ausland verbringen, als Gesandte in Mexiko, Schweden, Finnland, und viele ihrer früheren Pläne und Ideale hinter sich lassen.

Kollontais Emanzipationsbegriff stellt die patriarchalischen Familienstrukturen grundsätzlich infrage. Die Frau müsse materiell vom Mann unabhängig sein und von den mit der Mutterschaft verbundenen Rollenpflichten entbunden werden. 1909 veröffentlicht sie »Die sozialen Grundlagen der Frauenfrage« und 1916 »Die Gesellschaft und die Mutterschaft«. Beide Werke erregen viel Aufmerksamkeit, aber nur bedingt Begeisterung innerhalb der Sozialdemokratie. Weder die Sozialdemokratin Lily Braun noch die Revolutionärin Wera Sassulitsch unterstützen Kollontai in ihren Forderungen, allein in Clara Zetkin findet sie eine Verbündete.

In »Die neue Moral und die Arbeiterklasse«, 1918 geschrieben, verdeutlicht sie ihre Ideen zur Sexualität: Die Gesellschaft sollte alle Formen der Verbindung zwischen Geschlechtern anerkennen. Ihr Ideal war die »sukzessive Monogamie«, als freie, nicht eheliche Verbindung. Damit Frauen nicht zu Opfern dieser »freien Liebe« werden, sollen sie während ihrer Schwangerschaften gesellschaftlich unterstützt und auf berufliche Tätigkeiten vorbereitet werden.

Erotische Erfahrungen ermöglichen neue Formen von Freundschaft und Liebe. Erst durch sie lernen die Partner*innen sich als Individuen zu sehen, die Vertrauen und Respekt verdienen, anstatt als Eigentum betrachtet und enttäuscht zu werden. Die kommunistische Gesellschaft, so Kollontai, werde eine neue Form der Liebe erleben. Denn erst die Liebe in mannigfaltigen Formen kann helfen, das neue Kollektiv zu gründen, das sich aus glücklichen Individuen zusammensetzen muss, sonst ist es für Kollontai eine Totgeburt.

Die »Trennung von Küche und Heirat« war für sie so bedeutend wie die von Kirche und Staat. Eine ihrer großen Sorgen war die Prostitution, die ihrer Ansicht nach so lange existieren wird, bis die Frauen komplette ökonomische Unabhängigkeit erlangt haben.

Die Freundschaft, von ihr als »Kameradschaftlichkeit« bezeichnet, ist für sie die höchste Beziehungsform überhaupt. Kindererziehung und Haushalt wollte sie vergesellschaften - Erziehung und Hausarbeit sollten von der Gesellschaft und ihren neuen Institutionen übernommen werden. Einen Monat nach der Oktoberrevolution von 1917 wurde Homosexualität entkriminalisiert. Viele von Kollontais Schriften über kameradschaftliche Liebe können auch so interpretiert werden, dass sie sich nicht nur auf das Verhältnis von Frauen und Männern, sondern auf alle geschlechtlichen Möglichkeiten beziehen.

Sie propagierte solidarische Alltagsbeziehungen als unentbehrlich für den sozialistischen Aufbau. Diese Beziehungsformen waren für sie so wichtig wie der neue Mutterschutz und das Eherecht von 1926, das einen Ehevertrag einführte. Der von ihr so genannte »geflügelte Eros« bedeutete eine Kulturrevolution der Beziehungen und sollte zu neuen Beziehungsformen in den Reihen der Jugendorganisation Komsomol ermutigen. Frauenkommunen, getrennte Wohnungen von Paaren, Jugendkommunen waren einige der diskutieren Vorschläge. Allerdings besteht auch für Kollontai die Angst, dass Liebespaare sich von Gesellschaft und Arbeitskollektiv isolieren. Deshalb schlägt sie die Auflösung der Privatheit vor. Was das genau bedeuten soll, bleibt unscharf.

Kollontais eigene Liebesgeschichten verlaufen oft stürmisch, voller unrealisierbarer Erwartungen, Eifersucht, Missverständnissen und von endlosen Trennungen geprägt. »Wie viel kostbare Zeit wir für unsere Liebestragödien und ihre Komplikationen verschwenden!«, schreibt sie. Eine gleichberechtigte Liebe und Freundschaft verbindet sie mit Alexander Schljapnikow, einem Fabrikarbeiter und engen Freund Lenins, der elf Jahre jünger ist als sie. Den 17 Jahre jüngeren Pavel Dybenko, Sohn ukrainischer Tagelöhner, Matrose der baltischen Flotte und später ihr Kommandant als Volkskommissar der Marine, heiratet sie, doch sie fühlt sich in dieser Ehe wie in einem Gefängnis.

Mit Schljapnikow führte sie die Arbeiteropposition an, die beim Parteitag 1921 mit den anderen Fraktionen verboten wird. 1922 wird sie als Direktorin des Zhenotdel entlassen. Mit 50 Jahren, ihr Prestige in der Partei ist auf dem Tiefpunkt, begreift sie, dass ihre Liebe zu Dybenko definitiv vorbei ist. Nachdem sie ihm das mitgeteilt hat, unternimmt er einen Selbstmordversuch. Sie pflegt ihn gesund, schreibt ihre »Briefe an die jungen Arbeiter« und verlässt ihn.

Mit der Partei hält sie es anders: Trotz all ihrer Kritik, ist sie nicht in der Lage, diese zu verlassen, trotz der repressiver werdenden Sexualmoral im Stalinismus. 1931 wird Homosexualität rekriminalisiert, 1936 das Scheidungsrecht eingeschränkt und das Abtreibungsverbot für Erstschwangerschaften wieder eingeführt. Nach den ersten Schauprozessen tritt Kollontai aus Protest für mehrere Monate von ihrer diplomatischen Arbeit zurück. Ihre Antwort auf den Terror ist Schweigen.

1937 kommt Schljapnikow unter ungeklärten Umständen zu Tode, 1938 wird Dybenko erschossen. Sie darf weiterarbeiten, erleidet Herzinfarkte und Schlaganfälle. 1945 kehrt sie nach Moskau zurück. Mit ihrer Freundin Ema, die für die letzten sieben Jahre ihre Krankenschwester und Sekretärin sein wird, zieht sie in eine bescheidene Zweizimmerwohnung, wo sie 1952, wenige Tage vor ihrem 80. Geburtstag stirbt. Es gibt keine staatliche Beerdigung, nur in der »Iswestija« erscheint eine kleine Anzeige ihrer Freundinnen.

Die Probleme einer neuen Sexualmoral waren für Kollontai grundlegende Probleme der Revolution, die sich in jeder neuen Zeit wieder stellen. Denn eine Revolution muss sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche erstrecken. Es gibt keine Nebenwidersprüche im Alltagsleben.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Dazu passende Podcast-Folgen:

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.