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Ein Pakt auf Zeit
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Leipziger Universität zu einem Sammelpunkt für sozialistische Intellektuelle. Sie machten die Hochschule in den 50er Jahren über die Grenzen der jungen DDR hinaus berühmt
»Nein, sie haben mich nicht gereut, meine 15 Leipziger Jahre vom Oktober 1948 bis zum August 1963. Sie konnten dem gewidmet sein, was ich wahrhaft wollte: dem Lehren und dem Schreiben. (…) Man hat mich nicht verjagt aus Leipzig und der Universität. Ich ging fort, als es nicht mehr weiterging.« So beginnt der Literaturwissenschaftler und -kritiker Hans Mayer den zweiten Band seiner 1987 im Suhrkamp-Verlag erschienenen Erinnerungen »Ein Deutscher auf Widerruf«.
Hans Mayer (1907-2001) gehörte zu den Schriftstellern, Intellektuellen und Hochschullehrern, die, nachdem sie von den Nationalsozialisten eingesperrt oder ins Exil getrieben worden waren, im beginnenden Kalten Krieg die junge DDR der restaurativen Bundesrepublik als Wirkungsstätte vorzogen. Zu einem besonders interessanten intellektuellen Ort sozialistischer Wissenschaftler wurde dabei die Leipziger Universität. Für eine kurze Zeit schien ein breites antifaschistisch-demokratisches, sozialistische wie bürgerliche Intellektuelle umfassendes Bündnis tatsächlich möglich. Dieses Experiment scheiterte erst mit dem eskalierenden Kalten Krieg und den Reaktionen der SED-Parteiführung auf den XX. Parteitag und die Aufstände in Ungarn und Polen 1956. Doch Leipzig blieb in der DDR ein Erinnerungsort kritisch-sozialistischer Intellektueller, offiziell damals ebenso beschwiegen wie heute vergessen.
Prägende Konstellation
Es waren insbesondere vier Hochschullehrer unterschiedlicher Disziplinen, die mit ihren Persönlichkeiten und ihrer Lehre über die Leipziger Universität hinaus eine Generation von Wissenschaftlern, aber auch Schriftstellern der DDR prägten. Neben Mayer, als parteiloser Kommunist, Jude und Homosexueller in mehrfacher Hinsicht Außenseiter, kam aus dem Exil auch der Philosoph Ernst Bloch. Für Leipzig entschieden sich auch der Historiker und Revolutionsspezialist Walter Markov sowie der Romanist und Aufklärungsforscher Werner Krauss, die beide ihre akademische Ausbildung und Karriere noch in der Weimarer Republik begannen und ihren antifaschistischen Widerstand - Markov im Zuchthaus, Krauss in der Todeszelle - nur knapp überlebten. Alle vier hatten Enttäuschungen mit dem Westen und der Westzone hinter sich: Krauss lehrte zunächst an der Marburger Universität, Markov wurde an der Bonner Universität als Kommunist abgelehnt, Hans Mayer musste mit dem beginnenden Kalten Krieg beim Hessischen Rundfunk demissionieren, Bloch bewahrte sich nach der Erfahrung der McCarthy-Ära eine gründliche Verachtung der USA, in der er keine Anerkennung gefunden hatte.
Es ist eine Besonderheit der DDR-Geschichte - und das gilt für viele ihrer Befürworter wie ihrer Kritiker -, dass ihre Geschichte meist von ihrem Ende, also von ihrem Scheitern her erzählt wird. Eine repräsentative Geschichte der Leipziger Universität aus jüngerer Zeit ordnet ihre »Leitperspektive« für die Zeit ab 1945 der Diktaturenforschung und der Frage unter, wie die Leipziger Universität von der totalitären Intention ihrer Machthaber »durchherrscht« wurde. Schon diese teleologische Erzählstruktur delegitimiert die Geschichte. Nicht in ihrer Zeit wird sie gesehen, nicht an zeitgenössischen Alternativen, etwa an der Bundesrepublik Adenauers gemessen. Die Geschichtsschreibung droht hier totalitärer zu werden als ihr Gegenstand. Denn in diesen Jahren gab es keinen monolithischen Machtblock, der sich nur durchsetzen musste, sondern verschiedene, im sich zuspitzenden Kalten Krieg auseinander driftende Fraktionen.
Neubeginn nach Kriegsende
1945 waren die meisten Gebäude der einst drittgrößten deutschen Universität durch den Krieg zerstört und das Universitätspersonal durch Kriegsgefallene, Entnazifizierung und Abwanderung in die westlichen Besatzungszonen auf nahezu ein Viertel geschrumpft. Vor den Reichstagswahlen im März 1933 hatten über 100 Professoren der »Alma mater lipsiensis« den Aufruf zur Wahl Hitlers unterzeichnet. Mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« verloren jüdische und politisch missliebige Wissenschaftler ihre Stellen. Die Gleichschaltung der Universität bedurfte kaum administrativer Maßnahmen, die Anpassung erfolgte von innen. Als aber nun 1945 belastete Hochschullehrer durch die Besatzungsmächte entlassen und 1933 von der Universität vertriebene, wie der Philosoph Theodor Litt oder der Sinologe Eduard Erkes, wieder eingesetzt wurden, beriefen sich viele - vordergründig unpolitisch, aber nationalkonservativ - die Weimarer Demokratie ablehnende Ordinarien auf Hochschulautonomie, Zweckungebundenheit und Freiheit der Forschung.
Zur Wiedereröffnung der Universität war Anfang 1946 der Philosoph und Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer Rektor der Universität. Politisch und philosophisch eher konservativ, seit 1939 Direktor des Philosophischen Instituts, galt er als in der Nazizeit politisch unkompromittiert. Wie er während seiner kurzen Rektoratszeit die Weichen für die Besetzung vakanter Lehrstühle stellte, war aber offenbar ein Glücksfall. »Ein wesentlicher Teil meiner Tätigkeit«, so Gadamer in seiner Autobiografie, »bestand darin, in Ost und West und Übersee nach sozialistisch gesinnten Forschern Ausschau zu halten mit denen man die Lücken stopfen konnte, ohne das Niveau zu gefährden.« Seine Gestaltungsspielräume hat Gadamer mit dem zeitweiligen Gleichgewicht verschiedener Kräfte und Fraktionen erklärt. Da waren natürlich die Kulturfunktionäre der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), oft Professoren in Uniform, die zunächst nicht planten, ihr Gesellschaftsmodell auf den Osten zu übertragen, da waren die Ministerien für Hochschulwesen und für Kultur in Berlin, wo Funktionäre nach den Erfahrungen mit den Nazis aufrichtig ein demokratisches Bündnis anstrebten, sowie, später verhängnisvoll, lokale SED-Funktionäre in Leipzig.
Auch das Verhältnis zu den Wissenschaften war bei den neuen Machthabern keineswegs einheitlich: von Marx her gab es bei den einen eine enorme Hochachtung der Wissenschaften, andere hatten antiintellektuelle Affekte oder sahen Wissenschaft und Kultur nur als Funktion im Klassenkampf. Zu den heterogenen Kräften an der Universität gehörten aber auch die alten bürgerlichen Eliten, die sich teils loyal verhielten, sich teils gegen Eingriffe von außen und eine Erneuerung sperrten, viele suchten ihre Chance im Westen. Wie sich fruchtbare kulturelle Konstellationen oft unbeständigen historischen Situationen verdanken, so ergab sich ein Zeitfenster, das der Leipziger Universität in den Bereichen, die man heute Geisteswissenschaften nennt, zur zeitweiligen Blüte verhalf.
Ein Ort für linke Intellektuelle
Gadamer hatte seinen alten Marburger Kollegen Werner Krauss, den er durch ein Gutachten vor dem Strang zu bewahren mithalf, nach Leipzig berufen. Krauss sowie Walter Markov setzten sich dann für den 63 Jahre alten Bloch (1885-1977) als Nachfolger des mittlerweile nach Heidelberg abgewanderten Gadamer ein. Die Mehrheit der Philosophischen Fakultät, die für sich in Anspruch nahm, sich selbst zu erneuern, wehrte sich gegen die Berufung von Mayer und Bloch. Ihnen wurde die, nicht zuletzt dem Exil geschuldete, fehlende Lehrerfahrung vorgeworfen. Den alten Ordinarien galten sie als unakademische Emporkömmlinge.
Neben diesen vier - Gadamer, Krauss, Markov, Bloch - lehrte ein hochkarätiges Spektrum weiterer linker Intellektueller in Leipzig. Viele waren Berühmtheiten noch aus der Weimarer Republik, manche verstarben früh, manche wurden prägend für die DDR: der ehemalige Chefredakteur der »Weltbühne« im Exil Hermann Budzislawski, der von Franz Boas geprägte antikoloniale Ethnologe Julius Lips, der Theologe und religiöse Sozialist Emil Fuchs oder der Gründer des Malik-Verlages Wieland Herzfelde auf dem Lehrstuhl für Soziologie der modernen Weltliteratur. Gleichzeitig mit Bloch wurde auch Herbert Marcuse nach Leipzig gebeten, der sich aber nicht vorstellen konnte, an eine deutsche Universität zurückzukehren. Wenn ein anderer aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung, Henryk Großmann, eine Professur für Politische Ökonomie annahm oder Wolfgang Abendroth Gastdozent war, dann spielte offenbar die Unterscheidung zwischen Ost- und Westmarxismus noch keine große Rolle; auch Hans Mayer war wesentlich von Georg Lukacs’ Buch »Geschichte und Klassenbewusstsein« (1923) geprägt worden, das in der späteren DDR als Pandorabüchse des Revisionismus galt.
Lange Jahre, von 1950 bis 1964 war Georg Mayer Rektor der Universität und Direktor des Weltwirtschaftsinstituts, einst befreundet mit Arvid Harnack von der »Roten Kapelle«, nach 1945 zunächst für die, von den amerikanischen Besatzern aber boykottierte, Verstaatlichung der Schwerindustrie in Hessen zuständig. Sicher, viele Patriarchen. Aber mit Eva Lips als Leiterin des Instituts für Ethnologie und Käthe Harig als Direktorin des Instituts für Ausländerstudium, später des Herder-Instituts (dem Pendant zu den bundesdeutschen Goethe-Instituten) waren auch früh starke Professorinnen in wichtigen Positionen. Und es gab, was angesichts heutiger Mythen über den Antisemitismus in der DDR gesagt werden muss, unter ihnen überproportional viele jüdischer Herkunft.
Erfahrungen, die nicht nur die üblichen akademischen Qualifikationsstufen umfassten, hatten interessante Lehrer geprägt: rhetorisch brillant, charismatisch, kantig, zugleich sehr ernsthaft. Sicher ein anderer Typus als der geflissentliche und flexible Wissenschaftlertyp mit Managerqualitäten, dessen Forschungsinteresse sich nach Drittmitteln ausrichtet; »ein Lächler« nennt Mayer einmal einen, und man kann ihn sich heute vorstellen. Ihre Lehre war getragen von optimistischer Aufbruchsstimmung, Bloch polemisiert gegen westlichen Nihilismus, mit einem Zug von Jugendbewegung; sie übertrug sich auf die Studenten, die sicher keine Vertreter einer »skeptischen Generation« waren.
Parallel zur Besetzung der vakanten traditionellen Lehrstühle konzentrierten sich SMAD und das Ministerium für Volksbildung auf die Etablierung neuer, die Macht der traditionellen fünf Fakultäten auch unterlaufenden Fakultäten, die vornehmlich Kräfte für den neuen antifaschistisch-demokratischen Staatsapparat ausbilden sollten: die Pädagogische Fakultät für neue Lehrer, die Fakultät für Publizistik und Zeitungswissenschaft, die zur Journalistenschmiede der DDR wurde. Zu den Neugründungen gehörte auch die Arbeiter- und Bauernfakultät, die das bürgerliche Bildungsprivileg brechen sollte. Die, heute würde man sagen: »affirmative action« gegen Klassismus, einschlägig beschrieben in Hermann Kants »Die Aula«, war von den Zahlen her ein Erfolgsprojekt: von 10,3 Prozent 1945 stieg der Anteil an Studenten aus Arbeiterfamilien auf 54 Prozent 1957/58. Doch auch diese »Gegenprivilegierung«, von den alten Bildungsschichten abgelehnt, war nicht selten ungerecht, förderte auch Mittelmaß und politische Anpassung. Umstritten, anfangs durchaus mit fähigen Leuten besetzt war die 1946 durch SMAD-Befehl gegründete Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät, die Absolventen für die neu angestrebte demokratische Verwaltung und Wirtschaft ausbilden sollte. Ihr erster Dekan war der anerkannte Werttheoretiker und Ökonomiehistoriker Fritz Behrens.
Aufarbeitung der Vergangenheit
Hans Mayer hat retrospektiv sein Wirken in Leipzig als einen »Pakt« beschrieben. »Ich wollte bleiben, wer und was ich war und nur Argumenten zustimmen, die mich überzeugten, nichts mit öffentlichem Applaus bedenken, was ich insgeheim missbilligte. Ähnlich dürften es Brecht oder Ernst Bloch verstanden haben. (…) mein Pakt wurde auch von Seiten der späteren DDR als ein gegenseitiger Vertrag verstanden.« Wenn der Goethe- und Faust-Spezialist die Metapher vom Pakt wählt, dann war damit sicher anderes gemeint als nur die passive Freiheit, in Ruhe lehren und publizieren zu können.
Krauss, Mayer, Bloch und Markov gingen von einer kritischen Revision der jüngeren Geschichte ihrer Fächer aus, oft Jahrzehnte bevor deren nazistische Verstrickungen in der Bundesrepublik aufgearbeitet wurden. Für die an Marx geschulte Sicht war 1933 kein Betriebsunfall, keine nur moralische Verfehlung Einzelner. Die Anpassung und Widerstandslosigkeit der Geisteswissenschaften an die faschistische Barbarei hatte inhaltliche und strukturelle Ursachen. Markov sah eine verhängnisvolle Verbindung von Historismus und Preußentum, Krauss analysierte den Verfall der Geistesgeschichte seit Dilthey, wozu er die Reduktion von Subjekten auf ihr passives Verstehen zählte, und stellte ihr eine verschüttete, schon mit Georg Gottfried Gervinus abgebrochene demokratische Geschichtsschreibung entgegen. Keinesfalls jedoch sollte die Wahrheit des Marxismus administrativ durchgesetzt werden. Niemand würde wünschen, so Walter Markov, »den historischen Materialismus für seine Unterdrückung in anderen Teilen Deutschlands durch ein Monopol in der Ostzone zu entschädigen; es sei denn, dass er ihn vorsätzlich durch Inzucht ruinieren möchte.«
Was alle vier als Lehre aus der zwölfjährigen Barbarei gezogen hatten, war ein prinzipiell anderes Verhältnis der Wissenschaft zur gesellschaftlichen Praxis. Ihnen ging es nicht um die Autonomie von Wissenschaft und Universität, nicht um die apolitische Restauration der Wissenschaft, sondern um Mitgestaltung; Konflikte und Widersprüche waren dabei eingeplant. Ohne bürgerliche Freiheiten zu verachten, erschien ihnen die Freiheit im Westen offenbar wie eine Gummizelle, die noch den intellektuellen Aufschrei verschluckt. Aus dem Bewusstsein der moralisch-politischen Verantwortung, so Krauss, wurde die eigene Wissenschaft als Moment eines umfassenden politisch-gesellschaftlichen Prozesses und nicht als Rückzugsort begriffen. Wie ein roter Faden zieht sich die Freiheitsfrage durch Blochs Schriften dieser Zeit. Bloch ging es nicht nur um eine »Freiheit von«, sondern um eine »Freiheit zu etwas«. Ihr Wirken war sicher ein Gemisch aus Loyalität, mutiger Kritik, Partisanentaktik. Mayer machte sich keine Illusionen über die »Unauffälligen« in seinen Vorlesungen. Wenn heute scharf darüber gerichtet wird, ob das nicht möglicherweise mit Zugeständnissen verbunden war, wenn bestenfalls goutiert wird, was gegen die DDR gerichtet war, dann wäre zunächst zu konstatieren, dass für diese linken Wissenschaftler universitäre Lehre in der Westzone jener Zeit gar nicht möglich war; mit offenen Armen wurden sie erst empfangen (und Bloch wurde auch dann noch angefeindet), als sie der DDR den Rücken kehrten.
Es gehört sicher zu den Paradoxien der Geschichte, dass sich im Arbeiter- und Bauernstaat der Habitus des Bildungsbürgers länger als in der bürgerlichen BRD hielt. Gerade die aus dem Westen Gekommenen waren hochprivilegiert, was aber gerade nicht hieß, dass ihre geistige Unabhängigkeit käuflich gewesen wäre. Wäre es nicht die DDR, würde man sagen: Wie schön, wenn ein Staat Leute privilegiert (und natürlich privilegiert jedes System Menschen), die ihm gar keinen ökonomischen Nutzen, sondern vornehmlich Kritik bringen. Dass eine Vorlesung oder ein Buch Gegenstand einer Politbürositzung werden konnte, dass die richtige Lesart von Hegel oder Goethe noch von nationaler und politischer Bedeutung war, mutet aus der Sicht ausdifferenzierter, sich liberal oder gleichgültig gegeneinander verstehender sozialer Systeme paradox, vielleicht sogar rührend an. Gefährlich wurde es allerdings für Intellektuelle, wenn sie direkt politisch intervenierten. Doch nach 1989 blieb es eine Schwäche vieler kritischer DDR-Intellektueller gerade dieser Tradition, dass ihre Kritik vom bildungsbürgerlichen Standpunkt erfolgte, der in der modernen massenmedialen Gesellschaft längst resonanzlos war.
Geistige Anstöße
Viele literarische und wissenschaftliche Ereignisse gingen bis Mitte der 1950er von der DDR aus. Bloch veröffentlichte seine wichtigen Bücher, »Das Prinzip Hoffnung« oder das Hegel-Buch »Subjekt - Objekt«, zunächst hier. Hervorragende Editionen erschienen zuerst im Osten. Die große Thomas-Mann-Ausgabe edierte Mayer bei dem von Walter Janka geleiteten Aufbau-Verlag, Suhrkamp druckte nach. Noch fanden im »Forum«, in der von Bloch, Lukács und Wolfgang Harich herausgegebenen »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« und in »Sinn und Form«, in der 1949 erstmals ein Kapitel von Max Horkheimer und Theodor W. Adornos »Dialektik der Aufklärung« erschien, interessante Debatten statt. Bloch und Mayer veröffentlichten in Ost und West und pendelten mit ihren Vorträgen zwischen den Welten. Das von Krauss geleitete Romanische Institut wurde in den 50er Jahren zum bedeutenden Zentrum für die Erforschung der französischen Aufklärung und der spanischen Literatur des Siglo de Oro. Markovs Forschungen zur Revolution in Frankreich und in den postkolonialen Ländern waren international anerkannt. Blochs Betonung der utopischen Seite im Marxismus, die er an neue, vor allem religiöse Quellen des plebejischen Bewusstseins zurückband, wurde weltweit rezipiert.
In Leipzig wurde ein Ort zum Symbol der intellektuellen Kultur dieser Jahre: der Hörsaal 40. Hier fanden viele der Vorlesungen der Genannten statt, die oft in die Gänge vor der Tür übertragen werden mussten. Und der Hörsaal 40 war ein Ort höchst spannender Diskussion mit Schriftstellern - gleichsam die östliche Variante der Gruppe 47, zu deren »inner circle« auch Hans Mayer gehörte. Ein Ausdruck der Verbindung zwischen Theorie und Praxis war auch, dass Mayer Schriftsteller in den Hörsaal zu Lesungen und Diskussionen holte: von den alten Anna Seghers, Friedrich Wolf und Willi Bredel, aus dem Westen Günter Grass, Ingeborg Bachmann oder Hans Magnus Enzensberger, auch jüngere aus der DDR wie Peter Hacks, seine Schüler Uwe Johnson, Christa Wolf, Hans Joachim Schädlich oder Fritz Rudolf Fries.
Die meisten dieser Veranstaltungen fanden statt, als die Beziehung zwischen Intellektuellen und Macht schon in die Krise gekommen war. Sie folgte nicht unbedingt den Zäsuren, die heute wichtig erscheinen. Wichtiger als der Volksaufstand 1953 war 1956 das vom XX. Parteitag der KPdSU ausgelöste »Tauwetter«, in dem vor allem Intellektuelle die Chance sahen, den Sozialismus zu erneuern. »Genug davon, jetzt muss statt Mühle endlich Schach gespielt werden«, so Bloch, der seine Sympathien nicht mehr verhehlte. Auch wenn er weder direkt zur Gruppe Harich gehörte, die Ulbricht stürzen wollte, noch zum Kreis um Werner Krauss, aus dem sich ein Teil der Leipziger Oppositionellen rekrutierte, wurde Bloch daraufhin gegen seinen Willen emeritiert. Denkt man an einen der treibenden Kräfte, an Rugard Otto Gropp, der schon Leo Kofler aus Halle in den Westen vertrieben hatte und im Versuch, der geraden Linie der Partei treu zu folgen, im Abstand nur eines Jahres eine Festschrift für Bloch und eine Bannschrift zu dessen Revisionismus herausgab, so wird man leider Thomas Manns Wort vom autoritären Volksstaat, wo Dummheit und Frechheit das Maul zu halten hatten, cum grano salis nehmen müssen. Nach dem Bau der Berliner Mauer blieb Bloch im Westen.
Legendärer Hörsaal 40
Für Mayer eskalierte die Situation zwei Jahre später. Nachdem er den gerade in Ungnade gefallenen Peter Hacks nach Leipzig einlud und ihn aus seinem Stück »Die Sorgen und Macht« vorlesen ließ, häuften sich die Angriffe. Als ein von der Leipziger Parteibürokratie lancierter, von einem Studenten verfasster Artikel »Eine Lehrmeinung zu viel« erschien, war der auf freier Lehre und Publikation beruhende »Pakt« mit der jungen DDR für Hans Mayer gebrochen. Seine »Heimkehr in die Fremde« erfolgte 1963, als er nach einem Besuch in Tübingen nicht in die DDR zurückkehrte. Mayer und Bloch wurden keine Renegaten, sie gehörten weiterhin zur Linken in der Bundesrepublik. Krauss und auch Markov, schon früh gemaßregelt und Opfer der Parteireinigung, blieben in der DDR und zogen sich in die Wissenschaft zurück.
Dem Hörsaal 40 hat Mayer literarisch ein Denkmal gesetzt: »Wann immer ich mich befrage nach Augenblicken meines Lebens, wo ich ganz bei mir selbst war, stellt er sich ein: der Blick vom Katheder in den einstigen Hörsaal 40 der Leipziger Universität. Den Raum gibt es nicht mehr; er wurde mit den teilweise noch wohlerhaltenen Resten des Universitätsgebäudes in die Luft gesprengt, mitsamt der benachbarten Paulinerkirche, weil man Platz brauchte für einen Neubau der Karl-Marx-Universität, auf Weltniveau.«
Ernst Müller ist Philosoph. Am Leibniz-Zentrum für Kultur- und Literaturforschung Berlin leitet er das Projekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik in Deutschland«. Er lehrt außerdem an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt ist von ihm zusammen mit Falko Schmieder »Begriffsgeschichte. Zur Einführung« (2020) erschienen. Der Text ist im Zusammenhang mit dem Seminar »Sozialistischer Aufbruch. Leipziger Intellektuelle in den 1950er Jahren« entstanden, das Ernst Müller mit Barbara Picht im vergangenen Semester an der Humboldt-Universität zu Berlin gegeben hat.
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