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»Gefühle sind keine Tatsachen«
Die britische Feministin Laurie Penny im Gespräch über die insbesondere von Women of Color, Queers und trans Frauen angestoßene sexuelle Revolution, die unser Verständnis von Sex, Macht und Widerstand neu bestimmen wird
Die britische Autor*in Laurie Penny hat ein neues Buch geschrieben, das im März auf Deutsch erschienen ist. Im Rahmen der Lesereise treffen wir uns in der Buchmesse-Woche in einer Leipziger Buchhandlung. Pennys Stimme hat wegen der vielen Veranstaltungen versagt. Wir sitzen zwar nebeneinander, führen das Interview aber schriftlich über eine Kommunikationsapp, um ihre Stimme zu schonen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Der erste Satz Ihres Buches »Sexuelle Revolution« lautet: »Dies ist eine Geschichte über die Entscheidung zwischen Feminismus und Faschismus.« Der Kampf gegen den Faschismus steht nicht wirklich im Mittelpunkt des Mainstream-Feminismus, oder?
Es kommt darauf an, was man unter »Mainstream-Feminismus« versteht. Als ich Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre in einem sehr weißen Teil Englands aufwuchs, konzentrierte sich der Feminismus, der mir bewusst war, auf heterosexuelle, weiße Frauen der Mittel- und Oberschicht. Das meinen wir normalerweise mit dem Mainstream.
Ich meine die Art von Feminismus, die Sie in Ihrem Buch »Choice-Feminismus« nennen.
Dieser Feminismus kann in die vorherrschenden Denkstrukturen des neoliberalen Kapitalismus eingebaut werden, ohne das System infrage zu stellen. Dieser Feminismus verlangt nicht, dass sich Männer ändern. Er ist nicht antifaschistisch, weil er nicht die Fähigkeit hat, die autoritären Tendenzen in unseren sozialen Strukturen herauszufordern. Aber trotz der begrenzten Veränderungen, die ein Jahrhundert der Frauenbefreiung mit sich gebracht hat, gibt es eine wachsende Gegenreaktion - und diese Gegenreaktion ist ein großer Teil dessen, was die moderne extreme Rechte antreibt.
Sie verwenden Faschismus und extreme Rechte als Synonyme …
Ja, weil englischsprachige Leser*innen verstehen müssen, dass diese Bewegungen nicht nur in der Geschichte oder in anderen Ländern existieren. Mitglieder rassistischer, religiös-extremistischer Gruppen in Nordamerika und Großbritannien sind sehr stolz darauf, aus Ländern zu stammen, die in den 40er Jahren »die Nazis besiegt« haben - es ist von zentraler Bedeutung für ihre Identität zu glauben, dass sie »die Guten« der Geschichte sind. Aber wenn Sie die Sklaverei oder den britischen Kolonialismus ansprechen, gibt es eine heftige Reaktion. Der Feminismus ist aus den Bewegungen, Sklaverei und Kolonialismus abzuschaffen, hervorgegangen, diese Kämpfe waren schon immer miteinander verbunden.
Glauben Sie, dass die Wahl zwischen Feminismus und Faschismus eine schwere oder eher eine leichte ist?
Es gibt sehr viele Menschen, insbesondere Männer, die einfach nicht mit der Aussicht auf eine Welt umgehen können, in der sie keinen Anspruch auf bestimmte Dienste von Frauen haben - und diese Vorstellung ist für sie noch beängstigender als die Rückkehr des Autoritarismus. Beim Autoritarismus denken viele junge, wütende Männer, die sich wie Helden fühlen wollen, dass sie ihre Rolle darin kennen. Leider würden sie wahrscheinlich diejenigen sein, die die Gewalt ausüben. Aber die meisten Menschen auf der Welt treffen die Wahl zwischen Feminismus und Faschismus, wenn es darauf ankommt, instinktiv. Viele haben sich bereits für eine Seite entschieden. Es ist nämlich Feminismus, wenn Menschen solidarisch zusammenkommen, um Fürsorgegemeinschaften zu bilden und sich der Logik von Gewalt und Zwang zu widersetzen.
Kann man denn einen Menschen, der sich lieber für den Faschismus entscheiden würde, für den Feminismus überzeugen?
Ich werde oft gefragt, wie ich vorhabe, »die andere Seite zu überzeugen«. Das ist nicht der Sinn meines Schreibens. Ich interessiere mich vielmehr für den Akt des Schreibens, das den Menschen erlaubt zu wissen, was sie bereits wissen. Menschen, die einen dunklen und gewalttätigen Weg in der Politik gewählt haben, lassen sich nicht gerne auf ihre Fehler hinweisen. Da nützt es nichts, die Botschaft zu moderieren. Was hilft, ist, deutlich zu machen, dass es möglich ist, sich im Leben zu ändern und anders zu entscheiden - und eine Brücke für die Menschen zu schaffen, über die sie zurück in die Gemeinschaft kehren können. Das bedeutet nicht, angerichteten Schaden zu ignorieren oder Missbrauch zu tolerieren.
Was ist Ihre Definition der politischen Ökonomie des Patriarchats?
Damit versuche ich die Tatsache zu benennen, dass die Ökonomien, in denen wir alle leben, um das vermeintlich männliche Recht auf unbezahlte Arbeit der Frauen herum strukturiert sind. Auf allen Ebenen - individuell und kollektiv. Das Patriarchat ist ein Herrschafts- und Ausbeutungssystem, das Frauenkörper und Frauenarbeit als natürliche Ressource behandelt, die Männer kollektiv und individuell nutzen dürfen - das ist der »Sexualvertrag«, der den Gesellschaftsvertrag der repräsentativen Demokratie des liberalen Marktes stützt.
Warum wird Arbeiten als Tugend angesehen, während es in den meisten Fällen eigentlich Ausbeutung ist?
Innerhalb der moralischen Logik des Kapitalismus ist der menschliche Wert untrennbar mit unserer individuellen Fähigkeit verbunden, in der gewinnorientierten Wirtschaft produktiv zu sein. Ich bin sicher, dass Sie wissen, wie sich das auf individueller Ebene anfühlt. Ich kann tagelang darüber reden und wütend werden, aber ich bin auch ein Millennial und Kind von Einwanderern, und es fällt mir schwer, mich gut zu fühlen, wenn ich nicht »produktiv« bin. Der Mainstream-Feminismus wurde in diese unmenschliche Logik kooptiert, mit der Idee, dass die einzige Art von Freiheit, die von Bedeutung ist, die Freiheit sei, deine Arbeitskraft auf demselben Markt zu verkaufen wie die Männer. Feminismus war aber schon immer mehr als das. Beim Feminismus ging es schon immer darum, den Begriff der Arbeit komplett neu zu denken. Denn so viel Arbeit, die von Frauen erwartet wird, ist lebenswichtig für das Funktionieren unserer Gesellschaften - es ist unentbehrliche Arbeit -, aber sie wird nicht als Arbeit betrachtet, und sie ist unterbezahlt oder unbezahlt, und in der offiziellen Wirtschaft wird ihr kein Platz eingeräumt. Die Idee war schon immer, dass es in der Natur der Frau liege, diese Arbeit zu machen. Aber jetzt, wo immer mehr Frauen und Mädchen sich einfach weigern, überdenken Ökonomen diese Annahmen sehr schnell!
Welche Rolle spielt die weiße Vorherrschaft in der politischen Ökonomie des Patriarchats?
Weiße Vorherrschaft ist mit dem Patriarchat durch eine gemeinsame Logik der Ausbeutung und Dominanz verbunden. Wenn Sie sich die Geschichte des Imperialismus ansehen, haben sich unsere modernen Vorstellungen von Weißsein aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, die Ermordung und Versklavung von Millionen von Menschen durch europäische Kolonisatoren zu erklären und zu entschuldigen. Mythen über das Geschlecht waren schon immer Teil dieser Vorstellung von Weißsein. Mythen über Schwarze, braune und kolonisierte Männer als sexuelle Bedrohung für weiße und kolonisierende Frauen werden seit Langem verwendet, um gewaltsame Unterdrückung zu rechtfertigen. Diese rassistischen Mythen sind bis heute präsent. Wir sehen zum Beispiel in Europa die Angstmacherei um Einwanderer*innen und Flüchtlinge als einzigartige Bedrohung für weiße Frauen - obwohl sexuelle Gewalt nicht von »Außenstehenden« ausgeht. Der größte Teil des Missbrauchs von Frauen und Kindern findet zu Hause in der eigenen Familie statt.
Sie schreiben, dass die Arbeit der Fürsorge noch nie so wesentlich war wie jetzt. Warum ist das so?
Weil die menschliche Spezies mit der Aussicht auf unerbittliche, endlose, miteinander verbundene Krisen in einem Ausmaß konfrontiert ist, auf das die meisten unserer Volkswirtschaften einfach nicht vorbereitet sind. Dies geschieht in der Zeit, in der die Unterstützungsstrukturen der Sozialdemokratie und des Wohlfahrtsstaates in vielen Ländern bereits fast zunichtegemacht worden sind, einschließlich meines eigenen. Großbritannien versucht mit den Auswirkungen einer Pandemie, den wirtschaftlichen Folgen des Brexit und jetzt denen des Krieges in Europa nach 13 Jahren aufgezwungener Sparmaßnahmen gleichzeitig umzugehen. Viele Menschen und Familien sind verzweifelt und verschuldet. Die Covid-Pandemie hat uns gelehrt, dass die Arbeit, die die Gesellschaft zusammenhält, weniger die Arbeit der »produktiven« Wirtschaft ist, die Dinge herstellt. Sondern es ist das, was David Graeber den »Basiskommunismus« nennt, der den Kapitalismus zusammenhält. Dieser Kommunismus ist die Fürsorgearbeit, die historisch gesehen von Frauen und von Niedriglohnarbeiter*innen geleistet wurde und wird. Daher ist Antikapitalismus für mich von Natur aus feministisch.
Sie prognostizieren, dass das weiße kapitalistische Patriarchat zusammenbrechen wird. Wie können Sie sich so sicher sein?
Haben Sie in letzter Zeit die Nachrichten gesehen? Es bricht bereits zusammen. Die Frage ist, wie lange es dauern wird und wie viele von uns in den Trümmern begraben werden. Wir sprechen jetzt von der dritten Woche von Putins Eroberungskrieg in der Ukraine - einem Krieg, den Russland derzeit verliert. Putin rechnete mit einem schnellen und einfachen Sieg. Und wie die meisten Tyrannen hat er keinen Plan, wie er mit seinen Misserfolgen umgehen soll. Deshalb haben so viele Militärexperten auf der ganzen Welt Angst - weil es klar ist, dass Putin die Ukraine lieber zerstören würde, als eine Niederlage hinzunehmen. Autokraten und Rassisten sind am gefährlichsten, wenn sie verlieren. Das weiße, rassistische Patriarchat ist derzeit gewalttätiger, instabiler und unberechenbarer als je zuvor, weil es verliert. Und weil es eine Zukunft aufgebaut hat, die einfach nicht mit Geschrei oder Schießerei zu reparieren ist.
Welche Parallelen gibt es zwischen der Vergewaltigungskultur, dem Kapitalismus und der Arbeit?
Insbesondere Heterosexualität ist ein feindseliges Arbeitsumfeld für Frauen und queere Menschen. Was die Vergewaltigungskultur und den Kapitalismus verbindet, ist die Logik der Ausbeutung und des Gewinns. Und was ich in diesem Buch sage, ist, dass die Widerstandsbewegungen gegen die Vergewaltigungskultur und männliche Anspruchshaltung am besten als Bewegungen von Kollektivverhandlungen verstanden werden, genau wie jede Arbeiterrechtsbewegung.
Kann es eine gute Art von Männlichkeit geben?
Natürlich kann es positive, nährende, freudvolle Formen von Männlichkeit geben. Aber diese Möglichkeiten werden wie immer durch das vorherrschende moderne Ideal der Männlichkeit, das nur über Dominanz, Gewinn, Aggression, Eroberung und Zwang definiert wird, erstickt und zerquetscht. Diese Logik ist für viele Männer unglaublich schmerzhaft, weil sie erfordert, viel von ihrer Menschlichkeit zu opfern, um als »Männer« zu gelten. Deshalb ist es so wichtig, von »toxischer Männlichkeit« zu sprechen - weil sie deutlich macht, dass nichts in der Natur von Männern und Jungen liegt, was diese Eigenschaften unausweichlich macht.
Was ist die moderne Krise der Männlichkeit?
Die moderne Männlichkeit ist in einer besonderen Krise, weil viele Männer wissen, dass die Vorstellung von Männlichkeit, die ihnen beigebracht wurde, fehlerhaft und destruktiv ist - aber anders zu denken und zu leben wird immer noch als irgendwie schwach, passiv und erbärmlich angesehen. Die große Zahl von Männern, die an dieser Logik von Dominanz und Aggression nicht teilhaben wollen, müssen ihre eigenen Wege zur Selbstachtung finden, und das kann enorm schwierig sein.
Die türkische Journalistin Ece Temelkuran schreibt in ihrem 2019 erschienen Buch »Sieben Schritte in die Diktatur«, dass der Aufstieg des Rechtspopulismus daran liege, dass Wähler*innen weltweit seit den 80er Jahren systematisch vergessen lassen wurden, dass sie politische Subjekte sind. Eine Stimme für einen Tyrannen sei ein hoffnungsloser Akt, politische Macht zurückzugewinnen. Sie argumentieren in Ihrem neuen Buch, dass dieselben Wähler*innen, hauptsächlich weiße Männer, die einzigen waren und sind, deren Emotionen über Jahrhunderte hinweg Anerkennung fanden, dass sie anfingen zu glauben, dass ihre Gefühle Tatsachen seien. Und Populist*innen versprächen ihnen diese falschen Fakten und die Möglichkeit eines Lebens, das nach ihren Gefühlen ausgerichtet sei. Ich persönlich glaube, dass beides wahr ist. Glauben Sie, dass diese beiden Thesen koexistieren können?
Ich denke, es stimmt, dass viele dieser »Rambos« das Gefühl haben, übersehen und vergessen worden zu sein - weil sie es in wirtschaftlicher Hinsicht auch wirklich wurden. Viele von ihnen leben ein ganz anderes und frustrierendes Leben als das, was ihnen versprochen wurde. Das trifft allerdings auf fast alle Menschen zu, die versuchen, ohne Gewissheit und Sicherheit in dieser Welt zu leben - nicht nur auf weiße Heteromänner. Nicht nur sie wurden vergessen und übersehen. Wir alle wurden vergessen und übersehen. Aber irgendwie sind es nur weiße Männer - oder die »weiße Arbeiterklasse«, wie viele in der Anglosphäre sagen - deren Wut zählt, allerdings auch nur, wenn diese Wut instrumentalisiert werden kann. Die Conservative Party kümmert die »Arbeiterklasse« nur, wenn es um Weiße geht. Also nur, wenn man sich mit deren Hilfe über Einwanderung beschweren kann - nicht, wenn die sich über den Zusammenbruch des Lebensstandards ärgert. Wut und Ohnmacht sind absolut legitim. Das bedeutet aber nicht, dass Rassismus oder Sexismus entschuldigt werden sollten.
Sie schreiben: »Wenn Vergewaltiger Monster sind und keine Menschen wie wir anderen, dann können wir ausschließen, dass jemand, den wir kennen, der Hoffnungen, Träume, Angewohnheiten und Gefühle hat, auch ein Vergewaltiger sein könnte.« Diese Passage erinnert an Rassismusdebatten in Deutschland. Sobald man ein rassistisches Verhalten benennt, reagieren Menschen völlig schockiert, als würden sie selbst als Hitler abgestempelt. Warum reagieren manche Menschen so emotional?
Dasselbe gilt für Großbritannien und US-Amerika - wo aus irgendeinem Grund sehr viele Menschen sich mehr Sorgen darüber machen, dass sie als Rassist*innen bezeichnet werden könnten, als über die Auswirkungen von Rassismus. Das liegt daran, dass wir in Kulturen der Scham leben, die keine wirklich vernünftigen Wege haben, um Schäden und Konflikte zu bewältigen, die nicht auf Gewalt basieren. In einer Kultur der Scham ist es fast unmöglich, mit der moralischen Verletzung zu leben, dass man einen Fehler gemacht hat. Und weil Menschen in privilegierten Positionen ihre Gefühle als Tatsachen erleben dürfen, machen sie sich klar, Rassismus zu benennen sei genauso schlimm wie Rassismus selbst. Für manche Menschen stimmt das auf individueller Ebene! Für mich ist die Aussicht, dass ich als Rassist*in bezeichnet und mein Ruf beschädigt werden könnte, erschreckender als die Aussicht, rassistische Gewalt zu erleben - natürlich ist sie das. Ich bin nämlich weiß. Das bedeutet nicht, dass diese beiden Dinge von ähnlicher Wichtigkeit und Dringlichkeit wären. Denn Gefühle sind keine Tatsachen.
In Ihrem Buch schreiben Sie: »Der wiederkehrende Refrain, dass es bei Vergewaltigung nicht um Sex geht, sondern um Macht, stimmt nicht so ganz. Bei Vergewaltigung geht es eindeutig und durchgängig um beides.« Wie meinen Sie das?
Bei Vergewaltigung geht es sowohl um Sex als auch um Macht, denn im Moment sind Macht und Dominanz Teil des erotischen Paradigmas der heterosexuellen Sexualität. Mainstream-Pornografie erzählt immer wieder dieselbe Geschichte: dass heterosexuelle Sexualität eine Form der Gewalt ist, dass Sex etwas ist, was Männer Frauen antun und Frauen ertragen. Das stimmt natürlich nicht - aber Sex ist eine soziale Idee. Was Menschen individuell begehren, lässt sich nicht von unseren gesellschaftlichen Vorstellungen von Sex trennen.
Sie sprechen davon, dass gewalttätige Männer kollektiv geschützt werden, indem gesagt wird, sie seien psychisch krank und müssten nicht bestraft, sondern behandelt und versorgt werden. Seit Putins Krieg gegen die Ukraine fragen sich viele deutsche Journalist*innen öffentlich in ihren Artikeln, ob Putin oder seine Kriegsidee verrückt seien. Glauben Sie, das könnte derselbe Impuls sein? Denn Putin könnte zumindest theoretisch nicht wegen irgendwelcher Kriegsverbrechen verurteilt werden, wenn er als »verrückt« diagnostiziert werden sollte.
Die Idee, dass Putin »verrückt« ist, ist politisch faszinierend. Gesundheit ist eine soziale Idee, genau wie Sex - und welche Denkweisen und welche Formen von Gewalt als gesund und vernünftig gelten, ändert sich im Laufe der Zeit. Eine individuelle Geisteskrankheit kann die Handlungen eines Tyrannen nicht erklären - zunächst einmal handeln Tyrannen nicht allein. Es ist durchaus möglich, dass Putin psychisch krank ist oder an Wahnvorstellungen leidet - aber das würde nicht die Entscheidung erklären, ein Krankenhaus in Mariupol zu bombardieren. Wenn Sie Putin sind, ist das wahrscheinlich ziemlich rational, weil Sie in einem Rahmen agieren, in dem menschliches Mitgefühl nicht registriert wird. Es ist nicht falsch zu versuchen, die Psychologie anderer zu verstehen, selbst wenn diese Menschen monströse Dinge tun - tatsächlich ist es oft strategisch wichtig. Aber verstehen und entschuldigen sind sehr unterschiedliche Dinge.
Worum geht es also bei dieser Frage?
Während der Metoo-Bewegung verteidigten sich sehr viele Beschuldigte damit, sie seien »krank«. Das soll als Entschuldigung für jahrelange willkürliche Ausbeutung gelten. Aber gleichzeitig wurden betroffene Menschen als »verrückt« bezeichnet - nicht als Verteidigung, sondern um die Realität zu leugnen. Emotionaler Schmerz hat viele verschiedene politische Lesarten. Die Frage ist immer noch oft: Wessen Leid zählt? Wessen Schmerz ist eine Entschuldigung für Gewalt - und wessen Schmerz lässt uns glauben, dass sie die Gewalt, die ihnen widerfährt, verdient haben?
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