Fluss der Geschichte

Das Festival Internationale Neue Dramatik an der Berliner Schaubühne legt seinen Fokus auf das Werk des kanadischen Künstlers Robert Lepage

Mit seinem großangelegten Hiroshima-Opus »The Seven Streams of the River Ōta« zieht Robert Lepage sein Publikum in den Bann.
Mit seinem großangelegten Hiroshima-Opus »The Seven Streams of the River Ōta« zieht Robert Lepage sein Publikum in den Bann.

Thomas Ostermeiers Schaubühne steht auf zwei Beinen: Das eine befindet sich fest am Lehniner Platz, das andere bewegt sich frei durch die Welt. China und Indien, die USA und Frankreich, Israel und Griechenland heißen die Ziele. Wohl kein anderes Berliner Theater hat einen so regen weltweiten Gastspielbetrieb, der freilich in den vergangenen zwei Jahren den umfassenden Reisebeschränkungen zum Opfer gefallen ist.

Aber auch für das Repertoire konnte man in Berlin-Charlottenburg die eine oder internationale Größe gewinnen. Vor einigen Jahren waren hier noch Arbeiten des italienischen Regiemeisters Romeo Castelucci zu sehen - welch seltenes Glück! Im vergangenen Jahr haben sowohl Katie Mitchell als auch Simon McBurney aus England je eine Inszenierung beigesteuert. Den Höhepunkt der internationalen Zusammenarbeit bildet aber alljährlich das FIND, kurz für Festival Internationale Neue Dramatik.

Nach der ebenfalls coronabedingten Begrenzung des Festivals auf europäische Künstler im vergangenen Jahr und den eher etwas müden Regiearbeiten an dem Haus in letzter Zeit fährt man nun ein großes Programm auf. Gastspiele aus Belgien, Frankreich, Schweden, den USA und Chile stehen auf dem Spielplan. Auch zwei eigene Produktionen der Schaubühne werden gezeigt: das leider etwas banal geratene Stück »reden über sex«, das im vergangenen Jahr Premiere hatte, und der Monolog »Erinnerung eines Mädchens« nach dem beeindruckenden autobiografischen Prosawerk von Annie Ernaux, das am Sonnabend erstmals zu sehen sein wird.

Im Zentrum der diesjährigen Festivalausgabe steht allerdings ein künstlerisches Schwergewicht. Mit dem Kanadier Robert Lepage, der in diesem Jahr beim FIND als »artist in focus« firmiert, hat man sich für einen renommierten Künstler entschieden, der als Regisseur für Film wie Theater gleichermaßen brilliert, sich in beiden Medien auch als Schauspieler ausprobiert, Bühnen- und Kostümbilder selbst entwirft, als Autor tätig ist und dazu Exkurse ins Opernfach wagte.

In dem Monodrama »887«, das im Rahmen des Festivals drei Mal (8.-10.4.) gezeigt werden wird und in dem Lepage selbst auf der Bühne steht, nimmt er die jüngste Geschichte Kanadas in den Blick. Das französische Gedicht »Speak White« von Michèle Lalonde, das die rassistisch begründete Ablehnung nicht-englischer Sprachen thematisiert, steht dabei im Zentrum. 1970 erstmals öffentlich rezitiert, soll Lepage es 50 Jahre später zum Vortrag bringen. Auf der Bühne wird ein großes Scheitern sichtbar - und Fragen nach kollektivem Gedächtnis und persönlicher Erinnerung werden aufgeworfen.

Die Schaubühne konnte außerdem die Eva-Lichtspiele in Wilmersdorf als Kooperationspartner gewinnen, so dass am Sonnabend mit »The Confessional« (1995) und »La Face cachée de la Lune« (2003) auch zwei Spielfilme von Robert Lepage vorgeführt werden können.

Am vergangenen Sonnabend und Sonntag war bereits dessen mehr als siebenstündiges Opus mit dem eigenwilligen Titel »The Seven Streams of the River Ōta« zu sehen. Sechs Nebenarme und der Hauptstrom des Ōta fließen in einer Stadt zusammen, die uns allen traurig bekannt ist: Hiroshima. Wie eine Flusslandschaft fügen sich verschiedene Episoden zusammen, münden ineinander, allesamt mit derselben historischen Laufrichtung.

Der Bombenabwurf auf Hiroshima, jenes erschütternde Menschheitsereignis, bildet den Ausgangspunkt dieses Theaterabends und schwingt in allen Szenen mit, die von den 1940er bis 1990er Jahren ihren zeitlichen Platz einnehmen. Es ist das gesellschaftliche Trauma, das für das Publikum hier in den Figuren und ihren Kommunikationsversuchen miteinander sichtbar wird. Aber es bleibt nicht nur dabei, weil das 20. Jahrhundert eines der seriellen Katastrophen war. In das komplexe Handlungsgeflecht fügen sich Erzählungen über das Konzentrationslager Theresienstadt ein und über die tödliche Aids-Pandemie sowie über das ganz alltägliche individuelle Scheitern am Leben.

Fremd wirkt ein solcher Theaterabend auf den Hauptstadtzuschauer. In psychologischer Spielweise, wie sie auf deutschen Bühnen seit Jahrzehnten verpönt ist, wird das polyglotte Drama gezeigt. Traditionelle japanische Kampfkunst findet darin ebenso Eingang wie Kabuki- und Nō-Theater. Die naturalistisch eingerichtete Bühne wird Szene für Szene umgebaut, bewegliche Leinwände erleichtern die schnellen Wechsel.

Akustisch wird der Abend durch einen Live-Percussionisten zusammengehalten. Was die Schauspieler hier über so viele Stunden leisten, ist höchst eindrucksvoll. Die Konzentration auf der Bühne nimmt nicht ab, das Tempo wird bis zum Ende durchgehalten. Beides überträgt sich ins Publikum, wo man für die Leistung nach mehr als sieben Stunden Theater stehend applaudiert.

Dass dieses Spektakel, das in einer ersten Fassung 1994 uraufgeführt wurde und 2019 eine Aktualisierung erfahren hat, mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs und dem öffentlichen Reden über nukleare Auseinandersetzung in erschreckender Weise gegenwärtig wirken würde, konnte man bei der Konzipierung der diesjährigen Festivalausgabe noch nicht ahnen. Der thematischen Schwere zum Trotz hat die Inszenierung durchaus feinen Witz. Der versöhnliche Charakter der Arbeit bleibt dennoch mitunter schwer zu ertragen. An allzu vielen Stellen wirkt das so, als lösten sich hier die Wunden der Geschichte mitunter von alleine auf.

Vielleicht folgt Lepage aber auch dem japanischen Schriftsteller Yukio Mishima, von dem an diesem Abend mehr als einmal die Rede ist und der in seinen Werken auf der Suche nach einer Einheit von Schmerz und Schönheit war.

Aber auch aus einem anderen Grund ist die Wahl von Lepage für das Theaterereignis FIND bemerkenswert. Kaum sechs Wochen ist es hier, als es an der Schaubühne zu einem hausgemachten Skandal kam. Ein Schauspieler des Ensembles stellte auf Facebook historische Spekulationen über die indigene Bevölkerung Nordamerikas an, die man durchaus hanebüchen nennen muss - die jedoch in dem irgendwie halböffentlichen, aber irgendwie auch halbprivaten Raum Facebook wirklich niemand zur Kenntnis genommen hätte. Hätte - denn die Schaubühne bezog Stellung und führte einen langjährigen Mitarbeiter damit öffentlich vor.

Was hat das mit Robert Lepage zu tun? Der ist in den letzten Jahren mehrfach in die Kritik geraten. 2018 erreichte der Irrsinn einen Höhepunkt, als zwei Inszenierungen in Folge von Protesten abgesetzt wurden. Die Arbeit »Kanata«, die den Umgang Kanadas mit seiner indigenen Bevölkerung zum Thema hat, sowie »SLAV«, ein Abend über die Geschichte der afroamerikanischen Sklaven, stieß auf heftigen Gegenwind. Stein des Anstoßes war vor allem die Frage der Besetzung der Schauspieler: Wo es um Minderheiten geht, da sollten auch Vertreter dieser Minderheiten das Sagen haben. Das klingt verblüffend einleuchtend, verliert aber sofort jegliche Überzeugungskraft, wenn man sich im Theater befindet. Dieses alte Medium mit seinem wundervoll humanistischen Universalismus lebt ja gerade davon, dass da jemand spielt, was er nicht ist. Der Perspektivwechsel darf hier zum erkenntnisfördernden Mittel werden.

Es ist diese Form der Kleingeistigkeit und Kunstfeindlichkeit manchen identitätspolitischen Eifers, die dazu führt, dass Theater zum bloßen Anlass für billige Empörung gerinnt und seine Rolle als Medium der Reflexion verloren geht. Gegen die Verengung des Blicks hilft eins bestimmt: Interesse an Geschichten und an Geschichte. Beides kann auch bei Robert Lepage gelernt werden.

Das Festival Internationale Neue Dramatik findet noch bis zum 10. April an der Berliner Schaubühne statt.

www.schaubuehne.de

www.eva-lichtspiele.de

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