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Marxismus der Zwangsarbeiter
Der Kommunist Heinz Langerhans wurde von den Nazis verfolgt und gefoltert. Später verfasste er eine Totalitarismustheorie, seine Schriften sind jedoch weitgehend unbekannt und unveröffentlicht
Weihnachtsferien 1918: Der junge Heinz Langerhans, gerade mal 14-jährig, wird von seiner Mutter zu einer Tante geschickt. Sie wohnt am Savignyplatz in Berlin-Charlottenburg, Langerhans mit seinen Geschwistern und seiner Mutter in Köpenick, damals noch eine eigenständige Gemeinde.
Der Vater, Georg, war ein paar Monate zuvor an den Folgen einer Rippenfellentzündung verstorben. Georg Langerhans ist in Köpenick wohlbekannt, der Jurist war dort Bürgermeister gewesen, vielmehr: Er war »der« Bürgermeister, der 1906 von dem berüchtigten Hauptmann von Köpenick vorgeführt wurde. Er ging in die Weltliteratur ein als obrigkeitshöriger preußischer Beamter, eine zusätzliche Demütigung, denn tatsächlich war Georg ein Liberaler, in der Stadt überaus beliebt. Sein Sohn Heinz, obwohl später Kommunist und als solcher eigentlich verpflichtet, alle Brücken in die alte bürgerliche Welt abzubrechen, hat den Vater sehr verehrt.
Langerhans muss bei seiner Tante länger bleiben als geplant, zu gefährlich sind die Routen durch die Stadt, in der jederzeit der Bürgerkrieg auszubrechen droht. Heinz wagt sich trotzdem auf die Straße: Er sieht, wie sich Soldaten neu formieren, sie reißen die Abzeichen von ihren Mänteln und Soldatenröcken und singen die »Internationale«. Sein Cousin, kein Linker, erzählt ihm, er habe Rosa Luxemburg im Lustgarten reden hören und wie sie ihn durch ihr Charisma in den Bann geschlagen habe. Die Werke von Luxemburg werden die ersten sein, die sich Heinz, nur wenige Jahre später, aus der marxistischen Schule zulegt.
Zerfall einer sozialen Ordnung
Es existiert von Heinz Langerhans noch ein weiteres Zeugnis aus dieser Zeit: März 1920, Kapp-Putsch. Langerhans berichtet, wie der Vater der Haushaltsgehilfe, ein USPD-Mitglied, von Freikorps-Truppen ermordet wird, weil die ihn verdächtigten, Waffen im Keller zu verstecken. In der Nachbarschaft wird eine Frau erschossen, einfach weil sie sich zu lange am offenen Fenster aufgehalten hat. Die Jugend von Langerhans ist geprägt von Gewalt und Unsicherheit, vom Zerfall einer Ordnung, auf die keine stabile neue folgt. Die Langerhans-Familie war sehr bürgerlich, väterlicherseits gibt es eine stolze Ahnenreihe von Ärzten und Juristen. Der frühe Tod des Vaters bringt die Familie dennoch um ihre soziale Sicherung, die Mutter folgt ihrem Mann nur vier Jahre später, von den drei Geschwistern ist Heinz der einzige, der studieren kann: Architektur an der Technischen Universität Berlin.
Danach geht alles sehr schnell. Langerhans schließt sich der kommunistischen Hochschulgruppe an, seine intellektuelle Schärfe und sein Redetalent werden vom Parteivorstand registriert. 1924 wird er persönlicher Assistent von Ruth Fischer, der faktischen Vorsitzenden der Partei. Auf Sitzungen des Zentralkomitees lernt er den Parteiphilosophen Karl Korsch kennen. Die Begegnungen mit Fischer und Korsch werden ihn für sein Leben prägen. Mit dem bald heftig befehdeten Korsch geht er in die Opposition, sie gründen eine linksradikale Fraktion, die aus der Partei ausgeschlossen wird. Langerhans, eigentlich immer noch Student, wechselt zur Soziologie, geht nach Frankfurt, dort ans Institut für Sozialforschung. 1931 promoviert er bei Max Horkheimer mit einer Studie über das Verhältnis von SPD und Gewerkschaften, die in Wirklichkeit eine über die Integration der Partei in den bürgerlichen Staat ist.
Es ist die scheinbar typische Geschichte eines linken Intellektuellen, der sich im kommunistischen Milieu und der lebendigen marxistischen Theorie der 1920er Jahre seinen Weg bahnt. Aber die erlebte Gewalt und die ihm widerfahrene Unsicherheit stecken ihm in den Knochen. Langerhans, mittlerweile wieder in Berlin, geht im Februar 1933 nicht ins Exil. Am 27. Februar, dem Abend des Reichstagsbrandes, trifft sich der legendäre Korsch-Zirkel ein letztes Mal. Als die Freunde sich verabschieden, macht die Meldung vom Brand bereits die Runde, Bertolt Brecht, Teilnehmer des Zirkels, geht gar nicht erst nach Hause. Langerhans aber bleibt und baut in Charlottenburg eine von SPD und KPD unabhängige Widerstandsgruppe auf, deren Flugschriften man als visionär bezeichnen muss: Sie sagen das baldige Scheitern der illegalen KPD voraus und den kommenden Weltkrieg, prangern die Prahlereien des geflüchteten SPD-Vorstandes an, der sich plötzlich revolutionär gibt. Schon im November wird die Gruppe zerschlagen. Langerhans wird von der Gestapo im Columbiahaus gefoltert, es folgen bittere Jahre in Knast und KZ.
Gewalt im Monopolkapitalismus
Auf dieser Gewalterfahrung fußt sein gesamtes Werk. Langerhans hat seinen Marxismus konsequent aus der Sicht der Zwangsarbeiter und Sklaven betrieben. Später hat er die Gulag-Insassen in diese Perspektive eingeschlossen, den Begriff Totalitarismus, den Linke vor allem als antikommunistischen Kampfbegriff kennen, hat er ohne Scheu benutzt. Jede zukünftige proletarische Aktion muss antiterroristisch sein, antihierarchisch, gegen Faschismus und Stalinismus gleichermaßen gerichtet, auf keinerlei Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager hoffend. Ein großangelegtes literarisches Projekt nannte er »Barbed Wire Perspective«, der Blick durch den Stacheldraht als Blick auf die Welt. Wer durch das Tor hindurchgegangen sein wird, also aus dem KZ entlassen worden ist (so wie Langerhans 1939 - als im Rahmen einer »Führeramnestie« willkürlich Ausgewählter), wird doch in Wirklichkeit das Lager nie hinter sich lassen.
Was heißt »Marxismus aus Sicht der Zwangsarbeiter«? Das scheint ein schwarzer Schimmel zu sein: Der Marxismus geht vom freien Lohnarbeiter aus und will ja gerade zeigen, dass sich Ausbeutung unter den Bedingungen von Freiheit und gerechtem Warentausch - Arbeitskraft gegen Geld - vollzieht. Zwar gibt es seit 20 bis 30 Jahren eine marxistische Debatte, die anerkennt, dass sich Formen von Sklaverei und Zwangsarbeit bis heute halten, im Weltmaßstab sogar zunehmen, aber ihr Ausgangspunkt bleibt der freie Lohnarbeiter. Langerhans’ Gedankengang ist ein anderer, ganz gedrängt gesagt: Um in der imperialistischen Konkurrenz zu bestehen, müssen die jeweiligen nationale Kapitale die Produktivkräfte immer höher entwickeln, das bedingt eine Zersetzung der liberal-kapitalistischen Hierarchien, die sich nicht mehr funktional zur Produktivkraftentwicklung verhalten, sie vielmehr behindern. Der Monopolkapitalismus kann sich weder eine dünkelhafte Ingenieurskaste noch ein Bürgertum leisten, dass das Bildungsmonopol beansprucht.
Gleichzeitig müssen die Staats- und Kapitalfunktionäre dieser sich rasant proletarisierenden postbürgerlichen Gesellschaft die Zersetzung der Sozialstruktur aufhalten, um den Übergang zum Kommunismus nicht Vorschub zu leisten. Dies geschieht durch die Errichtung neuer Hierarchien, die von der jeweiligen Staatspartei definiert werden, die, so Langerhans, längst zu einem Geheimdienstorden professioneller Terroristen mutiert ist. Sie dienen einzig der Kontrolle eines sich zunehmend verselbstständigenden, also de facto von den Arbeitern kontrollierten Produktionsapparates. Konsequenzen dieser Hierarchisierung sind Zwangsarbeit; die Wiedereinführung der Folter; die Aufkündigung liberaler politischer Vermittlungsformen durch Massenpropaganda. Widerstand ist einzig im Produktionsprozess selber möglich, durch permanente Sabotage und Entzug von Wissen: Fließband, Fabrikhalle, Lager sind die verbliebenen realen Organisationsformen des Proletariats.
Flucht und verschollenes Werk
Langerhans konnte 1941 auf abenteuerliche Weise in die USA flüchten, dort schrieb er seine kommunistische Totalitarismuskritik. Sie machte Eindruck: Theodor W. Adorno, Brecht, Korsch und Fischer, Otto Rühle, Arkadij Gurland, Franz L. Neumann und Paul Mattick gehörten zu den prominenten Lesern. Er musste Kritik einstecken, aber alle votierten für eine Veröffentlichung. Langerhans publizierte sie dennoch nie. Er hat auch seine Gedichte aus der KZ-Haft nicht veröffentlicht, nicht seine vergleichenden Studien zur Zwangsarbeit im deutschen KZ und sowjetischen Gulag, nicht seine Analysen des NS-Antisemitismus, nicht seine materialistische Theorie des Blitzkrieges. Auch spätere großangelegte Studien - etwa zum »17. Juni« - blieben in der Schublade.
Es ist ein umfassendes Werk, jedoch nahezu unbekannt und nach seinem Tod 1976 für 40 Jahre dazu noch verschollen. Es gibt plausible Erklärungen dafür, viele Mosaiksteinchen: Mal ging ein (fast) fertig übersetztes Manuskript verloren, dann wieder hatte der durchaus sprunghafte Langerhans sich für einen anderen Weg entschieden. Aber es bleibt doch ein Rätsel. Vielleicht waren die Erfahrungen durch Gewalt, Folter und Terror zu übermächtig, um wirklich das Vertrauen zu haben, mit dem gedruckten Wort noch etwas zu erreichen.
Felix Klopotek forscht seit vielen Jahren zu Heinz Langerhans. Soeben ist sein Buch »Heinz Langerhans: Die totalitäre Erfahrung« erschienen; er arbeitet außerdem an einer Edition von Langerhans’ Schriften.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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