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Die konformistische Rebellion
Statt die unpersönliche Herrschaft des Kapitalismus zu kritisieren, setzt die heutige Linke auf Betroffenheit. Mit der Wende von Marx zur Identitätspolitik kann sie den Kapitalismus nicht mehr verstehen - und auch nicht zu seiner Überwindung beitragen
Was bedeutet Gesellschaftskritik als Kritik der Totalität heute? Wie lässt sich die Selbsterhaltung des Kapitalismus und der ihm dienenden komplexen politischen Herrschaftsapparate erklären? Und was genau sollte der Gegenstand der Kritik in einer Zeit der »Postpolitik« oder gar »Antipolitik« sein, wenn die etablierte neoliberale Ordnung in eine neue Periode der verwalteten Stagnation übergeht? Ist die Gesellschaftskritik mit dem Aufkommen eines mittlerweile allgegenwärtigen »fortschrittlichen« sozialen Bewusstseins, das sich kritisch mit Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie, Armut im Globalen Süden, Klimawandel und dem laschen Umgang mit der Covid-19-Pandemie auseinandersetzt, tatsächlich erschöpft? Dass der Kapitalismus nicht gesund, vorteilhaft oder gut ist, scheint in einem breiten Spektrum der gebildeten Mittelschicht zum Konsens geworden zu sein, während diese Einsicht zuvor beschränkt war auf die »gelebte Erfahrung« von Einzelhandelsarbeitern, Tagelöhnern in der Landwirtschaft, Amazon Mechanical Turk Human Intelligence Taskern und allen anderen, die kaum von den »Früchten« ihrer Arbeit leben können.
Das große Anliegen der Gesellschaftskritik in der marxistischen Tradition war immer ihr Verhältnis zur politischen Linken. Dies impliziert, dass man sich mit der wiederholten Einbindung der Arbeiterbewegung als stabilisierendes Element innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigt. Heute jedoch, mit der vorübergehenden Niederlage der Arbeiterbewegung, ist die bürgerliche Gesellschaft als traditioneller Gegenstand der Kritik der Linken verdunkelt worden: durch die überwältigende Dominanz einer Linken, die nicht mehr auf den Kämpfen der Arbeiter, sondern auf dem Paternalismus der Mittelklasse beruht. Es gibt einen Aufstieg von Managereliten, Experten, die ihre Rolle im Social Engineering spielen, und den Tod der Politik an sich - und damit den Tod des Politikers, der durch um Likes und Retweets buhlende Social-Media-Experten ersetzt wurde, deren Beliebtheitswerte die programmatische Leere widerspiegeln. Die Linke nimmt diese Selbstabschaffung der Politik und damit der sozialen Emanzipation nicht nur hin, sondern trägt aktiv dazu bei. Sie tut dies, indem sie das Kernproblem der kapitalistischen Gesellschaft nur als Lippenbekenntnis, nicht aber bewusst benennt: die Klasse. So wird dieses grundlegende gesellschaftliche Verhältnis durch eine kaum überschaubare Menge an immer engeren, klassenübergreifenden Interessengruppen nach Kräften zu verschleiern versucht, die sich in verworrenen Akronymen, eingängigen Abkürzungen oder Neologismen ausdrücken und auf einem subjektiven Bewusstsein der Unterdrückung beruhen.
Die postmarxistische Linke
Da »die Linke« - oder das, was diesen Titel in Ermangelung einer unabhängigen Arbeiterbewegung für sich beansprucht - nicht mehr die politische Gegnerin der sozialen Kräfte ist, die den »kapitalistischen Realismus« und das von ihm abhängige neoliberale Management reproduzieren und fördern, ist sie oft dessen wichtigste Komplizin. Und manchmal sogar ihre Nutznießerin. Man muss die Linke in einer längst überfälligen kritischen und theoretischen Auseinandersetzung mit den unzähligen Arten und Weisen konfrontieren, in denen sie sich der neoliberalen Ideologie anpasst und manchmal sogar als deren Hauptproduzent auftritt, anstatt sich ihr grundlegend entgegenzustellen. Der zunehmende präventive Widerstand gegen die unabhängige Artikulation von Arbeiterinteressen und die faktische Abschaffung des Klassenkampfes stellt die schwerwiegendste und verheerendste Zwangslage unserer Zeit dar.
Die Linke hat das Projekt der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufgegeben. Sie hat sich damit von der Abschaffung der konkreten Form der spezifisch kapitalistischen Herrschaft, nämlich der Ausbeutung, verabschiedet, und ersetzte sie durch moralische Bedenken über Sexismus, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, Homophobie, Transphobie, Islamophobie und so weiter als Formen der Diskriminierung oder Unterdrückung, aber innerhalb der kapitalistischen Ordnung. Diese Verschiebung der diskursiven Realität der Linken von der Abschaffung der Lohnarbeit und damit des Kapitalismus zur Abschaffung der Diskriminierung innerhalb des Kapitalismus - unter Beibehaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, das heißt des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit - ist nicht nur nicht radikal, sondern auch von der Anpassung an die hegemoniale Ideologie des Kapitals überschattet. Während die neoliberale Ordnung zu zerbröckeln scheint und dennoch weiterbesteht - »alles verlängert seine Existenz, indem es leugnet, dass es existiert«, wie G. K. Chesterton es formulierte -, ist es wenig überraschend, dass die gebildete Klasse am stärksten der Utopie des Kapitals von einer Technokratie ohne politischen Antagonismus beipflichtet. Die professionellen Mittelschichtskader der liberalen linken Mitte sind zu den »letzten Standartenträgern des neoliberalen Pakets« geworden, wie Alex Hochuli, George Hoare und Philip Cunliffe in ihrem Buch »Das Ende des Endes der Geschichte« betonen.
Die gegenwärtige »Rebellion« der Linken findet statt im Kontext der verwalteten Stagnation, der zunehmenden Massenverelendung und der fortgesetzten Atomisierung der Arbeiterklasse nach der Krise der kapitalistischen Verwertung im »Finanzcrash« von 2008. Wir betrachten dies nicht als eine Rebellion gegen den liberalen Status quo, der den zweifelhaften Sieg des Kapitals sowohl produziert als auch verschleiert, sondern als eine konformistische Rebellion - eine Rebellion der Mittelschichten, die als Stoßtruppen der kapitalistischen Herrschaft über die Arbeit fungieren. Sobald jedoch Kritiker auf die Verstrickung dieses Progressivismus mit bürgerlichen Zielen hinweisen, wird die moralische Verurteilung und das Schweigen gefördert, die Motivation der Kritiker wird als direkter Ausdruck von »Bigotterie« oder »Faschismus« dargestellt. Dementsprechend schützen sich diese Bewegungen oft vor Kritik, indem sie einen ständigen Ausnahmezustand heraufbeschwören, sei es der allgegenwärtige »faschistische Schleichweg« oder eine ebenso alarmierende »Klimakrise«, aber ganz sicher nicht die auf spezifischen Klasseninteressen beruhende Verelendung der globalen Arbeiterschaft. Gibt es eine geistesgeschichtliche Entwicklung, die zu dem zahnlosen Aufstand führt, den die Linke heute darstellt?
Aufkommen der Identitätspolitik
Eine der wichtigsten politischen und kulturellen Verschiebungen der vergangenen Jahrzehnte ist das Aufkommen neuer und vielfältiger Formen der Identitätspolitik. Sie entsprechen einer neuen »Trinitätsformel« in der linken Analyse des Kapitalismus - »Rasse«, Klasse und Geschlecht. Diesem Schema folgend haben sich die wichtigsten Strömungen der zeitgenössischen Linken von der Problematisierung des Kapitals als Verhältnis entfernt. Nicht nur, dass sich die meisten linken Theoretiker und Aktivisten den neoliberalen diskursiven Strukturen der »Gender-, Queer- und Rassentheorie« anpassen, von denen die »intersektionale Theorie« nach wie vor die meistverkaufte ist. Sie reduzieren auch die analytischen Kategorien der Klasse und der Dynamik der kapitalistischen Akkumulation auf eine Unterkategorie der persönlichen Herrschaftsformen.
Wir glauben, dass diese Verschiebung eine historische und theoretische Vorgeschichte in der Neuen Linken und der internationalen Studentenbewegung der 1960er Jahre hat. Deren idiosynkratische Lesart des Marx’schen ökonomiekritischen Werks führte, ausgelöst durch die zunehmende Unfähigkeit, das Problem der unpersönlichen Herrschaft, die das Kapital als Verhältnis konstituiert, angemessen zu behandeln, zu einer Verkennung des Wertgesetzes als transhistorisch und vernachlässigte die Bedeutung seiner monetären Dimension. Ein großer Teil der Linken war daher nicht in der Lage, die Naturalismen oder - in Marx‘ Sprache - die Fetischismen der bürgerlichen politischen Ökonomie zu überwinden und die grundlegende Dynamik der kapitalistischen Herrschaft, die Reproduktion des Lohnverhältnisses und damit die weltweite Artikulation der unpersönlichen kapitalistischen Vorherrschaft angemessen zu erfassen. Die Radikalen konzentrierten sich zunehmend auf »konkretere« und »persönlichere« Formen der Macht und verdeckten damit die konstitutive Dynamik der modernen Gesellschaft, indem sie auf eine vormarxistische Kritik der »Ungerechtigkeit« zurückfielen. Letztere als Hauptmotor der kapitalistischen Verhältnisse zu betrachten, ermöglichte eine bequeme Verdrängung der Frage nach der unpersönlichen Macht - ein noch beunruhigenderes Thema. Das Ergebnis war eine eklatante Unfähigkeit, eine adäquate Antwort auf die Herausforderung des Kapitals als soziales Verhältnis zu organisieren, ein Versagen, das sich bis heute auswirkt.
Die positivistische Herangehensweise der heutigen Linken an die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hat weitgehend vor einem Verständnis des Kapitals kapituliert, das es nicht als Gesamtheit, sondern als eine Ansammlung »individueller« Unterdrückungsverhältnisse begreift, die als »Teile eines Ganzen, die sich gegenseitig bedingen«, behandelt werden können und in denen jedes soziale Verhältnis als gleich bedeutsam gilt. Dies zeigt sich in der regressiven Tendenz zur Identität, das heißt zur kulturellen, ethnischen oder »geschlechtlichen« Vergemeinschaftung. Deren Fetischisierung hebt nicht nur die Marx’sche Kapitalismuskritik als Kritik der Klassengesellschaft auf, sondern hat uns auch ein fantastisches neues Repertoire an immer neuen Formen horizontaler Unterdrückung beschert. Das zeigt sich in Begriffen wie »Mikroaggression«, dem Ruf nach verwalteter »Vielfalt« und einer ganzen Reihe von Begriffen, die auf bestimmte kulturelle Empfindlichkeiten reagieren und dem neoliberalen Bedürfnis dienen, Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen oder eingebildeten Identität zu atomisieren.
Die moralistische und erkenntnistheoretische Logik der Linken basiert auf der angeblichen Allgegenwärtigkeit der Unterdrückung und verschleiert damit die besondere Einsicht der Marx’schen Kritik: das Problem des ungleichen Austauschs zwischen Kapital und Arbeit auf der Grundlage der formalen Gültigkeit des gleichwertigen Austauschs. Es ist die Lohnarbeit, die das historisch spezifische Wesen der kapitalistischen Ausbeutung ausmacht. Die Ausbeutung durch Lohnarbeit ist die »conditio sine qua non« der allgemeinen und universellen gesellschaftlichen Vermittlung unter der Herrschaft des Werts. Die »Unterdrückung« als zentral für die heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu betrachten, trägt zu deren Mystifizierung bei.
Unterdrückung und Ausbeutung
Es gibt ein wichtiges terminologisches und damit faktisches Versäumnis in der heutigen linken Theoriebildung: die Unterscheidung zwischen Unterdrückung und Ausbeutung. Ihr Unterschied, so entscheidend er für die Theoriebildung über Herrschaftsstrukturen ist, wird fast überall missachtet oder verleugnet. Während in feudalen Gesellschaften die Renten an Arbeitskraft, Lebensmitteln und Geld auf direkter persönlicher Unterdrückung beruhen, um eine »ausbeuterische« Praxis zu festigen, bedarf die Ausbeutung in ihrem vollen Sinne der Lohnform. Die ökonomische Besonderheit besteht darin, dass der Lohn als bezahlte Arbeit erscheint, das heißt als etwas, das das monetäre Äquivalent für den gesamten Arbeitstag darstellt - und nicht nur für seinen »notwendigen« Teil. Was also als gleicher Tausch erscheint - im Einklang mit »Freiheit« und »Gleichheit« als Signifikanten der liberalen bürgerlichen Gesellschaft - ist in Wirklichkeit ein ungleicher Tausch. Der ganze Reiz der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, dass die Ungleichheit als Gleichheit erscheint, die Unfreiheit als Freiheit - als »gleiche Marktteilnahme«.
Unterdrückung hingegen ist weniger spezifisch. Sie erfordert die Existenz eines persönlichen Unterdrückers (oder mehrerer) und der Unterdrückten, seien sie wirtschaftlich oder anderweitig definiert. Da zum Beispiel Sklaven keinen Lohn für ihre Arbeit erhalten, sind sie Opfer von Unterdrückung, aber nicht von Ausbeutung. Ihnen wird nichts mehr »weggenommen«, als es für Unterdrücker und Unterdrückte offensichtlich ist: in den meisten Fällen, so würden manche sagen, ihre Menschlichkeit. Doch gerade weil Sklaven ihrer Menschlichkeit beraubt sind, werden sie nicht ausgebeutet, denn sie können keinen »freien und gleichen Vertrag« mit ihrem Arbeitgeber abschließen - sie werden nicht einmal so behandelt, als wären sie gleichberechtigt. In den vorkapitalistischen Klassengesellschaften waren die Beziehungen der persönlichen Beherrschung und Unterdrückung untrennbar mit den spezifischen Formen der Extraktion des Mehrwerts aus den unmittelbaren Produzenten verbunden, die die Dynamik dieser Gesellschaften bestimmten. Im Kapitalismus hingegen kann die Unterdrückung zwar die maximale Ausbeutung des Überschusses politisch erleichtern, aber das Verhältnis selbst ist durch formale Freiheit und Gleichheit bestimmt. Die Kritik an der Unterdrückung und die Forderung nach Gleichheit ist keine marxistische Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, sondern ein liberales oder jakobinisches Streben nach ihrer vollen Verwirklichung.
Die heutige Linke verlagert ihren »Interventionsbereich« weg von der Ausbeutung hin zu individuell und moralisch motivierten Formen der Unterdrückungskritik und verwirft damit die Marx’sche Analyse. So verinnerlicht sie eine Methode, die der Neoliberalismus selbst propagiert hat, um den Widerstand der Arbeiter weltweit zu untergraben. Der Kontrast zwischen dem Marx’schen Emanzipationsprojekt und seiner Karikatur in der fortschrittlichen Linken von heute war noch nie so krass wie heute, in einer Zeit, in der das Kapital nicht mehr vor einer politischen Barriere zu stehen scheint. In der linken Identitätspolitik und der Intersektionalitätstheorie ist die Mystifizierung des Kapitalverhältnisses abgeschlossen.
Widersprüche bürgerlicher Emanzipation
Auch wenn die postmoderne identitäre Iteration der Trinitätsformel die offensichtlichste und durchdringendste Manifestation der konformistischen Rebellion der Linken ist, hat das Phänomen selbst tiefere Wurzeln. Die Voraussetzung für die fast universelle Akzeptanz der »Dreifaltigkeitsformel« ist eine intellektuelle Kultur des Empirismus, des Positivismus und sogar der vitalistischen Irrationalität, die sich rühmt, den Schein für das Wesentliche zu halten. Diese intellektuelle Kultur bildet nicht nur die Grundlage für den technokratischen Jargon der linksliberalen Elite, sondern auch für den »gesunden Menschenverstand«, an den ihre populistische Nemesis appelliert.
Die Kritik an der historisch spezifischen Form der gesellschaftlichen Totalität und die Erhellung ihres irreduziblen, aber unerfüllten emanzipatorischen Potenzials ist zu einer Domäne von Randsekten und isolierten Kritikern geworden. Die monetäre Form der gesellschaftlichen Vermittlung erscheint als grundsätzlich äquivalent zur Vergesellschaftung der Arbeit selbst, und so bleiben den Unzufriedenen zwei Möglichkeiten: Entweder zu fordern, dass die Gesellschaft des universellen Austauschs ihrem eigenen mystischen Selbstverständnis entspricht und die beschleunigte oder bereits vollzogene Zersetzung archaischer Unterdrückungsformen als Telos der Freiheit selbst zu bejubeln - oder die Vergesellschaftung der Arbeit als Verlust primitiver Unmittelbarkeit zu beklagen. Schon Marx hat diese sterile Alternative als die zwischen Liberalismus und Romantik identifiziert. In Ermangelung einer Kritik des Kapitalismus als Totalität, die die Universalität des Tauschverhältnisses als notwendige Grundlage einer universellen Gemeinschaft ansieht, die sich qualitativ von der ersteren unterscheidet, bleibt das intellektuelle Engagement hilflos zwischen diesen komplementären und sich gegenseitig verstärkenden Polen hängen.
Es ist diese Dynamik, die den konstitutiven inneren Widerspruch der konformistischen Rebellion im weitesten Sinne ausmacht. Die neoliberale Linke tendiert mit ihrem Streben nach einer grenzenlosen Welt atomisierter Individuen, die in grenzenloser Unbeständigkeit eine Freiheit ohne Sicherheit finden, zur ersten Variante. Ihre »postliberalen« konservativen und reaktionären Kritiker suchen derweil in den tröstlichen Armen der zweiten Variante Zuflucht vor den Verwüstungen des globalen Marktes. An den äußersten Rändern des zeitgenössischen Denkens stehen diejenigen, die vor der durch den Tauschwert konstituierten gesellschaftlichen Totalität entsetzt zurückschrecken: Sie schwelgen in albtraumhaften Fantasien von einem Bruch in der Vergesellschaftung der Arbeit im Allgemeinen und einer Rückkehr zur primitiven Barbarei.
Hatte Hegel an den Anfängen der modernen bürgerlichen Gesellschaft noch konsequent behauptet, die Wirklichkeit sei rational, so feiern oder denunzieren die Intellektuellen in der Periode ihres Niedergangs deren überirdische Erscheinung. In beiden Fällen werden physikalische Konstanten mit historisch veränderlichen gesellschaftlichen Formen gleichgesetzt und ein Verständnis der Gesamtdynamik des gesellschaftlichen Ganzen zugunsten einer empirischen Erfassung von »Tatsachen« abgelehnt. Diese Fakten ähneln jedoch eher dem von mittelalterlichen Chronisten zusammengetragenen Sammelsurium von Ereignissen als dem systematischen Verständnis der Logik des Prozesses - einer Logik, die vom Standpunkt des heute vorherrschenden empiristischen Ansatzes aus als »dogmatisch« oder »mystisch« stigmatisiert würde. Die postmoderne Trinitätsformel ist nur eines von vielen Symptomen eines umfassenden Rückschritts der Fähigkeit, den historischen Prozess zu verstehen.
Fetisch der Demokratie
Für die Anhänger der Dreifaltigkeitsformel, von glatten technokratischen Politikern bis hin zu den nihilistischen Kennern des Krawalltourismus, ist jedes soziale Übel in erster Linie auf Sexismus, Rassismus, Faschismus, Patriarchat, Kolonialismus zurückzuführen, kurz gesagt, auf alles, was nicht zum normalen Betrieb des bürgerlich-demokratischen Regimes der abstrakten Gleichheit gehört. In ihrem Bestreben, den wirklichen Widersprüchen der Gegenwart auszuweichen, blenden sie den unglaublichen sozialen Fortschritt der letzten Zeit aus. Anders als unsere Vorfahren vor einem Jahrhundert leben wir heute in einer Welt, in der nationale Selbstbestimmung und Gleichheit vor dem Gesetz als globale Normen gelten. Der lange Bogen der nationalen Befreiungskämpfe von Indochina bis Simbabwe spielte eine entscheidende Rolle bei diesem beispiellosen historischen Fortschritt, der seine Grundlage in der globalen Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hatte.
Heute haben wir es mit den Ergebnissen eines Jahrhunderts von Kämpfen gegen Kolonialismus und Rassendiskriminierung zu tun. Und was sind diese? Ungehemmter Kapitalismus und die rücksichtsloseste Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse. Dies hätte Marx oder Lenin nicht überrascht, die Demokratie und nationale Befreiung gerade deshalb enthusiastisch unterstützten, weil sie den Rahmen für die größtmögliche Entfaltung der kapitalistischen Ausbeutung und damit auch für die Möglichkeit ihres Sturzes bildeten. Für die heutige Linke jedoch, die die kommunistische Kritik an der universellen Demokratie als politischem Ausdruck der Universalisierung der Warenform längst vergessen hat, ist ein solches Ergebnis unverständlich. Infolgedessen befinden wir uns in einer verkehrten Welt, in der eine nominell marxistische Linke die Kritik an der Demokratie als »reaktionär« stigmatisiert. Gleichzeitig hat die reale Bewegung der Geschichte die Demokratie selbst vom herausragenden Banner des Kampfes gegen Absolutismus und Kolonialismus in das Hauptbollwerk der Reaktion verwandelt. Waren Demokratie und Selbstbestimmung gestern noch unverzichtbare Rammböcke gegen das göttliche Recht der Könige und die Bürde des weißen Mannes, so sind sie heute der ewige Schlachtruf eines neuen Absolutismus, der sich weltweit durchsetzt. Es handelt sich um den unpersönlichen Absolutismus des Kapitals, der den Bürger als Individuum befreit, indem er ihn versklavt, insofern er einer Klasse angehört.
In unserer Epoche werden die barbarischsten Ausbeutungsakte vom Zerfall Jugoslawiens bis zur Invasion des Irak immer mit dem Hinweis auf Demokratie und Selbstbestimmung gerechtfertigt. Sie bilden die unverzichtbare rechtlich-ideologische Verpackung für die raffiniertesten und ausbeuterischsten Formen der Ausbeutung der Arbeitskraft. Die lange Dämmerung der kapitalistischen Stagnation ist ein morbides Fest der Demokratie, der Freiheit und der Rechte des Menschen. Diejenigen, die der Vernunft und der Aufklärung noch treu sind, brauchen die demokratische Freiheit wie »Licht und Luft«, wie Kautsky sagte, gerade um die demokratische Ordnung selbst frei zu kritisieren.
Aus dem Englischen übersetzte und redaktionell gekürzte Fassung der Einleitung des von Elena Louisa Lange und Joshua Pickett-Depaolis herausgegebenen Sammelbands »The Conformist Rebellion. Marxist Critiques of the Contemporary Left«, der soeben bei Rowman & Littlefield erschienen ist.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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