Könner ohne Aufputz

An diesem Donnerstag wird der Theaterintendant und Regisseur Christoph Schroth 85 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Beim Regisseur Christoph Schroth denke ich an einen Brecht-Satz: »In der Kunst genießen die Menschen das Leben.« Dieser Satz war eine DDR-Weile lang das Motto des Schweriner Theaters. Kunst geht an den Nerv – aber just das ist gesund; Kunst stürzt Verhältnisse um, aber das kostet nicht den Kopf. Doch, den schon: freie Sicht, freie Wahl – ohne freies Denken ginge das nicht. Ginge nicht an den Grund, der uns aufreißt. Das aber ist, solange es Spiel bleiben darf: Genuss.

Von 1974 an hat Schroth in Schwerin, als Intendant und Regisseur, ein Theater betrieben, das zum Fußball aufschloss: Das Publikum kam in Sonderzügen. Zum »Faust« etwa: Das war eine vielfarbige Wollust, die kein einziges Gefühl der Erdenexistenz verheimlichte. Eine Inszenierung zehn Jahre vor Niedergang des roten Sterns: Mephisto trug an der linken Hand (links, wo das Herz ist, das Schmerzzentrum) einen roten Handschuh. Als sei Aufruhr nicht mehr utopische Sternstunde der Massen, sondern zynisches Faustrecht der Einzelnen. 1989 dann der Schweriner »Wilhelm Tell«, über dessen Gastspiel an Berlins Volksbühne Heiner Müller schrieb: »Tumult unter Zuschauern – das war im Oktober 1989 das Freiheitsdrama«.

Schroth, Dresdner des Jahrgangs 1937, hat Journalistik studiert. Ihm gelang die Flucht aus dem Beruf, bevor der ihn verbiegen konnte. Er wurde Assistent am Berliner Maxim-Gorki-Theater, ging 1966 nach Halle, wo seine Inszenierung »Zeitgenossen« (von Jewgeni Gabrilowitsch/Juli Raisman/Armin Stolper) für Furore sorgte. Er gehörte zur energiegeladenen Truppe von Intendant Gerhard Wolfram, Regisseur Horst Schönemann, Dramaturg und Autor Stolper. Es war die Zeit eines besonderen Volkstheaters in der mitteldeutschen Industriestadt. Eine Zeit großer weltanschaulicher Entwürfe, von denen damals kühn und selbstredend gemeint wurde, sie seien morgen schon lebbar. Was im Lande freilich mehr und mehr zu einer trockenen politischen Verlautbarung absackte, es hatte am Hallenser Theater seltsamerweise eine impulsgebende Kraft. Als lebten wir in einem wirklichen Ideendrama. Es kam in Halle zu Kunstmomenten, da die sozialistische Hoffnungsarbeit auf der Bühne in Schauspielgesichter eingeschrieben war, denen man unbedingt glaubte. Es geschah Aufregendes: Menschen entsprachen in ihrer Arbeit einander, und wir wissen, wie selten das geschieht. Aber es bleibt wahr, auch wenn es so oft scheitert: Nichts wirklich Gutes wird erfunden ohne größeren Zusammenhang.

Allerdings: Auch die künstlerische Aufwärtseuphorie der Hallenser trug letztlich den Keim einer ideologischen Selbstgewissheit in sich. Schroth sah’s und zog für sich Konsequenzen. Vereinbart war, Dialektik ernst zu nehmen, das Bild der Gegensätze offen hinzuknallen, das Unvereinbare als Zusammengehöriges zu zeigen. Schönemann etwa inszenierte die Bühnenfassung der »Aula« von Hermann Kant, und Schroth wollte dunklere Farben gegen jedes reine Staatsbejahungstheater setzen. »Ich erinnere mich an heftige Auseinandersetzungen und das erdrückende Gefühl, eine Schlacht verloren zu haben«, so der Regisseur vor Jahren im »nd«-Interview. »Meine Inszenierung der ›Landshuter Erzählungen‹ von Sperr wurde abgesetzt, Lorcas ›Yerma‹ bereits während der Proben beargwöhnt, behindert, abgewürgt.«

Schroth verließ Halle, nicht mehr willens, Folgsamkeit freiwillig als Parteilichkeit misszuverstehen. Er wechselte nach Schwerin, inszenierte an der Berliner Volksbühne, und eines Tages, in der sehr späten Zeit der DDR, rumorten unerträglich laut – unmittelbar vor Beginn der Schatrow-Aufführung »Blaue Pferde auf rotem Gras« am Berliner Ensemble – Motorräder über den Theatervorplatz. Rowdys? Sie gehörten zu Schroths Inszenierung, sein feuriges Lenin-Stück setzte dem zunächst sehr erschreckten Publikum den Benzinhauch einer so ganz anderen Jugend vor, die von den Apologeten des angeblich lohnenswerten Staates nichts mehr hören wollte. Die sich am Schiffbauerdamm gewissermaßen jenen Weg frei knatterte, der ihr ansonsten verbaut schien.

Blaue Pferde auf rotem Gras. Was soll der Unsinn? Das wär ja so, als gäbe die Revolution die Losung aus: Lasst alle Blumen blühn! Soweit kommt’s noch. Nein, soweit kommt’s natürlich nicht, denn die Revolution trägt in ihrem russischen Ursprungsland aus gutem Grund die Sichel auf dem Banner – und wo das Leben sich als Blumen- oder Spielwiese missversteht, da wird gestutzt, gemäht. Wenn die Sichel zu viel Arbeit hat, hilft der Hammer. Und Pferde sind so wenig blau, wie Gras von Natur aus rot ist. Also auch die Fantasie bleibe gefälligst eine Plan- und Vernunftgröße, die Welt ist schließlich erklärbar, sie folgt Gesetzen, und die wissenschaftliche Weltanschauung überantwortet die Kunst einem Realismus, der Metaphysik, Geheimnis und Irrationalität ausschließt. Schatrows Stück attackierte mit Leidenschaft und frecher Frische solche Dogmatik, Schroths Inszenierung befehdete den bürokratischen Mulm sowie den fantasie- und damit intelligenzfeindlichen Starrsinn des Pseudosozialismus.

Berliner Kulturpolitik ist zur Wendezeit zu feige für Schroth. Konkurrenz zeigt ihren innersten Kern, die Intrige, die Missgunst. Der Regisseur bleibt nicht in Berlin, er geht ans Staatstheater Cottbus, als Intendant von 1992 bis 2003. Wieder wird sein Ensembletheater zum Ereignis, weit über die Lausitz hinaus. Wieder pflegt er jene Spektakel aller Sparten und Spielarten, die in Schwerin »Entdeckungen« heißen, nun beziehungsreich »Zonenrandermutigung«.

Ob er Kleist oder Plenzdorf, Brecht oder Schiller, Trolle oder Tabori auf die Bühne brachte, Schroth beschwor stets Menschentugend: selbstkritisches Vermögen und die Lust, jenen Beton der Strukturen zu sprengen, der den Geist und das Gefühl kaserniert. Er steht für ein Theater, bei dem Wurzellosigkeit ein unbekanntes und Schauspieler ein majestätisches Wort ist. Es gab viel Zärtlichkeit und viel Ruhe. Die Zärtlichkeit kam vom Publikum, die Ruhe vom Zeitbesitz. Bei Schroth lebte das Theater davon, dass das Sagen der Wahrheit immer ein wenig abenteuerlich war; heute scheint das Theater manchmal ein bisschen daran zu sterben, dass die Wahrheiten einander aufheben.
Noch einmal denke ich an Halle; Erinnerung an die Anfänge des Regisseurs. Ich sehe Martin Trettau und Kurt Böwe. Trettau, der Schmale, Zähe, dem die Augen oft weit trauriger gelangen, als er es vielleicht selbst im Sinn haben mochte. Böwes Augen dagegen wie Murmeln, kullertoll. Böwe voll kerliger Kraft – Trettau kantig, eher stockend und bedachtsam, mit einem kratzig-leisen Charme, wo Böwe lustvoll dröhnte. Die zwei Zusammengehörigen damals auf den Hallenser Brettern. Zwei stehen hier für alle – eines jeweils großen, großartigen Spieltrupps von Schroth, in Halle, in Schwerin, in Cottbus.

Er wollte als Regisseur auffällig sein nur in Gemeinsamkeit – mit Könnern ohne Aufputz. Weil er das selbst war. Wesensstark wurde er unter Leuten, die kein Wesen um sich machen. Belehrer war er in Verborgenheit, am deutlichsten im Leiseton. Als beratender Diener am fremden Kunstwerk trumpfte er so auf, dass seine Zurückhaltung stets anmutig blieb. Wir sagen zum Theater nicht gern: lange vorbei, deine große Zeit – weil es ein Satz wäre, der auch uns ausspräche. Es ist ja nicht zu tilgen: Das Dasein wie die Kunst sind Vorläufigkeiten in ständig wechselnden Verhältnissen. Aber genau dies ist das Thema, dessentwegen Kunst entsteht. In der die Menschen das Leben genießen.

An diesem Donnerstag wird Christoph Schroth 85 Jahre alt.

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