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Von Widerstand und Ästhetik
Vor 40 Jahren starb der deutsch-schwedische Schriftsteller, bildende Künstler und Filmemacher Peter Weiss
Was bleibt von einem Künstlerleben? Das Werk, sicher. Allerdings, einigen ist ein reicheres Nachleben beschieden als anderen. Max Frisch attestierte seinem Zeitgenossen Bertolt Brecht die »durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers«. Heute fällt es schwer, darüber hinwegzusehen, wie durchschlagend wirkungslos auch Frischs Œuvre daherkommt. Wie aber steht es um das Schaffen von Peter Weiss, dessen Todestag sich zum 40. Mal jährt?
Wie die Bibel in den Bürgerstuben einer vergangenen Zeit und wie auf Dünndruckpapier und wahlweise in einem oder mehreren Bänden erhältlich, steht in den Privatbibliotheken derer, die sich in der Epoche der digitalen Fragmentlektüre so etwas noch leisten wollen, Peter Weiss’ »Die Ästhetik des Widerstands«. Wie die Bibel macht es im Regal ein paar Zentimeter gut, behauptet sich dort als ein verheißungsvolles Symbol, vielleicht sogar als Bekenntnis. Nur zur regelmäßigen Erbauung wird die eine wie die andere Schrift wohl eher selten, mit abnehmender Tendenz in die Hand genommen.
Ein eindringlicher Titel: »Die Ästhetik des Widerstands«. Aber was für ein Opus bildet dieser sperrige, absatzarme Text, der auf den Lesesog seines Publikums hofft? Der essayistisch angelegte Roman in drei Teilen erzählt die Geschichte eines Mannes, eines Arbeiters, der zum Widerstandskämpfer wird. Klug fragt Weiss darin, nach dem Verhältnis von Kunst und Politik, von Avantgarde und gesellschaftlicher Erneuerung. Aber auch die Fragen des antifaschistischen Kampfes jener Jahre finden auf Hunderten Seiten Platz. Diesem literarischen Werk gelingt etwas ganz Außerordentliches: Es ist eine Wissenssammlung enzyklopädischen Ausmaßes. Es stellt selbst die Einheit dar, die es zum Thema macht: von Widerstand und Ästhetik. Vier Dezennien nach Weiss’ Ableben erinnern wir uns an den Schriftsteller vor allem als Urheber dieses gewaltigen Romans. »Was bleibt, ist der Autor eines Jahrhundertwerks, einer anderen Suche nach der verlorenen Zeit«, formulierte es Heiner Müller.
Und jenseits dieses Buches? Weiss ist auch Autor anderer, selbstredend schmalerer, Prosaarbeiten, Mikroromane gar. Es ist bedauerlich, dass in einer Zeit, in der autobiografische Erzählungen mit starker sozialer Verortung, besonders französischer Provenienz, eine Konjunktur erleben, Texte wie »Abschied von den Eltern« sowie »Fluchtpunkt« aus dem Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sind. Weiss ist als Epiker ein genauer Chronist, der exakte Beschreiber von Begebenheiten, ohne dass dieses minutiöse Festhalten aller Feinheiten zu einer Detailverliebtheit wird, die bloße Eitelkeit wäre. Dem Autor ging es um die Verhältnisse, die zuerst eines genauen Abbildes bedurften, um erkannt zu werden.
1916 wurde Peter Weiss als Sohn einer Schauspielerin und eines Fabrikanten tschechisch-jüdischer Herkunft in Nowowes geboren. Der heranwachsende Autor war ein obsessiver Leser: Hesse, Mann, Brecht verschlang er. Bald schon kam er zum Zeichnen. Fast zufällig erfuhr er, dass sein Vater einer jüdischen Familie entstammte. Die Emigration wurde unvermeidlich, zunächst nach England, wo er Fotografie studierte und sich in der Freizeit gleichermaßen Schriftstellerei wie Malerei widmete. Von Hermann Hesse ermutigt, nahm er ein Studium an der Prager Kunstakademie auf. Aber der faschistische Vorstoß in die Tschechoslowakei sollte bald erfolgen.
Weiss zog über den Umweg Schweiz weiter nach Schweden, es sollte ein Exil auf Lebenszeit werden. Mit verschiedenen Hilfsarbeiten musste er seinen Unterhalt bestreiten. Erste Erfolge mit seinen bildnerischen Werken, von expressionistischen Vorbildern beseelt, stellten sich ein. Er schrieb sich an der Kunstakademie in Stockholm ein, war schon bald selbst Dozent für Ästhetik und widmete sich kurze Zeit auch dem experimentellen Film. Seine Prosaarbeiten erschienen zunächst in schwedischer Sprache.
Der bildende Künstler, der Filmemacher Peter Weiss, das sind zwei fast vergessene Identitäten dieses Mannes. Wohl auch deshalb, weil er schon bald mit einer anderen Kunstform reüssierte, die ihn weitaus stärker zu fesseln vermochte: das Theater. Es sind vor allem zwei Stücke, die der Rede wert sind. Das erste trägt den überbordenden Titel »Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade«, das pragmatischerweise zumeist mit »Marat/Sade« benannt wird.
Dieses Drama in zwei Akten ist ganz gewiss ein Produkt seiner Zeit, also der 60er Jahre. An Brecht geschult, hat Weiss ein Historienstück geschrieben, das mit allerhand Skurrilitäten aufwartet und das mit seinen Knittelversen und Liedern ein wahnsinnig temporeiches Theatererlebnis verspricht. Uns werden hier zwei Antipoden aus der Zeit der Französischen Revolution vorgestellt: der Zyniker de Sade, der an die Veränderbarkeit des Menschen nicht zu glauben bereit ist, und der kämpferische Marat, ein jakobinischer Sozialist. Die Stärke des Stückes liegt gerade darin, dem Publikum keinen Gewinner dieses geistigen Widerstreits zu präsentieren, sondern eine Entscheidung im Zuschauer selbst zu erzwingen, ohne sie vorwegzunehmen. Dieser Theatertext wurde und wird an den großen und kleinen Bühnen rauf und runter gespielt; er ist vielleicht das bekannteste, das wichtigste Stück Literatur dieses Autors.
Das andere Drama aus Weiss’ Feder, »Die Ermittlung«, trägt den Untertitel »Ein Oratorium in 11 Gesängen«. Es findet sich kaum auf den Spielplänen der Theater, obwohl es in einer Ringuraufführung der Royal Shakespeare Company London sowie von vier west- und zehn ostdeutschen Bühnen 1965 am selben Abend erstmals einem Publikum vorgestellt wurde und für Furore gesorgt hatte. In diesem Fall wurde das Theater noch einmal seiner Funktion als Agora gerecht – hier wurde öffentlich gemacht, was die Öffentlichkeit anging, was sie betraf. Nachdem er als Zuschauer den ersten Auschwitz-Prozess verfolgt hatte, verwandelte er unter Zuhilfenahme von Bernd Naumanns Protokollen die Geschichte von der Ankunft im Todeslager bis zur vollkommenen Vernichtung durch Verbrennung der Leichen zu einem Opus von Dante’schem Ausmaß. Es ist ein kaum aufführbares Werk, dessen bloße Existenz doch ein Aufbegehren gegen das deutsche Schweigen der Nachkriegszeit darstellte.
Es war ein langer Weg zum Erfolg. Mit kritischer Distanz zum geteilten deutschen Vaterland arbeitete Weiss weiter in Stockholm. Bereits gesundheitlich angeschlagen, widmete er zehn Jahre seines Lebens der Abfassung einer »Ästhetik des Widerstands«. Er starb am 10. Mai 1982 nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus.
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