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Nicht nur Kuschelwahlkampf
Während die Parteien in NRW sehr freundlich miteinander umgehen, nimmt die Aggression auf der Straße zu
Donnerstagabend, der WDR strahlt zur besten Sendezeit eine Diskussion zwischen Thomas Kutschaty von der SPD und Hendrik Wüst von der CDU aus. Wüst ist seit einem halben Jahr Ministerpräsident von NRW, Kutschaty will es nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl am Sonntag werden. Was als Duell angekündigt ist, wird fast zum Duett. Die Moderatorinnen haben Zitate aus den Wahlprogrammen beider Parteien vorbereitet. Die beiden Politiker sollen raten, ob aus dem eigenen Programm oder dem des Kontrahenten zitiert wird. Quer durch alle Themen beanspruchen Kutaschaty und Wüst die meisten Auszüge für sich. Teilweise können beide immerhin Nuancen feststellen. Kutschaty merkt an, die SPD sei für kostenfreie Kindertagesstätten während die CDU von »bezahlbaren« spricht. Die Unterschiede zwischen beiden sind marginal. Auch als beide nach der Zustimmung zu Aussagen aus den Wahlprogrammen von den möglichen Koalitionspartner FDP und Grüne gefragt werden, reagieren Kutschaty und Wüst bei fast allen Fragen gleich. Daumen werden gehoben für die Schuldenbremse, gesenkt werden sie von beiden bei der Frage nach einer Kennzeichnungspflicht für Polizist*innen. Unterschiede finden sich an diesem Abend oft nur in Kleinigkeiten.
Das ist typisch für den aktuellen Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Vor knapp einem Monat schienen einmal Stimmung und Polarisierung aufzukommen. Im Kontext der Aufarbeitung der Jahrhundertflut vom Juli 2021 wurde bekannt, dass die CDU-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser den parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht korrekt informiert hatte. Statt sich um die Flutfolgen zu kümmern, weilte sie länger als ursprünglich zugegeben im Mallorca-Urlaub. Eine SPD-Abgeordnete musste sich im Gegenzug Vorwürfe gefallen lassen, weil ein Mitarbeiter versucht hatte, über Instagram-Freundschaftsanfragen Kontakte zu Heinen-Essers minderjähriger Tochter zu knüpfen. Ziel soll es gewesen sein, »belastende« Fotos vom Mallorca-Urlaub zu erhalten. Eine Entschuldigung und arbeitsrechtliche Schritte gegen den Mitarbeiter folgten, als das bekannt wurde. Trotzdem schien es Anfang April so, als könnte der NRW-Wahlkampf richtig dreckig werden.
Doch so kam es dann nicht. Die Flutkatastrophe, zu der sich Landesregierung und Opposition im Untersuchungsausschuss noch erbitterte Kämpfe geliefert hatten, geriet genauso in den Hintergrund wie die Corona-Pandemie. Auch hier hatten die Oppositionsparteien, gerade im Bezug auf die Schulpolitik, mit starren Regeln und späten Informationen, immer wieder versucht, das schwarz-gelbe Bündnis zu attackieren.
Der Mangel an Polarisierung lag einerseits sicher am Ukraine-Krieg. Die im Landtag vertretenen Parteien sind sich, bis auf die AfD, in vielen Punkten einig. Grundsätzlich unterstützen sie das angegriffene Land. Und auch in den Themen, die für das Land relevant sind, etwa der Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine oder der Beschulung von Kindern aus der Ukraine, unterscheiden sie sich nur in Nuancen.
Der zweite Grund für den zahmen Wahlkampf dürfte sein, dass vier von fünf Landtagsparteien nach der Wahl miteinander koalieren könnten. CDU und FDP können sich nicht angreifen. Sie regieren miteinander. Die Grünen will die CDU auch nicht attackieren. Schwarz-grün oder ein Jamaika-Bündnis locken zu sehr nach der Wahl. Bei der FDP sieht es ähnlich aus. Allzu offensiv will man die Ampel-Partner aus der Bundesregierung nicht angreifen. Sie könnten ja die nächsten Koalitionspartner in Nordrhein-Westfalen sein. Die bisherigen Oppositionsparteien halten sich aus dem selben Grund zurück. Die Grünen geben sich wirtschaftsfreundlich. Die SPD macht klar, dass sie auch mit vielen Forderungen der FDP umgehen könnte.
Während es auf Podien und bei Talkshows zwischen den Parteien äußerst gesittet, beinahe freundschaftlich zugeht, ist das im Straßenwahlkampf anders. Immer wenn ein Bundespolitiker zu Gast ist, sammeln sich Menschen zum Protest. Oft geht es dabei irrational zu. So durfte sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck schon als Satanist bezeichnen lassen. Demonstrant*innen wollten ihn oder andere Politiker*innen schon an mehreren Orten mit Weihrauch bekämpfen. Den Kern des Protests stellen oft verschwörungsideologische Corona-Leugner. Statt der Pandemiepolitik geißeln sie nun Politiker*innen von der CDU bis zu den Grünen als Kriegstreiber. Mona Neubaur, Spitzenkandidatin der Grünen und regelmäßig mit den Promis auf einer Bühne, findet, es spreche für sich, mit Trillerpfeifen statt mit Argumenten zu protestieren. Es sei eine »kleine aber laute Gruppierung«, die versuche die Parteiveranstaltungen »niederzubrüllen«. Schön findet Neubaur das nicht, sie sagt aber auch, dass sie damit leben könne, wenn »diejenigen, die Freiheit, Toleranz und Selbstbestimmung ablehnen, in uns ihre Gegner sehen«. Schwerere Auswirkungen als geworfene Eier, die ihr Ziel verfehlten, hatte das im NRW-Wahlkampf bisher nicht.
Sorgen macht sich auch Thomas Kutschaty. Immer wenn Olaf Scholz im Wahlkampf zu Besuch war, hatte auch die SPD mit lautstarken Gegnern zu kämpfen. Nachdem auch die CDU die gleiche Erfahrung gemacht hatte, schrieb Kutschaty einen Brief an die Konkurrenz, der »nd.DieWoche« vorliegt. Der Sozialdemokrat bedauert darin, dass Gruppen versuchten, »kruden Weltbildern Gehör und Gesicht« zu verschaffen. Es sei inakzeptabel, wenn »radikalisierte Gegnerinnen und Gegnern unserer Demokratie« dafür sorgten, dass andere Menschen Wahlkampfveranstaltungen nicht besuchen. Für Kutschaty ein »nicht hinnehmbarer« Zustand.
Auf das Wahlegebnis werden die Querdenker*innen wohl kaum einen Einfluss haben. Dafür sind ihre Gruppen zu klein. Den Wahlkampf in NRW haben sie aber stark verändert. Baerbock, Scholz oder Merz zuhören, das ist ohne vorherige Anmeldung, Abgabe der Personalien oder in Kauf nehmen von Taschenkontrollen fast nicht mehr möglich.
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