Von Grundlagen und Grundlagenvertrag

Notizen zu einem Kolloquium über deutsch-deutsche Beziehungen - in memoriam Detlef Nakath

Auch ein Kapitel deutsch-deutscher Beziehungen: Lindenberg überreicht Honecker eine Gitarre in Wuppertal.
Auch ein Kapitel deutsch-deutscher Beziehungen: Lindenberg überreicht Honecker eine Gitarre in Wuppertal.

Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben«, kommentierte Egon Bahr den Abschluss des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1972. Lange ist’s her – und beinah nicht mehr wahr. Heute werden Sozialdemokraten genötigt, sich für ihre Ost- und Russlandpolitik zu entschuldigen, die in den 70er und 80er Jahren, einer Zeit hochgerüsteter, sich konträr gegenüberstehender Militärblöcke den Umschlag von einem kalten in einen heißen Krieg zu verhindern half und auf der die wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen hernach zwischen Deutschland und der Russländischen Föderation fußten. Hierzulande ehrlichen Gewissens nicht nur von Sozial-, sondern auch Christdemokraten und Liberalen vertreten.

Der Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten, signiert vor bald 50 Jahren, am 21. Dezember 1972, war eingebettet in ein umfangreiches Vertragswerk, das die Sowjetunion, Polen und die Tschechoslowakei einbezog, die zu den ersten Opfern Hitlerdeutschlands gehörten respektive die größten Opfer unter deutsch-faschistischer Okkupation und im Kampf um die Befreiung erbracht hatten. Peter Brandt, emeritierter Professor an der Fernuniversität Hagen, rekapitulierte am Freitag auf einem Kolloquium in Potsdam, wie es zur Neuen Ostpolitik kam und erinnerte dabei nicht nur an Bahrs legendären, eingangs zitierten Satz. Er offenbarte auch der Öffentlichkeit wenig oder gar nicht bekannte Details. Historisch Interessierte wissen um die Konfontation zwischen beiden deutschen Staaten in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten, eventuell auch um das Scheitern des Deutschlandplans der SED sowie um erste, von Moskau ausgebremste Annäherungsversuche unter DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht und darum, dass gegen heftigen Widerstand der konservativen, von alten und neuem Antikommunismus beeinflussten politischen Elite der Bundesrepublik Kanzler Willy Brandt die Neue Ostpolitik durchsetzte, deren Architekt unbestreitbar Egon Bahr war. Dessen am 15. Juli 1963 vor der Evangelischen Akademie in Tutzing gehaltene Rede »Wandel durch Annäherung« markierte eine entscheidende Zäsur zur Entspannung zwischen Ost und West, die freilich nach einem Dezennium Bonner Hallstein-Doktrin undenkbar gewesen wäre ohne Rückendeckung aus Washington, wo ein junger, unbelasteter Präsident, John F. Kennedy, den Bau der Berliner Mauer zur Wahrung des Status Quo in Europa sowie – fünf Tage vor Bahrs berühmter Rede – der Weltöffentlichkeit seine Überlegungen für eine künftige »Strategie des Friedens« präsentierte. Kaum bekannt dürfte sein, dass Bahr mit seiner Denkschrift vom März 1966 »Was nun?«, in der er einen Stufenplan zur deutschen Einheit skizzierte, von seinem Gesinnungsgenossen und Freund zunächst eine Abfuhr erhielt. Als er sie Brandt übergab, konterte jener, aus Angst, die sich ankündigende Große Koalition zu gefährden: »Um Gottes Willen, das dürfen wir nicht publik machen.« In dem sich Ende jenes Jahres bildenden Kabinett unter Kurt Georg Kiesinger war Brandt dann Außenminister und Vizekanzler. Bahrs Denkschrift hat nunmehr, vor drei Jahren (Wiedergutmachung einer Schwäche des Vaters) Brandts Sohn publiziert, versehen mit einem ausführlichen Vorwort.

Das zweitägige Kolloquium, das am Donnerstag im Domizil der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Berliner Ostbahnhof eröffnet worden ist, war dem Gedenken an den Zeithistoriker Detlef Nakath gewidmet, der unerwartet am 3. Oktober vergangenen Jahres im Alter von nur 71 Jahren verstorben ist. In seinem Nekrolog hat der französische Historiker Jean Mortier den deutschen Kollegen und Freund als einen »Mann der Grundlagen« geadelt, derart dessen Verdienste um die Erschließung und Veröffentlichung von Quellen würdigend, ohne die seriöse Geschichtsschreibung nicht auskommt. Dazu gehören unter anderem die beachtlichen, gemeinsam mit Gerd-Rüdiger Stephan herausgegebenen Dokumentenbände »Von Hubertusstock nach Bonn« sowie »Countdown zur deutschen Einheit«. Der Co-Editor und engste Mitstreiter Nakaths in den letzten drei Jahrzehnten gestand, dass er ohne die stetige Ermunterung durch den Freund ob des Unbills, der DDR-Forschern nach 1990, auch und gerade den damaligen Nachwuchswissenschaftlern, von westlicher Seite entgegenschlug, »längst aufgegeben, resigniert« hätte.

Man kann sich eigentlich noch heute immer wieder wundern, empören, entsetzen, wie nach dem Anschluss der DDR generell mit den zuvor von der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft bemitleideten Brüdern und Schwestern in der »Zone« und schließlich heim ins bundesdeutsche »Reich« geholten Ostdeutschen umgegangen worden ist. Dagmar Enkelmann, Vorsitzende der das Gedenkkolloquium ausrichtenden Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), für die PDS und dann Die Linke Abgeordnete des Potsdamer Landtages sowie des Bundestages, sprach die Ungeheuerlichkeiten offen aus: Mit der ungerechten Umverteilung des Produktivvermögens von Ost nach West nach 1990 ging auch eine schäbige Abwicklung der DDR-Intelligenz einher, »um Platz zu schaffen für die zweite und dritte Garnitur von bundesdeutschen Akademikern«. Man habe es zudem nicht den Ostdeutschen überlassen wollen, ihre Geschichte selbst aufzuschreiben, so Enkelmann. Nakath, nach der »Wende« in der DDR ob seines Respekts und seiner Reputation unter Kollegen und Studenten zum stellvertretenden Direktor des Instituts für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin gewählt, wurde 1993 »aus Mangel an Bedarf« entlassen. Kein Witz.

Er ließ sich nicht unterkriegen, realisierte etliche Projekte, gefördert unter anderem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder der RLS, hatte maßgeblichen Anteil an den inzwischen auf über 200 angewachsenen »heften zur ddr-geschichte« des Berliner Vereins Helle Panke, für den er ebenso aktiv war wie als Vorstandsmitglied in der Brandenburger und Berliner RLS, und brachte über 30 Tagungsbände auf den Markt. Zu Nakaths Hinterlassenschaften gehören das mit Stephan und dem Westberliner Wissenschaftler Clemens Burrichter edierte, über 1300 Seiten umfassende Handbuch »Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000«, »Die SED. Geschichte – Organisation – Politik« (mit Christine Krauss und anderen) sowie weitere Kollektivwerke wie »Im Kreml brennt noch Licht« oder »Die Parteien und Organisationen der DDR«. Ein besonderes Echo fand die letzte Publikation (wieder mit Stephan), »Ausschluss. Das Politbüro vor dem Parteigericht. Die Verfahren 1989/1990«. Dagmar Enkelmann konstatierte: »Detlef Nakath hat eine unauslöschliche Spur hinterlassen, sein Erbe bleibt und wird einen festen Platz in der linken Geschichtsbetrachtung behalten.«

Stephan berichtete von Nakaths jüngstem Projekt – mit chinesischen Partnern; dessen Ergebnisse sind just in Druck gegangen. Siegfried Prokop, Kollege und Mentor von Nakath an der HUB, lobte die von seinem einstigen Eleven organisierten, international renommierten Potsdamer Kolloquien zur Deutschland- und Außenpolitik. Er erinnerte sich auch an dessen frühe wissenschaftliche Meriten, erworben insbesondere mit Untersuchungen zum deutsch-deutschen Handel. Die im Westen gern kolportierte Behauptung, die DDR sei durch den »innerdeutschen« Handel ein heimliches Mitglied der EG gewesen, habe der Doktorand seinerzeit mit der bewusst provozierenden These gekontert: Dann müsste man auch die BRD ein heimliches Mitglied des RGW nennen, des ossteuropäischen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe.

Einen aktuellen Touch brachte die auf Nordeuropa spezialisierte Historikerin Dörte Putensen ein. Sie sprach über Finnland zwischen den Fronten der deutsch-deutschen Konfrontation, die sich durch Nichtbefolgung der Bonner Hallstein-Doktrin, des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruchs, auszeichnete. Nach der gleichzeitigen Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR und BRD 1973, in dem Jahr, in dem beide Staaten auch Uno-Mitglied wurden, habe man in Helsinki jedoch gewisse Schwierigkeiten in Bezug auf das gegenseitig-konträre »Belauern« der beiden deutschen diplomatischen Missionen gehabt. Die von Putensen gewürdigte skandinavische Neutralitätspolitik gibt bekanntlich jetzt, nach dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, nicht nur Finnland auf. Holger Politt steuerte im Lichte seiner langjährigen Erfahrungen als Leiter des RLS-Büros in Warschau Anmerkungen zur polnischen Sicht auf die Beziehungen der beiden deutschen Staaten bei. Eingedenk der gravierenden Traumata bezüglich dreifacher Dreiteilung Polens im 18. Jahrhundert zwischen Preußen, Russland und Österreich sowie der NS-Okkupation habe das Nachbarland besonderes Augenmerk auf die Sicherung seiner Grenzen gerichtet, nach West wie Ost.

Den zweiten Teil des Ehrenkolloquiums bestritt ein Podiumsgespräch mit Christian Nakonz, Mitarbeiter von Bahr im Auswärtigen Amt und von Günter Gaus in der Ständigen Vertretung der BRD in Berlin, Michael Herms, ehemals Mitarbeiter am Berliner Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung, sowie Gerald Diesener, Historiker und Verleger. Herms schilderte, wie es zum Geschenk von Erich Honecker, eine Schalmei, an den Rocksänger Udo Lindenberg kam. Diesener gab Einblicke in interne Debatten unter Leipziger Historikern über das offizielle Geschichtsbild in der DDR, und Nakonz informierte über die Probleme, Kontakte zu DDR-Bürgern zu knüpfen. Zwei würdige, interessante Tage, wenn auch in wissenschaftlicher Erkenntnis nicht so ergiebig wie die von Detlef Nakath ausgerichteten Konferenzen.

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