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Kein Opium des Volkes?

Vor 50 Jahren hielt Heino Falcke auf der Synode des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR seine berühmte »Freiheitsrede«. Karsten Krampitz besuchte den Theologen, dessen Entwurf des Protestantismus den Marxismus als Befreiungsbewegung versteht

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 13 Min.

Heino Falcke wurde 1973 zum Propst von Erfurt berufen. Als er in diesem Amt dann Jahre später die Friedensdekade eröffnete, rief er den Teilnehmern zu: »Lasst uns die Hofnarren des Friedens in unserem Lande sein!« In der alten Zeit waren die Hofnarren die einzigen, die König und Volk die Wahrheit sagten. Worum ging es? Das Primat der Friedenspolitik, auf das sich der SED-Staat für seine Außenpolitik berief, sollte auch im Land selbst gelten, etwa in der Friedenserziehung der Kinder. Kein Strammstehen mehr auf Fahnenapellen, kein Wehrkundeunterricht. Überhaupt, Frieden in der Welt hieß für Heino Falcke Gerechtigkeit. Die Kirche war ihm nicht nur ein Raum der Meditation und Kontemplation; auch ein Ort, wo Menschen einander brauchten. Und Menschen, die einander brauchen, gehen anders miteinander um! Gerechtigkeit auf der Welt bedeutete für Heino Falcke, den Menschen gerecht werden, auch in der Dritten Welt. In den Gemeinden seiner Landeskirche haben die Christen nach einem Landeskirchentag alte Nähmaschinen gesammelt, die sie, wenn nötig, reparierten und zur Partnerkirche nach Tansania verschifften. Mit einer solchen Nähmaschine, riemenbetrieben, konnte eine Mutter eine ganze Familie ernähren! 

»Und jetzt haben wir Krieg«, sagt Heino Falcke und atmet tief durch. »Was soll man raten?« Gewaltverzicht seitens der Ukrainer wäre mörderisch gewesen, die Ukraine doch gnadenlos gleichgeschaltet worden. »Der Putin macht ja alles platt, nich?« In der neueren Geschichte habe es so etwas kaum gegeben. Der 93-jährige habilitierte Theologe war einmal so etwas wie der spannendste Intellektuelle in der DDR. Wir sitzen in seinem Arbeitszimmer in einer Erfurter Seniorenresidenz und wollten eigentlich über etwas ganz anderes reden: über seine berühmte Freiheitsrede, die vor fünfzig Jahren erst die Kirche verändert hat und dann die kleine Republik. Die ersten Friedenskreise waren damals noch von der Mehrheitsgesellschaft belächelt worden – und von der Stasi beobachtet. 

Kirche als kritische Öffentlichkeit

Im DDR-Kirchenbund saß Heino Falcke viele Jahre dem Ausschuss »Kirche und Gesellschaft« vor, in einer Zeit als die Kirche schrumpfte und gleichzeitig mehr und mehr an gesellschaftlichen Einfluss gewann. Das Wort vom »verbesserlichen Sozialismus«, dem sich die DDR-Bürgerbewegung ursprünglich verschrieben hatte, geht auf ihn zurück. Heino Falcke sprach davon vor fünfzig Jahren, auf der Synode des Bundes der Evangelischen Kirche in der DDR (BEK), die vom 30. Juni bis 4. Juli 1972 in Dresden tagte. Gleich am ersten Tag hielt er das Hauptreferat, das Geschichte schreiben sollte: »Christus befreit – darum Kirche für andere«. Der damalige Rektor des Gnadauer Predigerseminars forderte, dass in der Kirche eine kritische Öffentlichkeit entstehen sollte, eine Stätte des freien Wortes. Die Christen im Land rief er auf, mehr Mut zu zeigen. »Furcht macht unmündig … Wer Angst hat, ist beherrschbar.« Die Demokratie, die im Staat zweifellos fehlte, sollten die Leute einfach leben, sich einmischen, ihre Meinung sagen. Was sollte denn passieren? 

Heino Falcke sprach einmal vom DDR-Syndrom: »Der in äußerer Anpassung und innerer Verweigerung gespaltene Mensch«, der die Wahrheit nur im Privaten ausspricht, auf Arbeit aber oder in der Schule und Ausbildung nur politische Lippenbekenntnisse von sich gibt. Diese Grundhaltung, genährt durch zahlreiche Frustrationserfahrungen und das Wunschbild von der westlichen Überflussgesellschaft, sei dann im November 1989 mit Macht an den Tag gekommen, habe sich auf der Straße manifestiert und eine neue Realität geschaffen. 

Im Jahr 1972 war daran aber noch nicht zu denken. So kurz nach dem Machtantritt Honeckers ahnte niemand, dass die DDR schon jetzt mehr Vergangenheit als Zukunft hatte. Im Vorfeld der Synode habe es eine richtige Aufbruchstimmung gegeben, erinnert sich der Theologe. Drei Jahre zuvor hatten sich die ostdeutschen Landeskirchen von der EKD getrennt, jedoch nur organisatorisch, nicht im theologischen Sinne (es hat ja kein Schisma gegeben, keine Kirchenspaltung wie in der Nazizeit). Einen eigenen Kirchenbund hatte man gegründet, den BEK, der in seinem Statut aber die »besondere Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland« hervorhob. Und endlich, nach jahrzehntelangen Rückzugsgefechten, konnte die evangelische Kirche in der DDR mit einer Stimme sprechen, ohne gleich von Staat und Partei als Befehlsempfänger des Westens denunziert zu werden. Aber vor allem: ohne dass die acht Landeskirchen vom Staat gegeneinander ausgespielt wurden. Und noch etwas war geschehen, woran man gerade in Erfurt gern zurückdenkt: Willy Brandt war Kanzler geworden! Seine Ostpolitik veränderte alles, erst recht im Osten, in der DDR-Kirche, wo das Prinzip »Wandel durch Annäherung« seine genuine Fortsetzung fand. Ein Prozess, der sich auch auf der Tagung in Dresden zeigte. 

Dazu sei angemerkt: In der DDR war eine Synode immer mehr als ein Treffen freigewählter Vertreter zur Orientierung und Beschlussfindung im kirchlichen Leben. Synoden auf Kreis- und Landeskirchenebene und freilich auch im DDR-Kirchenbund waren beinahe so etwas wie Ersatzparlamente. Zwar waren sie keine gesetzgebende Legislative, jedenfalls nicht für die Gesellschaft außerhalb des engen kirchlichen Raumes, dennoch wurden hier Themen diskutiert. Aus den Bereichen Bildung, Abrüstung, Umweltschutz – zu denen eigentlich die Mandatsträger der Kreis- und Bezirkstage hätten streiten müssen und selbstverständlich auch die Abgeordneten der Volkskammer. 

Heino Falcke sagt, er habe noch gut vor Augen, wie in den Kirchenparlamenten auf einmal die ökologische Frage diskutiert wurde. In den Siebzigerjahren war das. Der Impuls dazu kam aus der Ökumene, der kirchlichen Erneuerungsbewegung, die weltweit die Konfessionen wieder zusammenbringen will. Heino Falcke hat 1974 an der Konferenz in Bukarest teilnehmen dürfen, ungeachtet der gegen ihn verhängten Reisesperre (von der noch die Rede sein wird). Glaube, Wissenschaft und die Zukunft sei das Thema gewesen, einschließlich der nuklearen Problematik. In Bukarest habe er zum ersten Mal das Wort »sustainable society« gehört. Heino Falcke hält einen Moment inne, »sustainable«, sagt er, »heißt nachhaltig«. Und darum ging es jetzt: um Nachhaltigkeit! Bis dahin sei immer nur von Sozialismus und Kapitalismus die Rede gewesen, von sozialen Fragen und Friedensfragen. Der Bericht des Club of Rome aber (»Die Grenzen des Wachstums«) hatte die Probleme der Welt neu definiert. »Das ist doch unsere Verantwortung«, sagt Heino Falcke. »Wir haben Verantwortung für die Schöpfung und nicht bloß für die menschliche Gesellschaft.«

Systemwandel, nicht Systemwechsel

Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 war das einzige reformsozialistische Projekt gescheitert und damit auch die Hoffnung vieler linker Theologen wie Josef Hromádka. Im Umfeld der Ökumene aber hat es in all den Jahren noch einen Dialog von Christen und Marxisten gegeben. Denn oft genug kämpften sie Seite an Seite in den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Von dieser Inspiration hat Heino Falcke in einem Interview berichtet, das in dem Gesprächsband »Selbstbewahrung oder Selbstverlust« zu finden ist. Die Religionswissenschaftler Hagen Findeis und Detlef Pollak haben für das Buch nach der Wende die wichtigsten Repräsentanten des DDR-Protestantismus befragt. Heino Falcke erzählt darin: »Wir haben Lenin gelesen, ›Staat und Revolution‹, und uns klargemacht, inwiefern unsere Gesellschaft gar nicht auf Marx zurückzuführen war, sondern auf Lenin.« Die Unterscheidung von vorrevolutionärem Sozialismus und nachrevolutionärem Sozialismus sei ihm damals klargeworden. Der junge Marx war wichtig. »Und nicht nur für mich, sondern für eine ganze Gruppe junger Theologen wurde das emanzipatorische Element im Marxismus entscheidend für die Gesellschaftskritik in der DDR.« Eben dieses emanzipatorische Element, dass der Marxismus in seinem Grundimpuls eine Befreiungsbewegung war, habe er 1972 zum Kernpunkt seines Dresdner Referats gemacht. 

Die Welt könne und müsse verbessert werden. Doch eine zu befreiende Welt brauche auch eine befreite Kirche. Christus befreie aus der lähmenden Alternative zwischen prinzipieller Antistellung und unkritischem Sich-vereinnahmen-Lassen zu konkret unterscheidender Mitarbeit. »Das ist gerade nicht eine Ideologie des Sich-Heraushaltens oder eines dritten Weges. Es ist der Weg einer aus Glauben mündigen Mitarbeit.« Der Sozialismus sei angetreten mit dem Anspruch, alle Selbstentfremdung und Knechtschaft abzuschaffen und das Reich der Freiheit zu bringen. »Der befreiende Christus, seine Solidarität mit den Leidenden, seine Verheißung der Freiheit nötigt uns, den sozialistischen Protest gegen das Elend des Menschen aufzunehmen und mitzuarbeiten an der Aufgabe, unmenschliche Verhältnisse zu wandeln, bessere Gerechtigkeit und Freiheit zu verwirklichen.« 

Diese Aufgabe, gegen Unfreiheit und Ungerechtigkeit zu kämpfen, bleibe auch in der DDR-Gesellschaft, denn die Geschichte stehe unter dem Kreuz und zugleich unter der Verheißung des befreienden Christus. »Diese Verheißung trägt gerade auch da, wo die sozialistische Gesellschaft enttäuscht und das sozialistische Ziel entstellt oder unkenntlich wird.« Gerade weil Christen dem Sozialismus das »Reich der Freiheit« nicht abfordern müssten, würden sie nicht »billige Totalkritik« betreiben, die Ideal und Wirklichkeit des Sozialismus vergleicht und sich zynisch distanziert. Es folgte der historische Satz: »Unter der Verheißung Christi werden wir unsere Gesellschaft nicht loslassen mit der engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialismus.« Der Beifall der Synodalen am Schluss des Referates soll enorm gewesen sein. 

Gescheiterte Hoffnungen

»Ich wollte einen Systemwandel«, sagt Heino Falcke, »keinen Systemwechsel.« Seine Hoffnung auf eine Demokratisierung der DDR hat sich als bitterer Irrtum erwiesen. Und doch war es diese Hoffnung und Erwartung, mit der seinerzeit das System provoziert werden musste. Im Jahr 1997 gehörte der Propst im Unruhestand zu den Erstunterzeichnern der »Erfurter Erklärung«. »Da war was los«, lacht Heino Falcke, »als ich das Papier in der Augustinerkirche erklärt habe.« Er spricht mit warmer Stimme, leise, aber wohl überlegt. Vor drei Jahren, zu seinem 90. Geburtstag, schrieb eine sächsische Kirchenzeitung, er sei fit, engagiert und meinungsfreudig und seine Analyse immer noch messerscharf. »Immer ist er bestens informiert, zugewandt, gleichzeitig tief ernst und gottfröhlich.« Der Frohsinn ist ihm mittlerweile abhandengekommen, seit dem 24. Februar. Heino Falcke seufzt und schüttelt den Kopf. Nein, einen solchen Krieg in Europa habe er nicht für möglich gehalten. Seine Gestik wirkt schwerfällig, die Gedanken aber sind klar und frei. Wie war das bei Hegel? Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug in der Abenddämmerung. Auch wenn manchmal das Gedächtnis hapert…

Frage: Die Formel »Kirche für andere« aus dem Titel seines Dresdner Vortrags ist doch ein Wort von Bonhoeffer? »Das stimmt«, sagt Heino Falcke. Aber er wisse nicht mehr, aus welchem Text. »Ich bin dreiundneunzig!« In der Zeit der Bekennenden Kirche sei das gewesen und dass Bonhoeffer gemeint habe, die Kirche solle nicht um ihre Selbsterhaltung besorgt, sondern für andere da sein. Damals auf der Dresdner Synode hat er das intellektuelle Kunststück fertiggebracht, die politischen Verhältnisse so zu kritisieren, ohne dass der SED-Staat ihn dafür kriminalisieren konnte. Bis dahin hatte in der DDR allein die Partei die Nutzungsrechte am Begriff »Sozialismus« beansprucht. Jede von der Linie abweichende Verwendung war streng geahndet worden; SED-Häretiker wie Robert Havemann und Wolf Biermann waren vom Politbüro geächtet worden. Und auch Falckes Synodalvortrag sollte staatlicherseits heftige Reaktionen hervorrufen. Noch am selben Abend kam es, während ein ökumenischer Empfang gegeben wurde, zur Geheimsitzung der Bischöfe. Der Rat des Bezirkes Dresden hatte eiligst das Präsidium der Synode einbestellt. Der Ärger war groß. Doch Bischof Schönherr, der Vorsitzende des Kirchenbundes, sollte Recht behalten: »Naja, Bruder Falcke, ein paar Jahre Reiseverbot werden sie wohl kriegen. Aber ich denke nicht, dass Ihnen sonst etwas passieren wird.« 

Die eigentliche historische Bedeutung seiner Freiheitsrede lag aber darin, dass Heino Falcke bereits 1972 den oppositionellen Friedens- und Umweltgruppen in der DDR der Achtzigerjahre das intellektuelle Rüstzeug gab für die anstehenden innerkirchlichen Auseinandersetzungen à la »Kirche ist für alle da, aber nicht für alles!« – ein Satz, der auf Werner Leich zurückgeht, den Thüringer Bischof, der 1986 einem Journalisten der Hamburger »Zeit« in den Block diktierte, der Staat könne sich darauf verlassen, dass die Kirche nicht in die Opposition geht. Auf die Frage nach der Friedensbewegung in der Kirche antwortete Bischof Leich: »Es gibt keine organisierten Friedensgruppen.« Das stimmte nicht in Thüringen und schon gar nicht in Erfurt! Darauf angesprochen, nickt Heino Falcke zustimmend. Erfurt war nicht Thüringen, jedenfalls kirchenrechtlich gesehen. 

Theologische Entwicklungslinien

Kleiner historischer Exkurs: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Stadt und ihr Umland Teil des preußischen Staatsverbandes geworden. Die evangelische Kirche gehörte hier anderthalb Jahrhunderte zur Kirche der altpreußischen Union (APU); die Erfurter Protestanten waren nicht evangelisch-lutherischer Konfession, sondern mit den reformierten Kirchen uniert. Die Gotteshäuser der Stadt tragen noch heute die Selbstbezeichnung »evangelische Kirchengemeinde« und nicht »evangelisch-lutherisch«. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Aufteilung der APU in einzelne Provinz- beziehungsweise Landeskirchen gehörte der Erfurter Kirchensprengel dann zur Magdeburger Landeskirche, das heißt zur Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (nicht zu verwechseln mit der sächsischen Landeskirche, deren Bischof in Dresden sitzt). 

So erklärt es sich, dass Heino Falcke in seinem Amt als Propst von Erfurt nicht den Bischof in Eisenach vertrat, sondern den Bischof in Magdeburg: Werner Krusche, der die »Kirche in der ideologischen Diaspora« immer auch als Seismograf verstand, für die Rechte des Einzelnen. Dass beide Landeskirchen eines Tages zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland fusionieren würden, so geschehen am 1. Januar 2009, war zu DDR-Zeiten undenkbar. Das Konsistorium in Eisenach und die Propstei in Erfurt standen in der späten DDR, vereinfacht ausgedrückt, für zwei diametral verschiedene theologische Denkrichtungen. In der Thüringischen Kirchenleitung sah man sich der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre verpflichtet, wonach die Bergpredigt allein in einer gläubigen Christengemeinschaft ihre Anwendung findet und ansonsten auf Erden eine von Gott bestellte Obrigkeit herrscht. In Erfurt dagegen orientierten sich der Propst und die meisten Gemeindepfarrer an einer theologischen Tradition, für die Karl Bart steht, in der auch Politik und Gesellschaft unter der »Königsherrschaft Christi« stehen. In diesem Denken war der Kommunismus keine existenzielle Gefahr für Kirche und Glauben, sondern eine kritische Infragestellung der westlichen Welt, der sich die Kirche nicht durch Antikommunismus entziehen durfte. 

Aus dieser Prämisse heraus sind Heino Falckes Wortmeldungen zu verstehen, allen voran die Rede von 1972. Seiner Erinnerung nach wollte er damals den Freiheitsbegriff aus der politischen Polemik zwischen Ost und West herausholen: »Ich wollte zeigen, die Befreiung durch Christus ist eine andere; sie hat einen tieferen Grund und weist eine eigene Lebensrichtung. Aber vor allem: Was bedeutet eigentlich die Freiheit eines Christenmenschen, die in der DDR zu leben ist?«

Auf SED-Seite sah man das dezidiert anders. In einem Papier der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim Zentralkomitee ist von »bürgerlicher Ideologie« die Rede, von »Sozialdemokratismus und Revisionismus«. Falckes Referat sei ein Versuch der klerikalen Auseinandersetzung gewesen, gegen »Grundpositionen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung«. Geschickt und vorsichtig formuliert seien Alternativvorstellungen dargelegt worden: gegen die marxistische Auffassung vom Menschen, von der Arbeit und von der führenden Rolle der Partei. Obwohl sich der Kirchenbund dem staatlichen Druck beugte und noch während der Synode dem Vortrag die Bestätigung als offizielles Synodendokument verweigerte, so dass er bis zum Ende der DDR dort nicht gedruckt werden sollte, kursierte dieser Text in zahlreichen Kopien und wurde zur geistigen Grundlage einer neuen Identität des ostdeutschen Protestantismus. 

Notfalls auch mit Gewalt

Und heute? Heino Falcke sagt, er sei tief unglücklich über die politischen Ereignisse der letzten Monate. »Weil alles, was wir versucht haben in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Aufarbeitung dieser katastrophalen Tradition, die wir da hinter uns hatten …« Er wird den Satz nicht zu Ende sprechen, nur mit dem Kopf schütteln. »Und jetzt haben wir Krieg in Europa. Und ich sehe keinen Ausweg.« 

Was wohl Karl Barth, sein alter Professor, zum russischen Angriffskrieg gesagt hätte? Immerhin hat der sogar 1938 aus dem Schweizer Exil heraus zum militärischen Widerstand gegen die Deutschen aufgerufen! In der »Tschechenkrise« war das, in einem offenen Brief an seinen Prager Freund, den oben erwähnten Theologen Josef Hromádka. Die Leitung der Bekennenden Kirche hatte sich damals umgehend von Barth distanziert: »Da spricht nicht mehr der Lehrer der Theologie«, hieß es, »sondern der Politiker!« Falcke erklärt, dass Karl Barth diesen Aspekt in seiner Theologie bewusst offenlässt. Denn es könne sehr wohl Situationen geben, in denen sich Menschen mit Gewalt gegen Knechtschaft und Unterdrückung wehren müssen. »Gott lässt sich nicht in Prinzipien einsperren«, sagt Heino Falcke.

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