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- Filmfest München 2022
Lieber Mackerwelt statt Ideologiegeblöke
Beim Filmfest München sind in diesem Jahr auffällig viele Filmcharaktere auf der Suche nach ihrer Identität
Am 23.6. beginnt das 39. Filmfest München und wie üblich werden in dem traditionellen Zeitraum Ende Juni – eingeteilt in verschiedene Sektionen und Wettbewerbe – Dokumentar-, Spiel- und Kurzfilme vorgestellt. Dabei widmet sich das Festival unter anderem Filmen von bereits etablierten Filmemacher*innen, etwa in der Filmreihe »Cinemasters«. Dort wird neben »Broker«, dem neuen Film des japanischen Regisseurs Hirokazu Kore-Eda (»Shoplifters«) auch »Petite Solange« von Axelle Ropert präsentiert. Die Teenagerin Solange muss darin die Entfremdung und schließlich Scheidung ihrer Eltern nicht nur aus nächster Nähe beobachten und miterleben, sondern an und in der für sie kaum rationalisierbaren Situation auch buchstäblich erwachsen werden. Roperts Film ist präzise beobachtet und spielt hinsichtlich Bildgestaltung und Kameraführung mit der Ästhetik des Nouvelle Vague und dem französischen Kino der 60er und 70er Jahre. »Petite Solange« konkurriert mit neun weiteren internationalen Produktionen um den Arri-Award und 50 000 Euro Preisgeld.
In der Reihe »Neues Deutsches Kino«, das weniger etablierte Nachwuchsfilmemacher*innen präsentiert, werden insgesamt 70 000 Euro Preisgeld verliehen, unter anderem 30 000 Euro für die beste Nachwuchsregisseur*in. Hier, wie im gesamten Festivalprogramm, geht es in vielen der Produktionen um Fragen der Identität, darum, wie in einer von vielen Menschen als feindlich und fordernd empfundenen, von materiellen Zwängen und Konventionen durchzogenen Wirklichkeit die Figuren ihren Platz finden können und wie schwer die Suche nach einer solchen ist. Bereits in »Petite Solange« ist das Thema, ebenso in den weiteren im Vorhinein zur Sichtung zur Verfügung gestellten Filmen des »Neuen Deutschen Kinos«.
Eine besonders interessante Form findet dabei etwa die Regisseurin Marina Hufnagel mit dem so genannten »Hybridfilm«, also einer Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm. Während Hufnagels Protagonistin eine fiktive Figur ist und von der Schauspielerin Marie Tragousti dargestellt wird, sind die übrigen Personen im Film reale Menschen, hauptsächlich junge Klimaaktivist*innen. Denn darum geht es in »Solastalgia«, um den Kampf gegen die Folgen des Klimawandels, für eine wirksame Klimapolitik und das Engagement hauptsächlich junger Leute für einen auch in Zukunft lebenswerten Planeten. Die Hybridform führt dabei einerseits zu einer erzählerischen Verdichtung, an der fiktiven Protagonistin Edda lassen sich beispielsweise politische Konflikte gut personalisieren, sie hat aber auch ihre Tücken. Unter anderem ist Edda zu didaktisch konstruiert, und letztlich ist ihre Rolle kaum mehr als ein Zusammenführen der verschiedenen dokumentarischen Stationen. Dennoch ist das eine durchaus interessante, neue Form, die es weiterzuverfolgen gilt.
Neben dem reinen Dokumentarfilm »Liebe Angst« von Sandra Prechtel, in dem sie die Geschichte der Sängerin Kim Seligsohn und ihrer Mutter, der Holocaust-Überlebenden Lore Kübler, erzählt und wie die beiden Frauen einen Weg zueinander zu finden versuchen, findet sich mit »Performer« von Regisseur Oliver Grüttner auch ein Film, der zwar in der Erzählung immer fiktiv bleibt, aber zumindest formell mit dokumentarischen Elementen spielt. Grüttner gelingt hier ein nur 50-minütiges, aber sehr eindrucksvolles Porträt eines Teenagers, der zwischen bürgerlich-liberalem Elternhaus, dem Gruppendruck der Clique, wilden Incel-Fantasien und den Erniedrigungen der Pubertät eine Gewalttat plant. Grüttner zeigt seinen »Helden« teilweise minutenlang, wie er sich mit einem Gewehr vor der Webcam an seine Follower wendet, dann wieder tanzend mit einer Gleichaltrigen in der Disco und beim missglückten Date. So gelingt es Grüttner, die Tatsache begreifbar zu machen, dass für den nach einer brauchbaren Identität suchenden Tim die düsteren Mackerwelten der Internetforen verführerischer sind als das glatte bürgerliche Ideologiegeblöke der Eltern und Lehrer.
Ganz andere Sorgen hingegen hat Mascha in »Der Russe ist einer, der Birken liebt«, der Verfilmung des gleichnamigen Romans der deutsch-asberbaidschanischen Schriftstellerin Olga Grjasnowa von 2012. Maschas Freund Elias stirbt nach einem eigentlich harmlosen Sportunfall, womit die junge Frau in eine Krise gerät, überhastet nach Israel reist und sich in amouröse und sonstige Abenteuer stürzt. Der Film wird fast ausschließlich von der großartig spielenden Aylin Tezel als Mascha getragen, ist sehr schön fotografiert und von Regisseurin Pola Beck mit viel Ruhe und Einfühlungsvermögen inszeniert, jedoch konzentriert er sich in der Begründung von Maschas Krise zu sehr auf die zu wenig intensiv inszenierte Beziehung zu dem blassen Elias und zu wenig auf den im Roman eine größere Rolle spielenden Hintergrund der Protagonistin, die als jüdischer Kontingentsflüchtling als Kind nach Deutschland gekommen war.
Ebenfalls um jüdische Identität geht es in »Nicht ganz koscher«, allerdings ist die Geschichte von dem jüdischen Orthodoxen Ben, der zunächst nach Israel reist, um von einem Heiratsvermittler eine Ehefrau zu erhalten, dann aber in Alexandria die letzte jüdische Gemeinde in Äqypten vor der Enteignung bewahren soll, auf dem Weg dorthin in der Wüste Sinai strandet und schließlich von dem sein Kamel suchenden Ägypter Adel gerettet werden muss, so wenig ernst gemeint wie sie klingt. Und auch wenn das Setting selbst für eine Komödie zu konstruiert und die Botschaft von der religiöse Feindschaften überwindenden Nächstenliebe arg banal ist, gelingen den Regisseuren Stefan Sarazin und Peter Keller doch einige hübsche Pointen und ein insgesamt sehenswerter Film über zwei etwas aus der Zeit gefallene Männer in der Wüste.
In jedem Fall verspricht das Filmfest München auch in diesem Jahr ein interessantes Programm weit über die hier kurz vorgestellten Filme hinaus. Das Festival endet am Abend des 2. Juni mit der »Award Ceremony«.
Filmfest München vom 23.6 bis 2.7.; mehr Infos unter: www.filmfest-muenchen.de
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