- Politik
- Linkspartei
»Mit einer Stimme – das können die anderen doch auch«
Linke-Vorsitzender Martin Schirdewan über das Soziale als Markenkern, ein Ende der Selbstbeschäftigung und die Radikalität der Verhältnisse
Seit einer Woche sind Sie Vorsitzender der Linken. Was hat Sie in der schwierigen Lage der Partei bewogen, sich für dieses Amt zu bewerben?
Martin Schirdewan, 46, ist seit einer Woche gemeinsam mit Janine Wissler Vorsitzender der Linkspartei. Er arbeitete bei der Zeitschrift "Antifa" und verschiedenen Publikationen der PDS und der Linken mit und war für die Rosa-Luxemburg-Stiftung international tätig. Seit 2017 ist er Abgeordneter im EU-Parlament, seit 2019 gehört er zur Doppelspitze der linken Fraktion. Nach seiner Wahl zum Linke-Vorsitzenden war er zwei Tage in Berlin, im Karl-Liebknecht-Haus. Zum Online-Gespräch per Zoom schaltete er sich aus Pamplona zu, die nächsten Termine führen ihn nach Ankara und Strasbourg. Wie er zwei anspruchsvolle Jobs miteinander vereinbaren will – auch das fragten wir ihn im nd-Interview.
Ich habe gemerkt, dass viele Genossinnen und Genossen mich und mein politisches Angebot unterstützen. Und ich kann den Parteivorstand mit einer europapolitischen Perspektive bereichern. Schließlich sind die nächsten bundesweiten Wahlen die Europawahlen 2024.
Welche Erfahrungen aus dem Europaparlament sind denn nützlich für Ihre neue Aufgabe?
In unserer Fraktion sind 39 Abgeordnete aus 13 europäischen Ländern organisiert, die sich dann noch mal in 18 Delegationen organisieren. 18 verschiedene politische Kulturen müssen zusammengeführt werden. Der Fraktionsspitze ist es gelungen, aus diesen verschiedenen Perspektiven und Traditionslinien gemeinsame Positionen zu entwickeln und politische Erfolge zu erstreiten. Ich bin aber auch mit einer politischen Idee angetreten, wie die Partei an Profil gewinnen kann und wie wir sie inhaltlich, strukturell und kulturell weiterentwickeln sollten. Offenbar hat das die Mehrheit des Erfurter Parteitags überzeugt.
Aus der engeren Linke-Führung hat bei der Vorstandswahl auf dem Parteitag niemand mehr als zwei Drittel der Stimmen bekommen. Ist das ein Zeichen der Zerrissenheit der Partei?
Ich hatte mehrere Gegenkandidaten, da sind 61 Prozent im ersten Wahlgang ein starkes Ergebnis. Ich hatte doppelt so viele Stimmen wie der nächstfolgende Kandidat. Das ist ein Votum, das mir persönlich und der politischen Kursbestimmung auf dem Parteitag den Rücken stärkt. Entscheidend ist, dass wir jetzt mit einer Stimme sprechen und solidarisch miteinander umgehen. Dass wir also die inhaltlichen Beschlüsse gemeinsam vertreten und so das Profil der Partei wieder deutlicher erkennbar machen.
Was lässt Sie hoffen, dass es jetzt tatsächlich so etwas wie einen Neuanfang gibt?
Die Vielfalt in der Linken entwickelte sich in den letzten Jahren immer mehr von der Bereicherung zur Beliebigkeit. Vor allem, weil inhaltliche Klärungsprozesse nicht stattgefunden haben. Dieser Parteitag hat jetzt zu zwei zentralen Konfliktlinien eindeutige demokratische Beschlüsse gefasst. Zum einen in der Außen- und Sicherheitspolitik, wo – befeuert durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands – eine Klärung unabdingbar war. Zum anderen in der Klimapolitik, wo uns eine Versöhnung der sozialen und der ökologischen Fragen gelungen ist. So wollen wir eine schnellstmögliche Energiewende und den Ausstieg aus fossilen Energieträgern, auch aus russischen. Dafür wäre ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen sinnvoll, auch um die betroffenen Regionen abzusichern, mit Jobgarantien für die Beschäftigten und um den notwendigen Umbau im Bereich Mobilität in Gang zu setzen. Energiewende bedeutet für uns auch Demokratisierung und Rekommunalisierung von Energieproduktion, die Entmachtung der großen Energiekonzerne.
Der neue Vorstand war kaum gewählt, da hat Sahra Wagenknecht ihn praktisch als Fehlbesetzung bezeichnet. Woraus ziehen Sie die Hoffnung, dass Die Linke zusammenfindet?
Der Parteitag hat seine Entscheidungen mit klaren Mehrheiten gefällt. Diese demokratischen Entscheidungen müssen jetzt respektiert werden. Der Parteivorstand muss, gestützt auf die Beschlüsse des Parteitages, zum strategischen Kraftzentrum der Partei werden – in Abstimmung mit den Landesverbänden und der Bundestagsfraktion. Ziel muss sein, dass alle führenden Politikerinnen und Politiker der Linken in der Öffentlichkeit mit einer Stimme sprechen, also tatsächlich eine gemeinsame Position vertreten. Das gelingt anderen Parteien; ich sehe keinen rationalen Grund, warum das der Linken nicht gelingen sollte.
Was wollen Sie genau tun, damit der Parteivorstand diese Bedeutung bekommt?
Ich bin mir sicher: Angesichts unserer schwierigen Situation haben alle verstanden, dass es auf diese Geschlossenheit ankommt. Das war der Wunsch des Parteitags an die führenden Akteurinnen und Akteure. Ich denke, dass sie diesen Wunsch vernommen haben und sich gefälligst dran halten werden. Dafür möchte ich Abstimmungsprozesse verbessern, wie wir uns zu gesellschaftlichen Entwicklungen positionieren. Ein Beispiel: Was sagen wir zur Nahrungsmittelpreiskrise? Da sind wir schnell einig bei der Forderung nach kostenlosem Mittagessen in Schulen und Kindergärten und nach einem Verbot von Spekulation mit Nahrungsmitteln, aber bei der Frage, wie man die Preisexplosion stoppen kann, gibt es unterschiedliche Ansätze. Daraus müssen wir eine gemeinsame Position entwickeln und die geschlossen vertreten.
Seit Jahren bekämpfen sich die Spitzen von Fraktion und Partei. Es ist bekannt, dass die aktuelle Fraktionsspitze andere Kandidaten für den Vorsitz unterstützt hat. Wie wollen Sie unter diesen Umständen zu einer gemeinsamen Politik finden?
Ich sehe da jetzt kein so großes Problem, zu einer Abstimmung mit der Fraktionsspitze zu gelangen. Es ist natürlich ein akut anstehendes Ziel, das herzustellen, dass Fraktion und Partei Positionen gemeinsam vertreten. Ich habe aber wahrgenommen, dass alle Beteiligten verstanden haben, dass ein Weiter-so eine Verschärfung der hausgemachten Krise bedeutet.
Welche Anzeichen für diese Einsicht gibt es?
Wir alle haben ein gemeinsames Interesse: dass es eine starke moderne, sozialistische Gerechtigkeitspartei in diesem Land gibt. Die Ampel-Regierung lässt viel Raum für uns. Die aktuelle Entwicklung setzt politische Konflikte auf die Agenda, und zwar in einer Radikalität, wie seit Gründung der WASG als Folge der Hartz-IV-Proteste nicht mehr. Der gesellschaftliche Wohlstand wird immer ungerechter verteilt. Eine Situation, in der Die Linke dringend gebraucht wird und die auch viele Chancen bietet. Ich weiß, dass die Fraktionsspitze das auch so sieht.
Aus der Partei gibt es Druck, dass auch die Fraktion einen personellen Neuanfang machen soll. Befürworten Sie das?
Vor allem brauchen wir eine gute Zusammenarbeit zwischen Partei- und Fraktionsspitze, um die Vielstimmigkeit in eine konstruktive und produktive, einheitliche Position zu verwandeln.
Das ist doch schon versucht worden. Warum soll es diesmal klappen?
Weil wir die gleiche Analyse haben. Ich gehe davon aus, dass wir mit einer guten Abstimmung zu besseren gemeinsamen Schlussfolgerungen kommen.
Ein Führungswechsel in der Fraktion ist dafür nicht nötig?
Das ist jetzt nicht die dringende Diskussion. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir unser Profil stärken und unseren Gebrauchswert unter Beweis stellen können. Denn wir erzielen ja durchaus Erfolge – in der EU zum Beispiel im Kampf um die Einführung eines europäischen Mindestlohnes. Die Bundestagsfraktion hat gemeinsam mit den links regierten Bundesländern super agiert bei der Frage des Bundeswehr-Sondervermögens und der Aufrüstung der Nato. Die Länder setzen beitragsfreie Kindergartenjahre, die Befreiung von Straßenausbaubeiträgen oder Vergabemindestlöhne durch. Wir müssen wieder lernen, unsere Erfolge zu kommunizieren! Personaldiskussionen sind zweitrangig. Und in einem Jahr wird der Fraktionsvorstand ohnehin neu gewählt.
Am Ende hängt die Entwicklung der Linken maßgeblich davon ab, wie sich der Wagenknecht-Flügel entscheidet. Haben Sie es tatsächlich in der Hand, die Partei aus der Krise zu führen?
Wir sollten den Fokus nicht so auf das Klein-Klein interner Konflikte richten, sondern auf unsere Themen. Nur dadurch werden wir unser Profil als sozialistische Gerechtigkeitspartei stärken. Und da sind die Unterschiede in der Linken gar nicht so groß. Die Bedeutung der sozialen Frage – der Brot-und-Butter-Themen – ist in allen Teilen der Partei anerkannt.
Was ist Ihrer Meinung nach an den Vorwürfen aus einem Teil der Linken dran, dass die Partei ihre Hauptzielgruppe, also die abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen, und die soziale Frage vernachlässigt habe?
Die Linke hat die soziale Frage immer als ihren Markenkern betrachtet und so auch nach außen vertreten. Das Gleiche gilt für Die Linke als die Friedenspartei. Die Energiewende, der sozialökologische Umbau, der digitale Umbau der Gesellschaft – das wird alles von links, aus der sozialen Perspektive beantwortet. Ich werde das als Vorsitzender zusammen mit Janine Wissler weiterhin tun.
Worum geht es dann aber im Streit in der Linken?
Ich bin erst seit wenigen Tagen Vorsitzender. Und ich sehe es als einen Vorteil, von dem Streit der Vergangenheit unbelastet zu sein.
Sie sind aber schon lange in der Linken.
Mein Ziel ist, eine einheitliche Kommunikation herzustellen und Die Linke voranzubringen. Deshalb möchte ich die internen Auseinandersetzungen intern klären.
Laut Parteitagsbeschluss lehnt die Linkspartei Waffenlieferungen in die Ukraine ab. Gleichzeitig haben namhafte Linke-Politiker wie Bodo Ramelow und Klaus Lederer deutlich gemacht, dass sie Waffenlieferungen berechtigt finden, weil man es nicht dabei belassen könne, das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine anzuerkennen. Was gilt denn nun?
Die Ukraine hat jedes Recht, sich zu verteidigen. Aber unsere Position als deutsche Linke ist nicht, dafür Waffen zu liefern, sondern ihr mit humanitären und finanziellen Mitteln, mit ökonomischem und politisch-diplomatischem Druck beizustehen.
Aber da ist doch wieder diese Vielstimmigkeit. Wie reagieren Sie darauf? Rufen Sie Bodo Ramelow dann an?
Es ist innerhalb eines demokratischen Diskurses völlig legitim, abweichende Meinungen zu formulieren. Die müssen nur als Einzelmeinung gekennzeichnet sein und dürfen nicht zur Parteilinie erklärt werden. Noch einmal: Die führenden Leute müssen die Beschlusslage gemeinsam vertreten.
Sie halten die Krise der Linken für hausgemacht. Ist es nicht auch so, dass die Folgen der Coronakrise und die russische Aggression gegen die Ukraine Die Linke vor neue Fragen gestellt haben, mit denen sie sich schwer tut?
Dass wir unsere Weiterentwicklung auch auf programmatischer Ebene vorantreiben müssen, habe ich immer deutlich gemacht. Das prominenteste Beispiel ist der vermeintliche Gegensatz zwischen sozialer und ökologischer Frage. Da hat der Parteitag jetzt eine eindeutige Antwort gegeben. Klärungsbedarf gibt es etwa auch bei der Frage, wie der digitale Umbau der Gesellschaft und der Arbeitswelt zu gestalten ist. Wir stehen da eindeutig an der Seite derer, die von der technologischen Entwicklung ausgeschlossen sind. Auch das zweite, dritte und vierte Kind einer einkommensschwachen Familie soll mit einem Tablet am Homeschooling teilnehmen können. Und wir stehen an der Seite derer, die für gute Arbeitsbedingungen streiten. Die Ausbeutung in der digitalen Ökonomie, in den Lieferservices, Callcentern und Verteilzentren muss beendet werden. Und vor der Wahl des EU-Parlaments 2024 brauchen wir auch inhaltliche Klärungen in der Europapolitik.
Finden Sie es richtig, dass die Ukraine und Moldau jetzt EU-Beitrittskandidaten sind?
Dabei handelt es sich zunächst um einen symbolischen Akt der Unterstützung, ein starkes Signal politischer Solidarität für die notleidende Zivilbevölkerung. Ich finde, das kann man mittragen. Alle Beobachter sind sich aber einig, dass wegen des Krieges und auch wegen der inneren Probleme in der Ukraine mit Oligarchen und Korruption ein tatsächlicher EU-Beitritt absehbar schwierig ist.
Werden Sie den Vorsitz der linken Fraktion im EU-Parlament behalten?
Mir macht der Job Spaß und ich glaube, dass die Anbindung an die EU-Ebene von Vorteil ist. Noch laufen Gespräche, wie wir künftig Arbeitsprozesse gestalten können. Auf jeden Fall behalte ich aber das Abgeordnetenmandat. Klar ist, dass mein Fokus jetzt auf der Arbeit als Parteivorsitzender liegen wird.
Sie sind für zwei Jahre gewählt – in diese Amtszeit fallen mehrere Landtagswahlen sowie die Europawahl. Woran wollen Sie sich messen lassen?
Die Partei muss eine Trendwende hinbekommen und das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler wiedergewinnen. Auf dem Parteitag ist auch deutlich geworden, wie viel Freude, Lebendigkeit und Potenzial in der Partei stecken.
Und was heißt Trendwende?
Es geht um bessere Wahlergebnisse und vor allem darum, dass Die Linke wieder ein starker Akteur in der deutschen Parteienlandschaft wird, der die Mächtigen das Fürchten lehrt. Ich möchte eine Partei, die die Interessen der Bevölkerungsmehrheit vertritt und die großen Konfliktlinien der Zukunft im Blick behält. Das ist bereits ein ambitioniertes Ziel.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.