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Der Humanität verpflichtet

Notizen von einer Gedenkveranstaltung an ein beeindruckendes Wissenschaftlerpaar

Die Kinderärztin Inge Rapoport
Die Kinderärztin Inge Rapoport

Wer diesen beiden Menschen begegnet ist, wird sie nie vergessen: Ingeborg und Samuel Mitja Rapoport. Zwei herausragende Ärzte, Wissenschaftler, Antifaschisten, Marxisten, Kommunisten. Sie ist vielfach zu Unrecht nur noch in Erinnerung als vermutlich weltweit älteste Doktorandin. Mit 102 Jahren hat die international renommierte Professorin für Pädiatrie an der Kinderklinik der Charité und Inhaberin des ersten europäischen Lehrstuhls für Neonatologie ihre Promotionsurkunde nachträglich von der Universität Hamburg erhalten – exakter: Sie hat sie sich ehrlich verdient, noch einmal ihre über sieben Dezennien zuvor verfasste Doktorarbeit durchgebüffelt, mit Unterstützung ihrer, in die wissenschaftlichen Fußstapfen der Eltern getretenen Kinder, wie sie mir während unseres damaligen Gesprächs in ihrem Häuschen in der Pankower Kuckhoffstraße berichtete. Sie wollte nichts geschenkt haben, hat sich einer ernsthaften Prüfung unterzogen. Freilich mit Lampenfieber. Die gestandene Ärztin wollte sich nicht blamieren, gestand sie mir. Der am 2. September 1912 in der deutschen Kolonie Kamerun als Tochter eines Kaufmanns und einer Pianistin geborenen Ingeborg Syllm hatten die Nazis wegen ihrer jüdischen Herkunft die Verteidigung ihrer Dissertation über Diphtherie an der Alma mater der Hansestadt verweigert. Inges Eltern waren eigentlich protestantisch getauft, die Mutter jedoch im September 1933 demonstrativ, aus Protest gegen die zunehmende Diskriminierung von Juden in Hitlerdeutschland, zum Judentum konvertiert, der Religion der Großmutter. Inge bedurfte dieses Titels zwar nicht mehr, ihre Promotion 2015 sah sie als einen Akt Wiedergutmachung des im Namen des deutschen Volkes verübten Unrechts, der ungeheuren Verbrechen der Faschisten an das deutsche und europäische Judentum.

Kurz vor der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 emigrierte Inge in die USA, arbeitete am Johns Hopkins Children’s Hospital in Baltimore und dann am Kinderkrankenhaus in Cincinnati, wo sie den am 27. November 1912 in Wolotschysk, Galizien, geborenen und in Wien aufgewachsenen Biochemiker Samuel »Mitja« Rapoport kennenlernte und sich in ihn auf den ersten Blick verliebte. Dieser sollte mit seiner Entdeckung 1943, wie konserviertes Blut haltbarer gemacht werden kann, das Leben von Hunderttausenden US-amerikanischen GIs im Zweiten Weltkrieg retten. Durch ihn, aktives Mitglied der KP der USA, wurde auch sie überzeugte Kommunistin. Das Paar, inzwischen mit drei Kindern beschenkt, geriet Ende der 40er Jahre ins Visier der McCarthy-Jäger. Die Rapoports flohen nach Österreich, wo ihnen ob des langen Arms des berüchtigten US-Justizsenators eine akademische Anstellung nicht beschieden war. 1952 übersiedelten sie in die DDR, Mitja folgte einem Ruf an die Berliner Humboldt-Universität.

Ich hatte die Ehre, auch ihn, den ersten Präsidenten der Leibniz-Sozietät, einer nach der deutschen Un-Vereinigung von schnöde abgewickelten DDR-Wissenschaftlern 1993 gegründeten Gelehrtengesellschaft zu erleben. Mich beeindruckte an Mitja Rapoport seine Bescheidenheit und Bodenständigkeit, die nicht allen wissenschaftlichen Koryphäen zu eigen ist. Und sein fotografisches Gedächtnis. Er zog einen Band aus dem übervollen Bücherregal, schlug ihn auf und fand ad hoc jene Passage, die er just zur Bekräftigung seiner Argumentation zitieren wollte. Phänomenal.

Am Samstag hat die 2019 gebildete Rapoport-Gesellschaft in das Karl-Liebknecht-Haus in Berlin eingeladen, um Inge und Mitja Rapoport zu würdigen, die beide vor 110 Jahren geboren worden sind. Zudem ist es 70 Jahre her, da an der Charité das von Mitja aufgebaute Institut für Biochemie in der Hessischen Straße seine Arbeit aufnahm. Zur Überraschung der Veranstalter selbst erschienen Kollegen, Schüler, Doktoranden, Mitstreiter und Freunde der Rapoports derart zahlreich, dass der Rosa-Luxemburg-Saal im K-L-Haus kaum allen Platz bot.

Der Titel der Veranstaltung, »Ärztliche Verantwortung für eine menschenwürdige Gesellschaft«, hätte nicht treffender für ein Treffen zu Ehren der Rapoports gewählt sein können. »Und könnte nicht aktueller sein«, wie Marianne Linke anmerkte. Die Moderatorin zitierte eingangs Ingeborg Rapoport: »Die beste menschlichste und wissenschaftlichste Medizin bleibt letztlich hilflos unter Bedingungen des sozialen Elends … Aber auch die Umkehrung des Satzes stimmt: Selbst das beste soziale Umfeld ist ohne eine wissenschaftlich und humanistisch hochstehende Medizin Krankheiten gegenüber ohnmächtig.«

Dementsprechend galt zunächst alle Aufmerksamkeit dem Beitrag von Ingeborg Rapoport zu einer wissenschaftlich fundierten Kinderheilkunde, die keine sozialen Unterschiede kennt. Ursula Boßdorf artikulierte ihre Überzeugung, dass die Betreuung der Kinder und Jugendlichen in der DDR auf hohem Niveau, gut organisiert, umfassend und zielgerichtet war, allen unabhängig vom Geldbeutel der Eltern ermöglichen sollte, gesund aufzuwachsen und jegliche Möglichkeiten geboten zu bekommen, um ihre Persönlichkeit entfalten zu können. Die Referentin verwies darauf, dass dies in der Verfassung der DDR garantiert war, im Grundgesetz jedoch bis heute nicht. Ingeborg Rapoport hatte noch selbst einen Brief an die Bundesregierung geschrieben, in dem sie dies bemängelt hatte. Boßdorf erinnerte an die Schwangerschafts- und Mütterberatung in der DDR, die Reihenuntersuchungen von der Krippe bis zum Schulabschluss, die weit über 90 Prozent aller Kinder und Jugendlichen erfasste, was »Anerkennung in Europa und darüber hinaus« fand. Und wichtig war ihr zu betonen: »In der DDR gab es keine 20 Prozent Kinder, die am Rande oder unter der Armutsgrenze aufwachsen.« Abschließend beklagte sie, dass nach 1990 viele Kinderkliniken in Ostdeutschland geschlossen wurden, so in Berlin in Lichtenberg und Weißensee. Musste der »Lindenhof« Wohnungen weichen, so verfällt das 1909 von Carl James Bühring zur Verringerung der Kinder- und Säuglingssterblichkeit in der deutschen Hauptstadt errichtete Säuglingskrankenhaus an der Hansastraße sukzessive und bietet einen erschreckend traurigen Anblick; dort hatte übrigens, wie hier hinzugefügt sei, zu DDR-Zeiten auch die Tochter der Schriftstellerin Anna Seghers, Ruth Radvanyi, als Kinderärztin gearbeitet.

Das Verdienst von Inge, die gegenüber Westdeutschland zunächst höhere Säuglingssterblichkeit drastisch zu reduzieren und schließlich gar beachtlich zu unterbieten, hob Johann Gross hervor, einer ihrer Kollegen in der Abteilung der Neonatologie an der Charité. Der Erfolg verdankte sich interdisziplinärer Kooperation in der Frühdiagnostik und Frühvorsorge, auf die seine Lehrerin und Chefin stets großen Wert gelegt habe: »Die Saat, die Inge Rapoport gelegt hat, ist aufgegangen.«

Auch Philipp Osten, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin in Hamburg, unterstrich in seinem den Veranstaltern anlässlich der Konferenz zugesandten Beitrag die Leistungen von Ingeborg Rapoport. Seine Reminiszenz: »Kaum ein Feld der Medizin war und ist so sehr von sozialen Aspekten berührt, wie die Pädiatrie. Und die Entwicklung keines anderen Fachs hatte ähnliche Auswirkungen auf die statistische Lebenserwartung. Inge Rapoport war eine herausragende Architektin dieses Wandels.« Informiert wurden die Anwesenden, dass es im Medizinhistorischen Museum Hamburg eine Texttafel für Inge Rapoport gibt sowie ein Videomitschnitt von der Promotionsfeier gezeigt werde.

Via Zoom wurde Herbert Arlt aus Wien zugeschaltet, der die Rapoports Jahren in Berlin aufgesucht hat, um für seine Dissertation über den aus Charkow (heute Charkiw) stammenden österreichisch-jüdischen Schriftsteller Jura Soyfer, der 1939 im KZ Buchenwald ermordet worden ist, Details von Mitja zu erfahren – über das einst »Rote Wien« und den Widerstand gegen Austro- und Hitlerfaschismus. Artl hat seine Reise 1983 in die Hauptstadt der DDR nicht umsonst angetreten und ist dem DDR-Wissenschaftler noch heute dankbar.

Dankbar auf die Jahre seiner Zusammenarbeit mit Mitja Rapoport blickte ebenso Klaus Fuchs-Kittowski zurück, Enkel des religiösen Sozialisten und Hitlergegners Emil Fuchs sowie Neffe des Kernphysikers und sogenannten Atomspions Klaus Fuchs. Fuchs-Kittowski stellte die »Biologie-Prognose« vor, die Mitja Rapoport selbst als seine größte wissenschaftliche Leistung bezeichnet habe. Gemeint war damit die systematische Erforschung der bio-sozialen Einheit Mensch in seiner gesamten Komplexität: der ganze Mensch und seine verschiedenen Umwelten, natürliche und soziale, nähere und ferne, innere und äußere Faktoren in ihrer Wechselwirkung. Damit wollte man dogmatische Grenzen des M-L-Kanons (Marxismus-Leninismus) überwinden. »Wir haben die Feststellung von Karl Marx, wonach der Mensch das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse sei, durch unseren Satz ›einschließlich seiner biologischen Herkunft wie seines biologischen Daseins‹ ergänzt«, verkündete Fuchs-Kittowski stolz. Der Referent fügte hinzu, dass die »Biologie-Prognose« der »Optimierung der geistigen Leistungsfähigkeit wie der Arbeitsproduktivität« (für die DDR-Führung besonders wichtig) diente. Sodann bilanzierte er mit Worten von Mitja Rapoport: »Mit der Überstülpung des westlichen Systems ist das völlige Chaos eingetreten. Es gibt keine prognostische Tätigkeit, es gibt keine Gesamtschau für die Zukunft der Wissenschaft … Stattdessen eine Diktatur der Privatkonzerne.«

Lienhard Linke berichtete über eine Initiative zu seiner Studienzeit, als Vorlesungen und Seminare sich noch auf die klassischen Disziplinen Botanik und Zoologie beschränkten, obgleich die Biologie sich weiterentwickelt, um neue Forschungs- und Wissensgebiete erweitert habe. Weshalb er kurzerhand mit Kommilitonen eine Studiengruppe gebildet hatte, die sich für die Einbeziehung von Biochemie, Biophysik und Genetik einsetzte. Nachdem über diese Initiative die Zeitung der Humboldt-Universität informierte, fand sie sich auch im westdeutschen »Handelsblatt«, einem Organ des »Klassenfeindes«, lobend erwähnt, was »Stirnrunzeln« bei einigen Oberen an der Ostberliner Alma Mater auslöste. Indes: »Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter.« Und so war es auch. Beispielhaft von Mitja Rapoport als erstem Dekan der 1969 ins Leben gerufenen Biowissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität praktiziert. Die Hochschulreform Mitte der 60er Jahre in der DDR schuf Vorraussetzngen für neue Strukturen in Lehre und Forschung und damit auch eine Horizonterweiterung, so Linke.

Zum Schluss verlas Rapoport-Enkel Daniel ein Grußwort des in den USA lebenden ältesten Sohnes von Inge und Mitja. Tom Rapoport bestätigte, dass seine Eltern »Verfechter des Rationalen und des Dienstes im Interesse der Gesundheit der Menschen« waren. »Beides ist heute nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass Verschwörungstheorien einen großen Einfluss auf breite Gesellschaftsschichten haben«. Zudem erinnerte er an ihren »Einsatz gegen Krieg und für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen. Beides ist leider immer noch aktuell«.

Kurzum, eine würdige Veranstaltung, die von der Rapoport-Gesellschaft bar jeglicher Fördermittel einberufen worden ist. Beschämend allerdings, dass – wie Heinrich Niemann vom Vorstand des Vereins bedauerte – heutige Vertreter der Berliner Universitäten wie auch der Charité der Einladung nicht gefolgt sind. Kein Interesse an den Pionieren der Medizin und Wissenschaft, die Verfolgte der Nazidiktatur waren? Nur, weil Ingeborg und Samuel Mitja Rapoport sich zum Sozialismus in der DDR bekannt hatten, den beide keineswegs unkritisch gegenüberstanden?

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