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Das »Familienzentrum Olgakrippe« in Heilbronn überträgt den Kindern viel Verantwortung, und das Team sprudelt vor Ideen. Ein Besuch bei der »Kita des Jahres«
Die ältere Dame ist im Motorenlärm nicht gut zu verstehen, aber für eine akkurate Wegbeschreibung reicht es. Erst mal über die vierspurige Weinsberger Straße, an der Ditib-Moschee vorbei und rein in die Nordbergstraße mit ihren vielgeschossigen Mietshäusern, rät sie. »Dann stehen Sie vorm Eingang zum Kita-Spielplatz.« Bevor der erreicht ist, fällt der Blick jedoch auf eine quadratische, ins Trottoir eingelassene Bronzetafel mit einem Sinnspruch, dessen Herkunft »aus China« sei: »Angst klopfte an, Vertrauen öffnete. Keiner war draußen.« Es ist, das wird sich in den kommenden Stunden zeigen, ein maßgeschneidertes Motto für eine Einrichtung, die auch deshalb zur »Kita des Jahres« gewählt wurde, weil sie mehr als 120 Kindern zutraut, viele Entscheidungen eigenverantwortlich zu treffen. Und das ohne jede Angst, dass sie damit Schiffbruch erleidet.
Monika Karačić ist die Leiterin der kommunalen Einrichtung mit über 20 Angestellten, die Kinder aus allen Stadtteilen aufnimmt. Berufstätige, Alleinerziehende und Familien mit Paragraf-8a-Schein (Kindswohl-Gefährdung) werden bevorzugt. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund liegt bei 92 Prozent. Es dauert mehrere Minuten, bis die blonde Frau, die vor mehr als 25 Jahren bereits in der »Olga« ihre Ausbildung gemacht hat, das Gros der Nationalitäten beisammen hat. Seit sie bei der Preisverleihung zur »Kita des Jahres« in Berlin war, steht das Telefon kaum noch still. Einige Journalisten waren schon da, für Montag hat sich das »Kikaninchen« angekündigt. Dass »das Fernsehen« kommt, versetzt die Kinder schon jetzt in helle Aufregung. »Es gibt auch viele Kitas, die gerne mal bei uns hospitieren würden, die müssen wir im Moment aber leider noch vertrösten«, berichtet Karačić.
Sie alle wollen wissen, wie genau eine Einrichtung arbeitet, die vom Bundesfamilienministerium und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung zur »Kita des Jahres« gewählt wurde und so auch in den Genuss eines Preisgeldes von 25 000 Euro kam. Dass die Olgakrippe auffallend gut ausgestattet ist, dürfte das Arbeiten erleichtern – doch für die Auszeichnung war die Infrastruktur zweitrangig: der große Garten mit den vielen Spielmöglichkeiten, die Kräuterbeete, der große toskanische Pizzaofen, den sie auch wirklich benutzen. Und dann wäre da noch der Besprechungsraum mit dem edlen Mobiliar und dem riesigen Bildschirm, auf dem sich die Eltern die Fortschritte bei der Eingewöhnung anschauen können. Doch all das floss in die Bewertung gar nicht ein.
Stattdessen würdigten die Juroren vor allem die »besondere Lern- und Veränderungsbereitschaft des Teams« und »die außergewöhnlich große Beteiligung der Kinder«. Tatsächlich, erläutert Karačić, dürfen die 120 Kinder in der Einrichtung jede Menge selbst entscheiden. Sie schlüpfen dort zwei Mal im Jahr bei »Kindertagen« in die Rollen ihrer Betreuer, bestimmen über das Tagesprogramm und nehmen auch die Telefonate entgegen. Oder wie die Kinder sagen: Sie dürfen »Chef sein«.
Doch auch im Alltag wird den Kindern hier eine für viele erstaunliche Eigenverantwortung zugestanden. »Dass diese Wand hier hellblau gestrichen ist, verdanken wir den Kindern«, sagt Karačić und deutet auf eine Wand in einem der oberen Gruppenräume. »Die fanden, dass weiß langweilig ist. Und da haben Sie ja eigentlich auch recht.«
Auch deshalb gibt es in der »Olgakrippe« einen »Kinderbeirat«, der jede Woche tagt und analog zu einer Bundestagswahl in geheimer Abstimmung in einer improvisierten Wahlkabine mit einem Kreuz hinter dem Foto der Kandidatinnen und Kandidaten gewählt wird. »Der entscheidet ganz schön viel«, berichtet Karačić und lacht. »Von Bestellungen, wie wir Feste feiern, was wir im Altersheim aufführen, was an Spielsachen angeschafft werden muss.« Auch die Auswahl der Speisen wird von den Kindern mitbestimmt.
Hauswirtschaftsleiterin Hannah Weißhardt schaltet sich nun in das Gespräch ein, sie scheint geahnt zu haben, welche Frage nun kommen würde: »Viele glauben, dass sich die Kinder nur Eis und Pommes wünschen«, sagt sie und zeigt auf den mit Fotos versehenen Speiseplan. »Aber heute haben sie sich zum Beispiel Tomatensuppe mit Croûtons gewünscht.« Auch Karačić ist »immer wieder erstaunt, wie beliebt Obst und Gemüse sind.« Für sie ein Beweis von vielen, dass sie hier richtig liegen mit ihrer Bereitschaft, den Kindern etwas zuzutrauen:
Auf so manch gute Idee der Kinder wären sie nicht selbst gekommen, das müssten sie sich oft im Team oft eingestehen, erzählt Karačić und muss herzlich lachen. Gerade wurde ihr die Frage gestellt, ob in der »Olga« viele Eltern Millionäre seien. Schließlich steht sie in der statistisch gesehen reichsten Stadt in Deutschland, was weniger über das alles andere als reich wirkende Heilbronn als über die Einkommensverteilung hierzulande aussagt. Denn ein einziger Einwohner – Lidl-Chef Dieter Schwarz – ist so unfassbar reich, dass die 125 000-Einwohner-Stadt nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes mit 42 275 Euro das höchste verfügbare Nettoeinkommen pro Person aufweist – fast doppelt so viel wie im Durchschnitt der Stadt- und Landkreise. Im Alltag ist Heilbronn, in das sich nur selten Städtetouristen verirren, eine eher proletarische Stadt mit allen Problemen, die auch vergleichbare mittelgroße Städte aufweisen. Allein die Tafel unterstützt nach eigenen Angaben 10 000 Bedürftige. Und auch hier, in der »Olga«, merken sie im Alltag, mit wie wenig Geld viele Familien auskommen müssen.
Auch Ola Bielesza vom Expertenteam der Internationalen Akademie Berlin, einer Fachpartnerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, weiß, wie stark die Arbeit in Kitas auch von sozialen Faktoren geprägt wird. Umso beeindruckter war sie von der Olgakrippe. Von den mehr als tausend Bewerbungen wurden zunächst die zehn Finalisten ausgewählt. Sie alle erhielten daraufhin einen Besuch, bei dem die Mitglieder des Teams viele Gespräche führten und verstärkt auf die Interaktionen zwischen den Fachkräften und den Kindern achteten. Bielesza war die Expertin, die die Olgakrippe auf Herz und Nieren geprüft hat. »Wir haben sofort gemerkt, dass das ein Team ist, das ständig im Prozess der Weiterentwicklung ist und ständig verschiedene Sachen ausprobieren will«, sagt Bielesza. Die Eltern in der Kita hat sie als »recht heterogen« erlebt. Doch alle seien »sehr dankbar«, dass ihre Kinder in der Siererstraße gelandet seien: »In der Olgakrippe herrscht auf allen Ebenen ein wertschätzender Umgangston – auch im Gespräch mit den Eltern.« Ihr Fazit: »In Kitas, in denen Kinder Verantwortung übernehmen dürfen, geht man gerne. Dort wird auch mehr gelacht«. Und das aus einem einfachen Grund: »Kinder haben von selbst den Drang, Verantwortung zu übernehmen. Es wäre fahrlässig, das nicht zu nutzen«, sagt Bielesza.
Aber gelingt ein solcher Ansatz bei einem Migrationsanteil von über 90 Prozent? Erleichtert in Einrichtungen, die Kindern viel Verantwortung übertragen, nicht ein halbwegs einheitliches Sprachniveau die Kommunikation? »Das sind Fragen, die wir Erwachsene stellen«, sagt Karačić. »Die Kinder spielen einfach drauflos. Und lernen, dass man auch zusammen spielen kann, wenn man keine gemeinsame Sprache spricht.« Gerade haben sie ein chinesisches Kind in der »Olga«. Jemanden, der Griechisch, Italienisch, Türkisch oder Arabisch spricht, finden sie hier immer unter den Erzieherinnen und Erziehern. »Aber Chinesisch spricht leider niemand.« Macht nichts, »Kinder verstehen sich so schnell mit Mimik und Gesten. Und manchmal dauert es nur Minuten, bis die ersten Worte wie ›Puppe‹ oder ›trinken‹ auf Deutsch gesagt werden.«
Doch natürlich haben sie sich in der »Olga« auch überlegt, wie sie es ein wenig steuern können, dass die vielen Kulturen und Sprachen voneinander lernen: Seit zwei Jahren »verreisen« die Kinder nun alle zwei Wochen mit Maria Karnemidou in alle möglichen Länder. Karnemidou hat dann immer ein kleines Köfferchen dabei, auf das eine Landesfahne geklebt wird. Die Kinder – ohne ordentliche Dokumente lässt es sich nun mal nicht wegfliegen – haben selbstgebastelte Reisepässe mitgebracht. Und dann geht es los, denn Reisen bildet ja nun bekanntlich auch. Weshalb alle zwei Wochen ein anderes Kind das Herkunftsland der Familie vorstellt. »Das kann passieren, indem die eine ein Buch in der Landessprache mitbringt, aus dem jemand dann vorliest, indem man ein Lied singt oder ein typisches Gericht zusammen kocht.« Anschließend wird das Flaggen-Symbol auf einen großen Globus geklebt, auf dem so alle Länder markiert sind, die schon bereist wurden. »Die Kinder begreifen so ganz sinnlich, wie groß die Welt ist«, sagt Karačić. Versteht sich von selbst, dass alle Nationalfeiertage, die zu »Olga«-Familien gehören, im Kalender eingetragen sind. Die Kinder hier wissen, was Ramadan ist. Und was an Ostern gefeiert wird. Ach, und wenn es keinen Erzieher gibt, der die Sprache kann, müssen die Eltern ran. Glaubt man Karačić und Karnemidou, tun die das ausgesprochen gerne.
Zum Anspruch der Einrichtung passt hingegen, dass sie ihr Wohnumfeld und das der Kinder mitnimmt. Tatsächlich trägt die Olgakrippe den Namen »Familienzentrum« nicht nur auf dem Briefkopf. Sie versteht sich nicht nur als Krippe und Kindergarten, sondern auch als Anlaufstelle für die Menschen im Stadtviertel. Folgerichtig werden – meist in einem separaten, durch den großen Spielplatz abgetrennten Gebäudetrakt – eine Nähwerkstatt und Seminare zu Erziehungsthemen angeboten. Und am »Kulturzaun«, der die Einrichtung zur Straße abgrenzt, hängen in orangenen Umschlägen Rezepte, die in der Kita gekocht werden, zum Mitnehmen.
Es mag die Kombination aus all diesen Aktivitäten sein, die eine ausgezeichnete Kita ausmacht. Vielleicht ist es aber vor allem der Geist, der in der Einrichtung herrscht und der mit dem angstfreien Grundvertrauen zu tun hat, das im chinesischen Sinnspruch erwähnt wird. Vielleicht ist aber auch ein Satz aussagekräftiger, den Karačić wie nebenher beim Gang über den Flur sagt. In Berlin bei der Preisverleihung seien sie oft für ihre »vielen Projekte« gelobt worden. In vielen der bisher erschienen Medienberichte war das auch so. Das Team aus Heilbronn hat sich dann immer gewundert. Sie hatten bis dato gar nicht gemerkt, dass sie »Projekte« durchführen. Eigentlich haben sie nur ihre Arbeit gemacht, finden sie. Und zu der gehöre eben, die Kinder zu fordern und zu fördern. Und sich genau deshalb möglichst selten zu wiederholen.
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