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»Petro will das Land aufrichten«

José Roviro López über den eingeleiteten Friedensprozess in Kolumbien und die anhaltende Gewalt vor allem auf dem Land

Bewohner des Friedensdorfs San José de Apartadó erinnern mit einem Marsch an die Opfer der Gewalt. Alleine 300 Menschen aus ihrer Gemeinschaft wurden seit 1997 Opfer von Verbrechen.
Bewohner des Friedensdorfs San José de Apartadó erinnern mit einem Marsch an die Opfer der Gewalt. Alleine 300 Menschen aus ihrer Gemeinschaft wurden seit 1997 Opfer von Verbrechen.

Ist der Friedensprozess in Kolumbien, den die seit August amtierende linke Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez auf den Weg gebracht hat, schon in San José de Apartadó angekommen?

Interview


José Roviro López Rivera ist derzeit zusammen mit Sayda Jadis Arteaga Guerra auf einer Europa-Reise, um über die Lage in der bekannten kolumbianischen Friedensgemeinde von San José de Apartadó unter der Regierung Petro/Márquez zu berichten. Beide leben in der Friedensgemeinde, die sich mit aktiver Gewaltfreiheit gegen den bewaffneten, internen Konflikt stellt. Trotz mehrfacher Vertreibung hat die Gemeinschaft beschlossen, in der Region zu bleiben, ihr Land weiterhin zu bebauen und zu entlegenen Weilern zurückzukehren. Mit López Rivera sprach Martin Ling.

Leider nein. Auf dem Land üben die Paramilitärs weiter die totale Kontrolle aus. Es handelt sich um einen raffinierten und modernen Paramilitarismus, der von Unternehmen eingesetzt wird, um Gebiete zu übernehmen. Manchmal sagen sie zu dir: »Wenn du mir das Land nicht verkaufst, wird es deine Witwe an mich verkaufen.« Diese Gewalt treibt die Landflucht weiter an. Bisher ist eine Staatsgewalt, die für Sicherheit sorgen könnte, hier nicht aufgetaucht. Auch die immense Korruption in den lokalen Verwaltungen ist ungebrochen.

Ihr Dorf hat sich schon 1997 zu einer Friedensgemeinde erklärt. Die Gemeinschaft von rund 500 Kleinbauernfamilien verpflichtete sich zur Gewaltlosigkeit und blieb in den anhaltenden Konflikten neutral. Trotzdem wurden seit 1997 mehr als 300 ihrer Mitglieder getötet. Die Farc-Guerilla war für 20 Prozent der Morde verantwortlich, das Militär und die Paramilitärs für 80 Prozent, heißt es. Stimmen diese Zahlen?

Ja, das kommt in etwa hin. In der Region Urabá im Nordwesten Kolumbiens, wo San José de Apartadó liegt, tobte über Jahrzehnte ein brutaler Konflikt zwischen Militärs, Paramilitärs und der Farc-Guerilla. Es ist auf alle Fälle so, dass die klare Mehrheit der Menschenrechtsverletzungen von Militär, Polizei und der Paramilitärs verübt wurde. Es geht dabei nicht nur um Morde, sondern auch um Folter und die Praxis des Verschwindenlassens. Sie sind im Auftrag von Unternehmern tätig, um für diese Land zu rauben und zu sichern. Und die mehr als 300 Morde in den vergangenen 25 Jahren, seit wir uns zur Friedensgemeinde erklärt haben, sind eine gesicherte Zahl. Das ist die traurige Wahrheit.

Ist mit dem Amtsantritt des linken Präsidenten Gustavo Petro ein wirklicher Friedensprozess denkbar?

Die neue Regierung unter Gustavo Petro und Francia Márquez ist angetreten, um Auswege aus den Krisen zu finden: Sie will die endemische Korruption bekämpfen, die Armut, die Gewalt. Sie will all die Hinterlassenschaften der rechten Regierungen von Álvaro Uribe (2002–2010), Juan Manuel Santos (2010–2018) und Iván Duque (2018–2022) aufarbeiten. Petro geht sehr konsequent vor, er will das Land aufrichten, Dutzende Generäle mussten ihren Dienst in der Armee bereits quittieren, weil ihnen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Bei der Kabinettsbildung hat Petro viele bekannte und renommierte Personen berufen. Wir hoffen darauf, dass sie Kolumbien nach vorne bringen. Die Regierung verfolgt offensichtlich gute Absichten. Sie wird allerdings nicht viel Zeit haben, sondern nur vier Jahre. Eine Wiederwahl von Petro ist durch die Verfassung ausgeschlossen. Allerdings kann die Regierung die Grundlage für ein anderes Kolumbien schaffen. Besorgniserregend ist bisher allerdings, dass wir nur einen Friedensprozess von oben erleben, der in den Regionen noch nicht angekommen ist. Da geht alles weiter, wie gehabt.

Petro hat all jenen ein umfassendes Friedensangebot gemacht, die einen Verhandlungsprozess mit der kolumbianischen Justiz zur Zerschlagung krimineller Organisationen wünschen. Im Kongress liegt bereits ein Gesetzentwurf für den Umgang mit den Kämpfern der kriminellen Gruppen vor. Wenn sie die Waffen niederlegen und sich stellen, könnten sie mit einer Reduzierung ihrer Strafe um 60 Prozent rechnen und zehn Prozent ihres Vermögens behalten. Ein guter Vorschlag?

Der erste wichtige Schritt ist, die bewaffneten Gruppen dazu zu bewegen, darüber nachzudenken, ihre Waffen niederzulegen. Dazu könnte dieses Angebot dienen. In einem zweiten Schritt müsste der Staat den Demobilisierten Garantien verschaffen, wie sie ohne Waffen ein auskömmliches Dasein haben können. In der Frage der juristischen Aufarbeitung muss differenziert vorgegangen werden. Diejenigen, die sich schwere Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen lassen haben, unter den Kommandanten, egal ob aus Reihen der Paramilitärs, Militärs oder Guerilla, müssen Gefängnisstrafen erhalten. Die einfachen Kämpfer nicht, sofern sie nicht an Massakern, Verschwindenlassen und Folter beteiligt waren. Wenn einfachen Guerilleros der ELN-Guerilla, mit der Friedensverhandlungen bevorstehen, 30 oder 40 Jahre Haft drohen, werden sie kaum die Waffen niederlegen. Für sie muss es eine Perspektive der Reintegration in die Gesellschaft geben.

Können die Verhandlungen mit der Farc-Guerilla 2016 als Vorbild dienen?

Nach dem Friedensabkommen mit der Farc hat das nur ansatzweise geklappt. Deren Mitglieder wurden in sogenannten Übergangszonen versammelt und sollten dort auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet werden. Das hat bei vielen nicht funktioniert. Deswegen haben sich einige Farc-Guerilleros wieder zu bewaffneten Gruppen zusammengeschlossen.

Bereits zehn Gruppen haben einen einseitigen Waffenstillstand erklärt. Nach Angaben der Denkfabrik Indepaz wollen sich mindestens 22 Gruppen an dem Prozess beteiligen, darunter die ELN sowie wiederbewaffnete Gruppen der ehemaligen Farc und Drogenbanden.

Ja, es sind sehr viele, die eine Bereitschaft bekundet haben. Die einen werden auf die anderen schauen, läuft die Demobilisierung und Reintegration gut, werden sie sich anschließen. Entscheidend ist, dass die Kämpfer zivile Perspektiven sehen. Teilweise haben sie 30 bis 40 Jahre in der Guerilla verbracht, sie haben keine Ausbildung, sondern nur gelernt zu kämpfen. Auch die Unternehmen müssen ihrer Verantwortung nachkommen. Bisher weigern sich viele, ehemalige Kämpfer anzustellen, weil sie als Mörder gelten. Die Regierung muss den Friedensprozess behutsam gestalten. Es gibt viele Fallstricke.

Hat sich in Ihrer Region durch das Friedensabkommen mit der Farc-Guerilla 2016 etwas verändert?

Ja. Es ziehen keine Farc-Guerilleros mehr durch unsere Gegend, sondern nur noch Militärs und Paramilitärs. Vorher gab es durchaus viele Farc-Guerilleros.

Gibt es noch immer Gewalt?

Die ging auch nach dem Friedensabkommen mit der Farc weiter. Ich selbst hatte eine Waffe an meinem Kopf, als fünf bewaffnete Paramilitärs am 29. Dezember 2017 in San José de Apartadó auftauchten und uns in einem Laden überfielen. Zum Glück gelang es Dorfbewohnern, zwei der Männer zu entwaffnen und festzuhalten, die anderen flohen. Wir übergaben die beiden Täter der Polizei. Am nächsten Tag wurden sie auf richterliche Anordnung freigelassen. In diesen sechs Jahren haben wir Hunderte Übergriffe durch Paramilitärs erlitten. Führungspersonen wurden in der Zeit nicht ermordet, aber einzelne Dorfbewohner, die sich gegen ihr Geschäftsmodell gewehrt haben. Die Paramilitärs bestimmen alles. Erst vor wenigen Tagen wurde ein 19-Jähriger ermordet, der sich ihren Anordnungen widersetzte.

Gewalt gibt es auch im Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Petro hat einen »Paradigmenwechsel« versprochen. Er will den Anbau von Koka ersetzen und das Sprühen mit Glyphosat aus der Luft verbieten, mit dem bisher Koka-Plantagen bekämpft wurden. Ist der Drogenhandel unter Kontrolle zu bringen?

Es wird schwer. Petro hat wohl vor, Marihuana zu legalisieren. In Bezug auf den Anbau der Koka-Pflanze, wo Kolumbien der größte Produzent der Welt ist, ist alles eine Frage von Alternativen. Wenn die Kleinbauern für andere Agrarprodukte auskömmliche Preise bekommen, von denen sie leben können, werden sie den Koka-Anbau herunterfahren. Derzeit sind aber Mais, Yucca oder Bananen so gut wie nichts wert. Solange es für Lebensmittel so schlechte Marktpreise gibt, haben die Bauern gar keine andere Option, als vorrangig Koka anzubauen. Zumal es keine Unterstützung, keine Subventionen gibt wie in Europa. Wenn die Regierung Programme zum Ersetzen des Koka-Anbaus auflegt, die es den Bauern ermöglichen umzusteigen, werden sie den Anbau sicher reduzieren. Was nicht mehr funktioniert, ist, aus der Luft die Koka-Felder mit Glyphosat zu besprühen, um den Anbau zu bekämpfen. Das macht die Umwelt kaputt, trifft auch die Felder mit Nahrungsmittel nebenan und hat den Koka-Anbau selbst nie dauerhaft zurückgedrängt.

Petros Reformpläne umfassen eine Steuererhöhung für Reiche, ein Programm gegen den Hunger und mittelfristig eine Abkehr von Öl und Gas sowie eine Hinwendung zu erneuerbaren Energien. Am 26. September gab es die ersten Proteste gegen seine Vorhaben, die von der kolumbianischen Rechten und Geschäftsleuten angeführt wurden. Was glauben Sie, wie stark wird der Widerstand gegen die Reformen sein?

Er wird groß. Schon jetzt setzen viele Unternehmen ihre Beschäftigten unter Druck, die oft hinter Petro stehen. Den Unternehmen ist die progressive Steuerreform von Petro ein Dorn im Auge, deswegen drohen sie mit Entlassungen und versuchen, die Beschäftigten gegen Petro aufzubringen. Petros rechter Vorgänger Iván Duque musste seine Steuerreform 2021 zurückziehen, weil es starke Proteste von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und indigenen Gruppen gab. Es gab einen Aufstand im ganzen Land. Allerdings geht Petros Steuerreform zulasten der Reichen und kommt den Ärmsten zugute. Bei Duque war es umgekehrt.

Petros Slogan ist der totale Frieden. Ist das mehr als eine Utopie?

Es ist ein Traum. Totalen Frieden gibt es nirgendwo auf der Welt, schon gar nicht in Kolumbien. Aber eine Gesellschaft braucht auch Träume. Petros Traum ist die Befriedung des Landes. Millionen Kolumbianer teilen diesen Traum. In vier Jahren wird Petro das nicht schaffen können. Er kann Weichen stellen, er kann einen echten Friedensprozess einleiten und einen Anfang machen.

Und dann kommt Francia Márquez, seine Vizepräsidentin, als Präsidentschaftskandidatin ins Rennen?

Kann sein. Ich tippe eher auf den Bürgermeister von Medellín, Daniel Quintero. Aber bis dahin ist es noch hin. Petro hat gerade erst seine Amtszeit begonnen. Er hat den Rückhalt der einfachen Leute und eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Aber es ist schwer, für Kolumbien Prognosen abzugeben. Die Gefahr eines Staatsstreichs sollte man nicht unterschätzen. Gerade weil Petro den Militärs, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, den Kampf angesagt hat.

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