- Kultur
- Kristof Schreuf
Fänger im Rocken
Keine Angst vor der Tiefe: Ein Nachruf auf den Musiker und Autoren Kristof Schreuf
Ein Lied von Kristof Schreuf heißt »Raus aus dem Raussein«, 1997 aufgenommen mit der Band Brüllen. »Manchmal ist die gute Laune so gut, dass sie auch eine schlechte Laune aushält«, singt er da. Er war ein mutiger Mann, denn er ist herzlich auf die Menschen zugegangen, weil er wissen wollte, wie sie ticken. Und auch, um sich selbst und die Gesellschaft besser zu verstehen. Dabei konnte er sehr kritisch und auch sehr freundlich sein oder beides zusammen. Egal, ob es Intellektuelle auf einem Podium waren, die er mitten aus dem Saal anredete oder anschimpfte, weil ihm etwas nicht gefiel oder auffiel, oder ob es eine Verkäuferin auf dem Flohmarkt war, von der er sich ihre Arbeit erklären ließ.
Auf seinen Konzerten redete er von der Bühne umstandslos sein Publikum an, damit es mit ihm redete und nicht bloß da stand und nichts tat, denn die Unbeweglichkeit der Menschen und die Starrheit der Verhältnisse waren für ihn das Schlimmste. »Und wenn ich anderen auf die Nerven fall / seh ich nach oben / von wo ich runterkomm / ich kenne ein paar Reden / und bevor ich spreche / fällt mir zu reden ein / ich will nicht so sein, wie es läuft«, singt er in einem Lied auf »Schatzitude«, dem einzigen Album von Brüllen. Am vergangenen Mittwoch ist er überraschend in Berlin gestorben, im Alter von 59 Jahren.
Raus aus dem Raussein: Ich war einmal mit ihm und unseren Familien campen, an einem sehr großen See in Brandenburg. Kristof Schreuf schwamm raus und ich dachte: ganz schön weit draußen. Er war kaum noch zu sehen und schwamm bestimmt eine Dreiviertelstunde inmitten des Sees, als sei das nichts für ihn. Anders als ich hatte er überhaupt keine Furcht, dass unter ihm plötzlich große Fische, Seeungeheuer oder U-Boote auftauchen könnten. Er hatte keine Angst vor der Tiefe. Und er vertraute auf sich, so wie er bei der Kolossalen Jugend, der Band, mit der er Ende der 80er Jahre bekannt geworden war, gesungen hatte: »Gut Ding ohne Weile ist / klar im Augenblick und gut«.
Für die »Spex« war Kolossale Jugend damals »die beste deutsche Band« seit »wahlweise SYPH, Fehlfarben, Palais Schaumburg, Einstürzende Neubauten«, also Gruppen, die knapp zehn Jahre vorher angefangen hatten, bevor die Neue Deutsche Welle den Postpunk der BRD in Karneval und Ausverkauf untergehen ließ. Das ging wirklich ruckizucki: 1979/80 euphorisch im Underground, 1982/83 depressiv im Kommerz. Anscheinend verging damals die Zeit schneller. Jedenfalls wollte danach niemand mehr auf Deutsch singen und dann kam die Kolossale Jugend um die Ecke und tat genau das. »Wie eine Kampfgruppe standen sie da, ein Monster aus vier Köpfen. Gerechter, wissender Zorn«, schrieb Kerstin Grether in »Spex«. Im Herbst 1989 war das atemberaubende Debütalbum der Band, »Heile heile Boches«, erschienen. Klingt wie ein Kommentar zum neuen Nationalismus nach dem Mauerfall, war aber schon im Frühjahr entstanden. Am Jahresende ließen sie T-Shirts drucken mit der Aufschrift: »Halt’s Maul, Deutschland.«
Eine neue Band auf einem neuen Plattenlabel: »L’age d’or«, gegründet von ihrem Gitarristen Pascal Fuhlbrügge, zusammen mit Carol Rautenkranz. Auf einmal gab es zwei wichtige Indie-Firmen in Hamburg, bis dahin hatte Alfred Hilsberg mit seinen Labels den musikalischen Untergrund mehr oder weniger im Alleingang umgepflügt. Und auf einmal hieß das »Hamburger Schule«, auch wenn ihre Protagonisten gerne betonten, dass sie nicht dazugehören wollten. »Popmusik darf nicht dumm sein!« lautete ein Werbespruch von L’age d’or.
Gemeinsam mit Cpt. Kirk &.,die bei Hilsberg erschienen, waren Kolossale Jugend die Vorreiter für Blumfeld, Sterne und Tocotronic, wobei sie noch mehr auf Angriff gepolt waren. Kristof Schreuf sang mit »einer Stimme, die Eisen schneiden konnte und mit Satzfetzen spazieren ging«, wie Kerstin Grether schrieb. Das war eine neue Art von Songtexten: »Bildhaftes, Zitate, umgebaute Redewendungen sind sparsam eingeflochten in ein fertiges Notizdokument.« Und doch waren es viele Hits, die er da textete und virtuos mit dynamischen Refrains zum Merken und Mitsingen vortrug: »Ich gehe, zähle jeden Schritt, / Zahl auf, ich zähle jeden Schritt« oder »Denk an die Namen und brenne laut / brenne / brenne laut / ich will Zeit« oder »Der Text ist meine Party / und mein Bild ist kein Messer (…) SieundHundHafennebelgrau / hey hey unser Lied«.
Als Pascal Fuhlbrügge nicht mehr konnte, konnte auch die Band nicht mehr, nach »Leopard II«, der zweiten Platte, war Schluss. Mit Luka Rothmann am Bass und mit Martin Buck am Schlagzeug (mit dem er als Fan von Beatles, AC/DC und The Who in der holsteinischen Provinz aufgewachsen war) gründete Kristof Schreuf dann die Gruppe Brüllen, die mit »Schatzitude« (1997) ein sehr gutes Album herausbrachte. Die Musik hatte nicht mehr diesen Manifest-Charakter, sondern war verspielter, mit einer leichten Tendenz zu Jazz und Drum & Bass. Der Bandname geht auf ein Gedicht des Dadaisten Tristan Tzara zurück, in dem dieses Wort programmatisch betont wird. Doch Kristof Schreuf spielte jetzt nicht nur Gitarre, er sang auch weicher und melodischer und vor allem noch mehr Text. Darunter auch seine zur bekannten Indie-Redewendung gewordene Verballhornung von Reinhard Mey: »Was ich noch zu sagen hätte / dauert eine Zigarettenfabrik«.
So war er ja wirklich: Er hat viel geredet, aber grundsätzlich dialogisch und null diktarorisch oder verrückt. Die einzigen Drogen, die ihn dabei befeuerten, waren Kaffee und Kuchen – und dann, als hätte er seine Energie maximal investiert, stand er auf und ging um 21.30 Uhr ins Bett. Weil er aber sehr hilfsbereit war und nicht trank, konnte es auch passieren, dass er einer angeheiterten Abendgesellschaft anbot, sie nach Hause zu fahren. Einmal quer durch Berlin und wieder zurück, dauert zwei Stunden – kein Problem für ihn. So wie »Der Fänger im Roggen« darüber wacht, dass niemandem etwas zustößt, wie es in J.D. Salingers klassischen, einzigen Roman von 1951 heißt. Nach ihm wollte Kristof Schreuf sein literarisches Debüt »Anfänger im Rocken« benennen. 2003 trug er daraus beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb vor und seitdem hatte dieses als Prosasammlung geplante Buch eine Nummer im Suhrkamp-Katalog, ohne dass es jemals erschienen wäre. Alle, die das Manuskript gelesen hatten, meinten, es sei fertig, nur für Kristof Schreuf dauerte es noch länger als eine Zigarettenfabrik.
Stattdessen erschien 2010 sein Soloalbum »Bourgeois with Guitar«. Ein Meisterwerk, auf dem er im Alter von 47 Jahren mitten in der Krise der Musikindustrie deren stark abgenudelte Evergreens von Iggy Pop bis Christopher Cross komplett neu zusammensetzte und interpretierte. »Da taucht ausgerechnet der unbekannteste und verschollenste unter den einflussreichen deutschen Popkünstlern aus der Versenkung auf – mit einem Coveralbum voller Songklassiker«, begeisterte sich in der »FAZ« Richard Kämmerlings, »und er rettet damit, pars pro toto, die Musik vor dem Verschwinden in die Bedeutungslosigkeit.« Dies in der »FAZ« als Aufmacher im Feuilleton lesen zu müssen, haute sogar den bürgerlich-konservativen Vater von Kristof Schreuf um, der die Kunst und das Leben seines Sohnes nie verstanden hatte oder verstehen wollte und der sich nun auf ein Konzert in einen Hamburger Club schlich, um sich dessen Musik heimlich anzuhören.
Kristof Schreuf, der mit der bekannten Englisch-Übersetzerin Conny Lösch verheiratet war, hat auch Texte für die »FAZ« geschrieben. Aber mehr noch für »Taz«, »Junge Welt« und »Jungle World«, in den letzten Jahren auch für »nd«. Meistens ging es dabei um Popmusik, formuliert in einem eigenen, wiedererkennbaren und anregenden Erzählstil, eine Mischung aus teilnehmender Beobachtung, Prosa und Analyse. Am liebsten ging Kristof Schreuf hierfür auf Konzerte, weil da am meisten los ist. Er hatte im Dezember 1980 DAF in der Hamburger Markthalle gesehen. Es war das dritte Konzert seines Lebens, das danach ein anderes war. Es hatte plötzlich mit Intensität, Steigerung und Entscheidungen zu tun. Diese Momente hat er immer gesucht.
Mit niemandem sonst konnte ich mich so gut über Popmusik und Unterhaltungsindustrie unterhalten. Und niemand wird mich mehr anrufen und sagen: »Hallo Christof, hier ist auch Kristof.« Verdammt. Ich habe mich darüber jedes Mal sehr gefreut.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.