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Tagträumers Albtraum

In »Zeiten des Umbruchs« zeigt Regisseur James Gray, wie vermessen das Gefasel vom amerikanischen Traum ist

Paul (li.) und Johnny, zwei nur scheinbar ungleiche Freunde
Paul (li.) und Johnny, zwei nur scheinbar ungleiche Freunde

In Ta-Nehisi Coates’ »Zwischen mir und der Welt«, einer famosen Abrechnung mit der rassistischen Gesellschaft der USA, schreibt Coates von schwarzen Körpern und deren »Zerstörung«. Es geht dabei um die ständige Angst vor Gewalt und wie Gewalt ebenjene Körper vernichtet und Seelen bricht. Er spricht auch von den »Zerstörern«, von denen, die nichts zu befürchten haben. Die auf der richtigen Seite stehen und »die das Erbe und das Vermächtnis unseres Landes richtig deuten, bis heute«. Und es geht um Wut, den Ärger über diese Zustände und wie sie sich Bahn bricht, schon in der Kindheit.

So wie Coates geht es Johnny (Jaylin Webb) in James Grays semi-autobiografischem Film »Zeiten des Umbruchs«, der auf dem Filmfest in Cannes im Wettbewerb lief und dort zwar Standing-Ovations aber nicht den Hauptpreis bekam. Johnny, ein schwarzer Junge, ist sitzen geblieben, und gleich zu Beginn des neuen Schuljahres wird ihm klargemacht, wo ihm die weiße, privilegierte Gesellschaft der USA seinen Platz zuweist: Wahlweise in der Schäm-dich-Ecke des Klassenzimmers oder im Sekretariat des Direktors. In Paul (Banks Repeta) hat Johnny gleich am ersten Tag einen Freund gefunden. Beide finden sich in der Umgebung, in die sie geboren wurden, nicht besonders gut ein. Paul ist ein Tagträumer, malt witzige Karikaturen seiner Lehrer und gibt ihnen Spitznamen, über die die ganze Klasse lacht. Der große Unterschied zwischen Paul und Johnny ist ihre Hautfarbe, der eine weiß und aus einer relativ gut situierten Mittelschichtsfamilie, der andere schwarz, ohne Eltern wächst er bei seiner Großmutter auf. Unter dem tyrannischen Lehrer leidet Johnny doppelt so sehr wie Paul. Für mehr oder weniger harmlosen Blödsinn wird Johnny stets dreimal so hart bestraft oder vor versammelter Klasse beschämt und rassistisch beleidigt.

Der Film fängt gemächlich an, langsam entwickelt sich die scheinbar so ungleiche Freundschaft zwischen Paul und Johnny. Beide begeistern sich für das Weltall, Paul zeichnet Bilder von Raketen, Johnny will Astronaut werden. Musik verbindet sie zusätzlich, obwohl sie grundverschiedene Bands mögen, die aber schlicht Ausdruck ihrer Sozialisation sind. Johnny schwärmt von einem Konzert der Sugarhill Gang, feinster Old School-Hip Hop aus New Jersey, und Paul liebt die Beatles.

Gray nimmt sich sehr viel Zeit, um Pauls Familie in all ihren schrulligen Einzelheiten vorzustellen. Immerhin ist das Setting zum großen Teil auch seiner eigenen Geschichte entlehnt: Aufgewachsen im New York der 80er Jahre, einer Zeit, in der nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr auf der Straße sein wollte. Zehn Jahre, bevor die Gentrifizierung von Teilen Brooklyns und Harlem Einzug hielt und die Touristen kamen.

Grays Großeltern waren, wie die Graffs im Film, jüdische Einwanderer aus Europa, und die Elterngeneration rackerte sich ab im tiefen Glauben an den amerikanischen Traum vom großen Glück durch Fleiß und überambitionierte Assimilation. Der unbedingte Wille anzukommen, findet bei Familie Graff, ebenso wie bei James Grays Eltern, Ausdruck darin, das unliebsame -evski am Namensende verschwinden zu lassen, damit die Kinder auf der Schule nicht als »zu jüdisch« abgewiesen werden. Eine Erfahrung, die die Großelterngeneration noch machen musste.

Schließlich erkämpfen sich die Graffs, der Vater Klempner, die Mutter Lehrerin, ein bisschen Wohlstand zum Preis der knallharten Anpassung an das Ideal vom Überleben des Stärkeren. Und in diesem Geiste erziehen sie auch ihre Kinder. Erniedrigung und Härte werden für Zuneigung gehalten. Auf Pauls künstlerische Ambitionen bekommt er von seinem strengen Vater Irving (Jeremy Strong) zu hören: »Die einzige Kunst, die zählt, ist die Kunst des Erfolgs.«

Ganz anders als Paul geht es Johnny, der mit seiner dementen Großmutter zusammenlebt, jeden Tag dasselbe T-Shirt trägt, das am Ende der Woche über und über mit Essensresten und Straßenschmutz bedeckt ist. Den Glauben, mit ein bisschen Grips und Anstrengung irgendwo in der Mittelschicht zu landen, hat dieser Junge längst verloren und wahrscheinlich nie gehabt. »Ich bin es leid, von allen wie Scheiße behandelt zu werden«, sagt Johnny dann auch, nachdem sein Klassenlehrer ihn vor allen Kindern fragt, wo ausgerechnet er das Geld für den Ausflug ins Guggenheim-Museum aufgetrieben hat.

»Zeiten des Umbruchs« erzählt in sehr detailversessener Vielschichtigkeit vom Aufwachsen in einer Gesellschaft, in der Gleichheit Unfreiheit bedeutet und in der Zweifeln als Schwäche gilt. Dabei zeichnet Gray seine Charaktere mit so viel Liebe zum Unsentimentalen, dass es fast schon als unerhört gelten kann, wenn auch Kinder als egoistisch, bösartig oder feige dargestellt werden. Es geht ihm eben nicht darum, eine idealisierte Geschichte von Freundschaft zu erzählen, die am Ende alles übersteht. Sondern Paul wird Fehler machen, die ihn als Jungen der Umstände zeigen, in denen er lebt.

Zwar hatte ihm sein zugewandter und lebenskluger Großvater Aaron (Anthony Hopkins), der einzige aus der Familie, auf dessen Meinung er noch etwas gibt, geraten, beim nächsten rassistischen Ausfall gegenüber seinem Freund Johnny mal den Mund aufzumachen. Aber trotzdem schafft Paul es nicht. Zu groß ist die Angst vor den Konsequenzen, zu stark der Einfluss seiner Familie, die den Aufstiegsglauben so unbedingt leben will und denen es ein Dorn im Auge ist, mit wem sich ihr Sohn in der Schule abgibt.

Gray zeigt auch, wem welche Mittel zur Verfügung stehen, wenn es im Leben schwierig wird und offenbart damit die leeren Plattitüden des amerikanischen Traums als das, was sie sind: blanke Lügen einer privilegierten Klasse. An einem entscheidenden Punkt im Film legt Gray den Fehler des Systems so brachial offen, wie es schon Coates in »Zwischen mir und der Welt« getan hat, und es bleiben einem Sätze aus Coates’ Buch, das ein Brief an seinen 15-jährigen Sohn ist, im Hals stecken: »Stattdessen habe ich dir das gesagt, was deine Großeltern mir schon zu erklären versucht haben: dass dies dein Land ist, dass dies deine Welt ist, dass dies dein Körper ist und du irgendwie darin leben musst. Und jetzt sage ich dir, dass die Frage, wie man in einem schwarzen Körper leben soll, in einem traumverlorenen Land, die Frage meines Lebens ist (…).«

»Zeiten des Umbruchs« ist ein erstaunlicher Film, weil er am entscheidenden Punkt mit Erwartungen bricht. Es geht nicht gut aus, und eigentlich ist jede Figur auf ihre Weise in einen inneren Kampf verstrickt, den sie nicht gewinnen kann. Fast schon beiläufig taucht irgendwann auch noch der Trump-Clan auf, der an einer teuren Privatschule in Festreden vom Aufstiegsglauben schwadroniert, während sich die wenigen klugen Kinder mit Papierkügelchen beschießen und die auf Funktionieren getrimmten gespannt zuhören. Spätestens da ist klar, dass eigentlich alles verloren ist.

»Zeiten des Umbruchs«, USA 2022. Regie und Drehbuch: James Gray. Mit: Anne Hathaway, Jeremy Strong, Banks Repeta, Jaylin Webb. 115 Min. Start: 24.11.

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