Wenn die Eulen fliegen

Christian Voller liefert mit »In der Dämmerung« neue Erkenntnisse zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie

  • Sebastian Klauke
  • Lesedauer: 7 Min.
»Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«, heißt es bei Hegel zu philosophischer Erkenntnis. In solch einer Dämmerung traf sich 1923 die bunt besetzte Erste Marxistische Arbeitswoche.
»Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«, heißt es bei Hegel zu philosophischer Erkenntnis. In solch einer Dämmerung traf sich 1923 die bunt besetzte Erste Marxistische Arbeitswoche.

Die Geschichte der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule ist hinreichend und breit erforscht – zumindest ab 1931 und mit Beginn der Leitung des Instituts für Sozialforschung (IfS) durch Max Horkheimer. Auch die letzten großen Lücken wurden nach und nach durch Biografien geschlossen: Zuletzt erschienen die Darstellung von Leben und Wirken Friedrich Pollocks von Philipp Lenhard und Hans-Peter Grubers politische Biografie des Institutsgründers Felix Weil. Was dieser berühmten Geschichte jedoch voranging, wird in den Standardwerken meist nur kursorisch angerissen. Dieser Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie widmet sich nun Christian Voller in seinem Buch »In der Dämmerung«, das auf seiner Dissertation aus dem Jahr 2020 beruht.

Wie alles begann

Voller betritt mit dieser umfangreichen Rekonstruktion der intellektuellen Zusammenhänge tatsächlich weitestgehend Neuland. Ihn interessiert dabei, wie die Kritische Theorie entstanden ist, ergo mit welchen politischen wie philosophischen Strömungen und Theorien sie sich auseinandergesetzt hat und erst in und durch die Auseinandersetzung das wurde, wofür sie ab den frühen 1930er Jahren stand: eine gewichtige Stimme in der marxistischen Theorie und ein geordneter, dichter Arbeitszusammenhang.

Voller vollzieht den »Prozess der Herausbildung« der grundlegenden Kategorien wie Totalität, Krise, Warenform oder Tauschvermittlung nach, die das Gebäude der späteren Kritischen Theorie ausmachten. Den Zeitraum der 1910er und 20er Jahre, und insbesondere die Jahre 1922 und 1923, versteht er als die titelgebende »Dämmerung«, in der die spätere »Klarheit und Einheit« der Theorie noch längst nicht existierten.

Das Buch verbindet dabei »Gedanken- und Autorenbiografie« und greift hierfür auf das von Theodor W. Adorno und Walter Benjamin mitentwickelte Konzept der Konstellation zurück: also die bewegliche Anordnung verschiedener Elemente, die so zu einer Figur geraten. Zentral ist der Gedanke, dass die Entstehungsgeschichte hin zur Kritischen Theorie »keiner vorab bestimmten Entwicklungslinie« folgte, sondern geprägt war von Entscheidungen, Zufällen und teilweise auch in »Sackgassen« endete. Letzteres wird besonders drastisch am Beispiel des Philosophen Alfred Seidel deutlich, der schließlich, wie Voller in einer seiner drei personenbezogenen Studien schildert, als Konsequenz seiner philosophischen Überlegungen zur Beschaffenheit der Welt 1924 gar Suizid beging.

Im ersten Teil »Historischer Materialismus, Marxismus, Kritische Theorie« widmet sich Voller den zentralen Konzepten und Theorien wie den Produktivkräften, Produktionsverhältnissen, Fragen von Technologie, Mehrwert, Kapital, Arbeit, insbesondere entlang des Werkes von Marx. Zum einen handelt es sich dabei um eine Art Einleitungskapitel zum Marxismus, zum anderen rekonstruiert der Autor damit den Rahmen und die Höhe marxistischer Erkenntnis, in dem sich dann die Kritische Theorie bewegt. Dabei kritisiert er die Hinwendung breiter Teile der Sozialdemokratie ebenso wie des marxistischen Denkens zu einem evolutionären Modell sozialistischer Ordnung, die sich wie von selbst entwickle und der Aktion der Arbeiter*innenbewegung kaum bedürfe. Voller verdeutlicht so die Defizite der Theorie und Praxis, mit denen sich die Kritische Theorie auseinandersetzen musste, um der kapitalistischen Einrichtung der Welt beizukommen und erst recht, um diese zu überwinden.

Kant und Rätekommunismus

Der zweite Teil trägt den Titel »Rückkehren zu Marx« und führt an die konkreten Wurzeln des Denkens der späteren Kritischen Theorie heran: Zum einen war dies der Rätekommunismus, der gegen Sozialdemokratie und dem sich herausschälendem Marxismus-Leninismus eine Rückbesinnung auf Marx vertritt. Besonders einflussreich wird hier bekanntermaßen Karl Korsch mit seinem 1923 erschienenen Werk »Marxismus und Philosophie«. Es ging in den marxistischen Theoriedebatten zentral um die Ursachenbestimmung des Scheiterns der Revolution im Westen sowie der zunehmenden autoritären Entwicklung im Osten.

Zum anderen wurzelte die Kritische Theorie – und wie der Autor plausibel vor Augen führt, war dies für die unmittelbare intellektuelle Entwicklung des Horkheimer-Kreises wesentlich relevanter als die Konflikte um die korrekte Marx-Auslegung und Fragen der Sozialismusentwicklung – in den akademischen Auseinandersetzungen mit der Philosophie, konkret im Abarbeiten am Neukantianismus als prägender Richtung zu jener Zeit.

Deutlich wird in Vollers Rekonstruktion auch, dass bis auf Horkheimer weder Adorno noch Benjamin oder Leo Löwenthal sowie Alfred Seidel oder Alfred Sohn-Rethel eine sorglose Existenz und gradlinige akademische Karriere realisierten. Im Gegenteil, ihr Weg war geprägt von Brüchen und Rückschlägen. So zerschlugen sich beispielsweise die Habilitationspläne Benjamins. Auch Fragen des Historischen Materialismus, wie sie dann Horkheimer 1937 als grundlegend für die Kritische Theorie erachtete, spielten in den jeweiligen Qualifikationsarbeiten keine sonderliche Rolle. Vielmehr beobachtet der Autor erst einen schrittweisen Übergang der Denker hin zu einer materialistisch geprägten Denkweise.

Als besonders einflussreich schildert Voller das Milieu an der Heidelberger Universität, das für die im Buch betrachteten Personen prägend war und welches er »Heidelberger Synkretismus« nennt. Im Fokus jener Auseinandersetzungen stand dabei »das erkenntnistheoretische Problem der Unverfügbarkeit einer metaphysischen Totalität«, das auch in der Kritischen Theorie bis zuletzt Thema blieb, jedoch vor dem Hintergrund der materialistischen Grundierung ganz anders verhandelt wurde. In Heidelberg waren auch Ernst Bloch, Erich Fromm und Leo Löwenthal zugegen, und es lehrten unter anderem Alfred Weber und Emil Lederer. In diesem Umfeld lernten sich mehrere der von Voller vorgestellten Charaktere kennen und knüpften daraufhin Kontakte bis nach Frankfurt – dem zweiten wichtigen geografischen Bezugspunkt, an dem etwa Siegfried Kracauer und Friedrich Pollock wirkten.

Philosophisch waren es zunächst Kant und die verschiedenen neukantianischen Richtungen, die die intellektuelle Entwicklung der einzelnen Personen bestimmten und prägten. Und mit Kant wandte man sich nach und nach gegen den Neukantianismus, insbesondere gegen dessen Unfähigkeit, die Totalität der Gesellschaft zu erfassen. Die 1910er und 20er Jahre brachten damit einen Pluralismus hervor, der sich auch konkret bei den Teilnehmenden der Ersten Marxistischen Arbeitswoche 1923 zeigte, dem Theorieseminar des soeben gegründeten IfS.

Transformation zum Marxismus

Für die marxistische Prägung und theoretische Entwicklung der Protagonisten nimmt schließlich Georg Lukács eine besondere Stellung ein: Lukács entfaltete eine tief reichende Wirkung auf Adorno und die anderen bereits vor seiner Hinwendung zum Kommunismus im Jahr 1917 und intensivierte diese mit seiner Essaysammlung »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1923), um dann wiederum durch seine unbedingte Unterstützung der Partei schließlich als Gegner weiterhin präsent zu sein. Der Begriff der Warenform bei Lukács wird zur »Schlüsselkategorie«. Laut Voller speist sich das IfS damit ab 1931 unter Horkheimer aus einem »ökonomisch-philosophischen« und dem »kulturtheoretischen« Flügel.

Voller beschließt seine Darstellung mit einem dritten Teil, in dem er die in der einschlägigen Literatur zur Kritischen Theorie und ihrer Frühgeschichte nur marginal betrachteten Alfred Seidel und Alfred Sohn-Rethel intensiv porträtiert und deren intellektuellen Weg kritisch nachvollzieht – der jeweils gerade nicht in der Konstellation der Kritischen Theorie der 30er Jahre endete. Hinzu tritt Georg Lukács, dessen Weg Voller ebenfalls eingehend betrachtet, wobei hier nur bedingt neue Erkenntnisse auftauchen. Alle drei hatten aber großen Einfluss auf späteren Akteure der Kritischen Theorie, die im Gegensatz zu den drei Genannten eine durchdachte und kohärente materialistische Perspektive entwickelten – die nicht nur eine Durchgangsposition darstellte und auch nicht wie im Falle Lukács etwa aus parteipolitischen Gründen verlassen wurde – und, so die Überzeugung des Autors, bis zuletzt auch nicht mehr verwarfen.

Wenn man Vollers überzeugend dargelegter Argumentation folgt, ist auch die späte Kritische Theorie der 60er Jahre ihren marxistischen, historisch-materialistischen Grundlagen der frühen 30er Jahre konsequent treu geblieben. Nur wurde realgeschichtlich das »unerfüllte sozialrevolutionäre Begehren« eben durch die »Praxis«, sprich: die politischen Niederlagen, nicht erfüllt. Was Voller gelingt, ist die intensive Darstellung des intellektuellen Ringens um diese kohärente marxistische Position, der Nachvollzug des keinesfalls geradlinigen und auch nicht von vornherein feststehenden Weges hin zu einer Kritischen Theorie, die sich über die mühevolle Auseinandersetzung mit bürgerlichen Strömungen der Philosophie entwickelte.

Christian Voller: In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie, Matthes & Seitz 2022, 414 S., br., 32 €.

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