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- Romanverfilmung »Weißes Rauschen«
Scheitern im Ausnahmezustand
In der Verfilmung von Don DeLillos Kultroman »Weißes Rauschen« erzählt Regisseur Noah Baumbach von zusammenbrechenden Ordnungssystemen
Mitte der 80er bekam der seit Jahren als heißer Anwärter für den Literaturnobelpreis gehandelte Don DeLillo für seinen Roman »Weißes Rauschen« mit dem National Book Award die erste große Auszeichnung, der im Lauf der Jahrzehnte noch viele folgten. Der Roman erzählt die mitunter fast absurd anmutende Geschichte eines US-amerikanischen College-Lehrers, der durch einen spektakulären Chemieunfall toxischen Giften ausgesetzt ist und um sein Leben fürchten muss. Das Buch erschien ein Jahr vor der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl, was für eine breite Rezeption des Romans in den 80ern sorgte.
Nun hat sich Noah Baumbach an eine Verfilmung des Buches gewagt, die fast schon stoisch nah an der literarischen Vorlage bleibt und trotz des großartig inszenierten 80er-Jahre-Vintage-Looks dabei dennoch eine verblüffend aktuelle Geschichte erzählt. Denn »Weißes Rauschen« ist eine Allegorie auf den drohenden Zusammenbruch gültiger Ordnungssysteme, beschreibt eine zerstörerische Umwelt-Havarie und zeigt, wie viel Gewalt in der friedfertigen gutbürgerlichen Kleinstadtwelt schlummert.
Jack Gladney (Adam Driver) lebt im Mittleren Westen, wo er als College-Professor auf Hitler-Studien spezialisiert ist. Mit Ehefrau Babbette (Greta Gerwig) und den vier Kindern aus unterschiedlichen Ehen führt er ein vordergründig sehr beschauliches Leben. Er unterrichtet mit Hingabe seine Studenten und pflegt eine enge Freundschaft zu Professor Murray Siskind (Don Cheadle), der zu Elvis und den Mythologien des 20. Jahrhunderts forscht. Die beiden Wissenschaftler beschäftigen sich sehr abstrakt fortwährend mit dem Tod als politischem und kulturellem Phänomen. Das kontrastiert mit dem ruhigen Leben in der Vorzeige-College-Kleinstadt, in der die Fahrt zur Mall mit ihren fast unendlichen Regalen voller in Reih und Glied stehender farbenfroher Produkte immer wieder zum sozialen Höhepunkt des Tages wird.
Diese beschauliche Welt aus Familienleben, Konsum und wissenschaftlichem Elfenbeinturm erlebt einen jähen Einbruch, als es ganz in der Nähe zu einem schweren Chemieunfall kommt, bei dem ein Tanklaster in einen Güterzug voller toxischer Materialien rast und explodiert. Es wird eine gigantische giftige Rauchwolke freigesetzt, im Original »The Airborne Toxic Event«, nach dem sich auch eine kalifornische Indie-Band benannt hat.
Als die Bevölkerung evakuiert wird, machen sich Jack und seine Familie auf den Weg in ein Notfall-Camp. Ihnen geht das Benzin aus; Jack muss beim Tanken aus dem Wagen steigen, steht einige Minuten lang im toxischen Regen und könnte deswegen, wie er später erfährt, schwer erkranken und bald sterben.
Die Wolke löst sich auf und nach einigen Tagen kehrt die Familie in ihr Haus zurück. Das Leben hat sich aber drastisch verändert: Jack leidet unter der Angst vor einer möglichen Erkrankung. Seine Frau Babbette beginnt eine Affäre, und außerdem stellt sich heraus, dass sie abhängig ist von einem geheimnisvollen Psychopharmakon namens Dylar, das sich noch in einem Teststadium befindet und heftige Nebenwirkungen hat.
Noah Baumbach gelingt es, das Aufeinandertreffen des Chaos auslösenden Chemie-Unfalls und die Beschäftigung der beiden Wissenschaftler mit dem Tod bildgewaltig miteinander zu verknüpfen. Die todbringende schwarze Wolke, aus der Blitze schlagen und die wie ein Dämon über den Himmel zieht, könnte auch aus einem Science-Fiction- oder Horrorfilm stammen. »Weißes Rauschen« buchstabiert dramaturgisch aus, wie sehr sich alle Beteiligten an ihre Normalität klammern und den Ausnahmezustand bis zuletzt nicht wahrhaben wollen. Bis er dann doch überfallartig alles verändert und das Chaos ungehindert seinen Lauf nimmt inklusive einer kaum funktionierenden behördlichen Infrastruktur.
Die Geschichte ist indes kein spektakulärer dystopischer Action-Thriller, sondern ein überaus ironischer Film, der vom kleinteiligen Scheitern an einem sich überschlagenden Alltag erzählt. Baumbachs Werk hat aber auch düstere Momente, die an Horror erinnern, wenn Jack nachts erwacht und eine geheimnisvolle Gestalt am Fenster zu sehen glaubt.
Vor allem die langsam immer akuter werdende Sorge Jacks vor Kontamination und drohender Erkrankung, aber auch die Ängste Babbettes vor dem Sterben, vor einem Zusammenbruch des familiären Lebens werden für beide zur Manie, der sie nicht mehr entkommen können. Deshalb nimmt Babbette auch das kaum erprobte Psychopharmakon, das tief sitzende Ängste auflösen soll, dabei aber völlig versagt. Ihren Mann hält das nicht davon ab, sich diese vermeintliche Wunderdroge auch besorgen zu wollen.
In den 80eren, als Don DeLillo seinen Roman schrieb, entstanden Diskurse um präventive Medizin, die hier vor allem hinsichtlich psychologischer Konsequenzen inszeniert werden. Es geht jedoch auch um das Sammeln von Daten, um den wissenschaftlichen Versuch, Entwicklungen vorherzusagen, während eine hereinbrechende Gewalt dann doch hilflos macht. Ganz erwartungsgemäß steigert sich dieses Drama, um in ein gewalttätiges Finale zu münden, in dem Jack beschließt, Arlo Shell, den Liebhaber seiner Frau, zu erschießen. Diese Nebenfigur verkörpert Lars Eidinger, der immer öfter (wie auch in der HBO-Serie »Irma Vep«) den durchgeknallten drogenabhängigen Exzentriker spielt, mit absoluter Hingabe.
Am Ende wird dieses Drama sehr ironisch aufgelöst mit einer beinahe musicalartigen Schlussszene, die noch einmal den eigenwilligen Charakter dieses außergewöhnlichen Filmes unterstreicht.
»Weißes Rauschen«, USA 2022. Regie und Buch: Noah Baumbach. Nach dem Roman von Don DeLillo. Mit: Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle, Raffey Cassidy und Lars Eidinger. 136 Min. Auf Netflix.
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