100 Jahre Institut für Sozialforschung: Symbol veränderter Praxis

Im Interview spricht Stephan Lessenich über Tradition und Zukunft einer kritischen Gesellschaftstheorie

Herr Lessenich, vor knappen anderthalb Jahren haben Sie die Direktion des Instituts für Sozialforschung (IfS) übernommen und jüngst den Auftakt zu dessen 100-jährigem Jubiläum begangen. Was bedeutet Ihnen dieser Anlass?

Ganz alltagspraktisch markiert das Jubiläum den Punkt, an dem das Haus nach langer Zeit wieder der Öffentlichkeit zugänglich ist. Nach den Einschränkungen im Zuge der Pandemie finden hier nun wieder Veranstaltungen statt, aber auch ein regulärer Arbeitsalltag. Bis vor drei, vier Monaten lief vieles noch fast ausschließlich virtuell. Das ist ein wichtiger Moment für ein Institut, das an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit, von Forschung und Lehre, von Reflexion auf Gesellschaft und Interaktionen mit gesellschaftlichen Akteuren wirkt.

Interview

Prof. Dr. Stephan Lessenich ist seit 2021 Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und zudem Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuletzt erschien sein Buch »Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs« im Berliner Hanser-Verlag.

Und dann ist das hundertjährige Jubiläum natürlich an sich ein großer Anlass mit viel öffentlicher und medialer Aufmerksamkeit. Zwar stammt der eigentliche Nimbus des Hauses aus der Phase der 1950er und 60er Jahre, das Interesse daran endet meistens 1969 mit dem Tod Theodor W. Adornos und springt dann bloß noch protokollarisch in die Gegenwart. Trotzdem gibt diese Geschichte dem Ereignis eine gewisse Schwere und erzeugt auch Druck – gerade für mich, der für die Programmentwicklung des Hauses und auch für dessen wissenschaftlichen Erfolg verantwortlich ist. Unsere Geldgeber und Kooperationspartner waren zu einem Festakt geladen und wollen natürlich wissen, dass und wohin es hier läuft. Über das Interesse und die Förderung freue ich mich. Aber zugleich kann ich, wenn es um die Sache und die eigentliche Intention kritischer Sozialforschung geht, nicht zu freundlich sein. Die Arbeit hier bedeutet ja, die Dinge nicht einfach am Laufen zu halten, sondern ihren gewöhnlichen Gang zu unterbrechen – soweit das geht.

Gerade zum Jubiläum ist vom »legendären Institut« und seinen »heiligen Hallen« die Rede. Wie stehen Sie zum Mythos Institut für Sozialforschung?

Von dem Mythos halte ich nicht viel. Nicht dass die Würdigung der Lebensleistungen einzelner Institutsmitglieder unberechtigt wäre. Aber die Mystifizierung hilft wenig bei der Aufgabe, die gesellschaftlichen Verhältnisse heute zu begreifen und intellektuelle Herrschaftskritik in wissenschaftliche Forschung zu überführen. Für unsere konkrete Arbeit hier ist der Mythos eine Hypothek – auch wenn er zugleich das größte Kapital des Hauses ist. Doch Ehrerbietung darf das nicht nach sich ziehen. Denn man muss auch sagen, wo die Lücken waren: Etwa in der Beziehung von kritischen Intellektuellen zur politischen Praxis oder im Geschlechterverhältnis. In der medialen Geschichtsschreibung über das Institut taucht keine große Persönlichkeit auf, die des nicht-männlichen Geschlechts wäre.

Als Sie die Direktion des Instituts übernahmen, war das auch mit einer Art Paradigmenwechsel verbunden. Man könnte sagen, es ging von einer Philosophie der Anerkennung zu einer Soziologie der Teilhabe. Wie würden Sie diesen Wechsel und Ihr Programm am Haus beschreiben?

Das ist interessant, dass das so wirkt. Das setzt natürlich voraus, dass man die Direktoren pars pro toto für das Forschungsprogramm des Hauses nimmt und die Institution mit der Person identifiziert. Mit dem vorherigen Institutsdirektor Axel Honneth verbindet man eine philosophische Kritik normativer Paradoxien der Moderne, mit mir dann die politische Soziologie der Teilhabe. Klar, eine kritische Soziologie, die den nationalgesellschaftlichen Rahmen sprengt und Mikro- und Makrogeschehen ineinander denkt: Wenn sie mich fragen, ist das genau mein Ding.

Natürlich muss sich meine Arbeit im Forschungsprogramm des Instituts wiederfinden, das kann nicht nebeneinander laufen. Aber ich habe nicht den Anspruch, die Mitarbeiter*innen wie mit einem Magnet an meinen Forschungsinteressen auszurichten. Wir machen gerade einen ziemlich aufwendigen, horizontalen Prozess der Forschungsprogrammentwicklung durch. Dabei versuchen wir wirklich, die unterschiedlichsten Impulse – etwa aus den Disziplinen und den Erfahrungshintergründen – zu einem Programm zusammenzuführen. Das darf allerdings nicht beliebig werden oder nur die verschiedenen Teile aufaddieren.

Den theoretischen Rahmen gewann das frühe IfS durch eine doppelte Krisendiagnose sowohl der Krise der Gesellschaft wie auch der Krise des Marxismus – also jener Theorie, die beansprucht, diese Krisen zu erfassen und zu überwinden. Spätestens der Direktor Max Horkheimer leitete 1931 daraus die programmatischen »Aufgaben des Instituts für Sozialforschung« ab. Was ist heute die Aufgabenstellung?

Genau die gleiche.

Genau die gleiche?

Genau die gleiche – zumindest strukturell. Wir leben nach wie vor in einer Gesellschaft, die systematisch Leiden produziert, nicht notwendiges Leiden vor allem für gesellschaftliche Mehrheiten. Es ist kritisch-theoretisches Urwissen, dass die bürgerliche Gesellschaft systematisch hinter den objektiven Möglichkeiten der Befreiung der Menschen zurückbleibt. Bei aller Produktivität und Erweiterung von Möglichkeitsräumen produziert das kapitalistisch-demokratische Gesellschaftsmodell auch das Gegenteil mit: Ausschluss und Destruktivität. Die Kritische Theorie hat immer diese dunkle Seite betont und vor allem darauf bestanden, dass das Ganze menschengemacht ist. Der Gesamtzustand ist ein Artefakt von sozialen Prozessen, Auseinandersetzungen, Konflikten, Kämpfen und darf in keiner Weise naturalisiert werden. Es handelt sich nicht einfach nur um ein System, sondern real existierende Akteure mit realen Interessen sind an der Ausgestaltung der sozialen Kämpfe beteiligt, deren Ergebnis die Gegenwartsgesellschaft ist.

Die untergründige Leitfrage des Forschungsprogramms muss daher lauten: Wie kann es sein, dass diese Gesellschaft letztlich nach wie vor dieselben Operationsmechanismen von Kapitalverwertung, Naturvernichtung, der Zerstörung von sozialen Beziehungen verfolgt und das Ganze auch noch legitimationsfähig ist? Die Menschen sind in unterschiedlichen Machtpositionen in diese Verhältnisse eingeflochten, das macht die Sache erklärbar. Und dann muss aber noch empirisch nachvollzogen werden, wie es eigentlich funktioniert, dass diese beständig Krisen produzierende Gesellschaft dennoch relativ stabil ist.

In diesem Sinne wird der Kritischen Theorie oft entgegnet, sie rede immer noch vom Spätkapitalismus. Wann sei es denn mal gut damit, lebten wir dann irgendwann im Spätest- oder Allerspätest-Kapitalismus?

Tatsächlich hat sich die gesellschaftliche Gestalt des Kapitalismus auf eine gewisse Weise erschöpft, aber sie führt ein Leben nach ihrer Erschöpfung. Und dieses Nachleben macht vielen, vielen Menschen auf der Welt zu schaffen. Hierzulande erzeugt es Erschöpfung bei den Menschen, anderswo noch viel Schlimmeres.

Für mich ist das dieselbe strukturelle Fragestellung wie vor hundert Jahren: Welche Charaktermerkmale von Sozialtypen, welche Organisationsformen des Gesellschaftlichen, welche institutionellen Voraussetzungen gibt es dafür, dass der Faschismus an die Macht kommen, dass er sich halten konnte? Inwiefern kann die Bundesrepublik – bis heute eigentlich – nur als eine post-nationalsozialistische Gesellschaft verstanden werden? Auch in der Gegenwartsgesellschaft sind die Gefährdung der Demokratie, die Zerstörungskraft des Wirtschaftssystems und die Krise von sozialen Beziehungen manifest.

Zum Jubiläum wird betont, wie ungebrochen aktuell die ältere Kritische Theorie sei. Das verwundert mich etwas, sie galt ja jahrzehntelang als nicht mehr zeitgemäß. Jürgen Habermas verwies die Kritische Theorie einst auf die Zeitstimmung des Zweiten Weltkriegs, die Annahme einer gesellschaftlichen Totalität wurde von vielen bestritten und gesellschaftliche Widersprüche etwa in Paradoxien übersetzt. Was ist aus diesen Vorbehalten gegen den marxistischen Gehalt geworden?

Das ist nun der Punkt, an dem ich mich als orthodox zu erkennen gebe. In verschiedenen Belangen sind die Grundbegrifflichkeiten der älteren Kritischen Theorie meines Erachtens durchaus tragfähig. Aber wenn darauf wieder zurückgegriffen werden soll, dann nur unter Einblendung der Kritiken daran, sowohl aus dem eigenen Lager wie von außen. Je nachdem, welche Hitliste der marxistischen Grundbegriffe der Kritischen Theorie man anführt – Widerspruch, Krise, Ausbeutung, Entfremdung sind vielversprechende Kandidatinnen dafür – müssten diese auf den Prüfstand gestellt werden. Und es wäre die Aufgabe eines Forschungsprogramms, zu zeigen, wo genau die Widersprüche stecken und exakt zu analysieren, was deren Dimensionen und Dynamiken sind. Mit der bloßen Feststellung eines gesellschaftlichen Antagonismus ist nicht viel gewonnen, erst recht nicht mit der Behauptung eines Hauptwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit. Man muss die sich überkreuzenden, ineinanderwirkenden widersprüchlichen Konstellationen genauer verstehen.

Ausbeutung, würde ich beispielsweise sagen, ist nach wie vor ein ganz zentrales Konzept zum Verständnis dieser Gesellschaft. Und es gibt außerhalb des Instituts auch interessante Bemühungen, den Ausbeutungsbegriff für eine Gesellschaft zu rekonstruieren, die eben nicht mehr nur zentral an der Kapital-Arbeit-Achse ausgerichtet ist. Ausbeutung kann dann auch vulnerable Positionen in dieser Gesellschaft betreffen, die nicht in erster Linie lohnabhängige Positionen sind, aber mittelbar für Mehrwertproduktion instrumentalisiert werden – seien es nun osteuropäische Pflegearbeiterinnen, die informell Sorgeleistungen in Privathaushalten erbringen, oder bürgerschaftlich Engagierte, die mit ihrer Tätigkeit das soziale Infrastrukturgeschäft des Staates besorgen.

Ein weiterer Einwand, fast ein Allgemeinplatz, gegen die Kritische Theorie ist deren Pessimismus, wenn etwa vom totalen Verblendungszusammenhang und vom falschen Ganzen die Rede war. Sie sagen hingegen, dass diese Negativität angemessen ist.

Ja. Negative Verhältnisse brauchen auch eine Negativität der Positionierung. Eine Form der Vergesellschaftung, die so viel Leid und Zerstörung produziert, braucht erst einmal eine radikale Negation der durch sie etablierten Verhältnisse. Die Frage ist aber, ob man dabei stehenbleibt oder nicht. In radikale Positivität oder Optimismus gegenüber den herrschenden Verhältnissen kann sich keine kritische Theorie begeben. Das haben auch Habermas oder Honneth mit ihrer Kritik an der Negativität der älteren Kritischen Theorie nicht gefordert, selbst wenn ihnen eine gewisse Neigung zum Sozialdemokratismus nicht abzusprechen ist. Die Gefahr besteht eben: Wenn man sich von einer unproduktiven Negativität distanzieren will, kann das in die Affirmation des Bestehenden umschlagen. Dann ist eigentlich nur noch eine schrittweise Veränderung der Gegenwartsverhältnisse vorstellbar.

Aber bereits in der älteren Kritischen Theorie war die Negativität immer auch mit einer Aussicht auf Veränderung verbunden. Die Negativität zeugte davon, dass die Gesellschaft systematisch hinter ihren Möglichkeiten der Emanzipation, Selbstorganisation und Solidarität zurückbleibt. So sieht es auch heute noch aus. Daher kann sich eine Kritische Theorie der Negativität nicht entledigen und muss damit rechnen, dass sie in der Außenwahrnehmung darauf reduziert wird. Jedoch selbst die großen Vertreter der Kritischen Theorie – etwa Adorno als Radiosoziologe und öffentlicher Intellektueller – jagten ja nicht nur Deprimierendes über den Äther, sondern suchten auch immer die Anhaltspunkte für eine andere Gestaltung der Gesellschaft.

Das Fatale ist ja nicht, dass der Appell zur Veränderung fehlen würde. Die Einsicht, dass es nicht wie gehabt weitergehen kann, ist mittlerweile weit verbreitet. Aber es geht ja trotzdem weiter. Von Walter Benjamin stammt die Sentenz »Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe«. Wie ist es aber möglich, dass es so weitergeht? Schon wenn man diese Frage stellt, kommt man in ein positiveres Fahrwasser. Idealerweise werden so die vielfältigen Triebkräfte und Voraussetzungen dessen, dass es so weitergeht, obwohl es eigentlich nicht so weitergehen kann, sichtbar. Darin liegt die nicht ausbuchstabierte Vorstellung von etwas Anderem, dass etwas anderes möglich ist.

Die Kritische Theorie arbeitete an den Möglichkeitsbedingungen der Emanzipation. Dass sie dabei auf die Theorie zurückgeworfen ist, sei aber selbst Ausdruck einer Niederlage oder Ohnmacht. So jedenfalls drückte es Perry Anderson in seinem Essay über den »westlichen Marxismus« aus, für dessen Neuauflage Sie das Nachwort schreiben. Anderson äußerte prominent den Vorbehalt gegen die Kritische Theorie, sie sei zu bürgerlich und hätte die Revolution und die Arbeiterklasse verraten. Wie verhält sich eine kritische Gesellschaftstheorie zur politischen Praxis?

Natürlich steht eine kritische Theorie in den herrschenden politischen Zusammenhängen der bürgerlichen Gesellschaft, ebenso wie die Praxis, die sie dafür kritisiert. Tatsächlich gab es eine Distanznahme der Kritischen Theorie zur Praxis, eine Art Abgrund zwischen politischer und auch revolutionär gemeinter Praxis und der theoretischen Reflexion. Und zwar aus guten Gründen: Theorie kann nicht in Praxis aufgehen. Aber dieser Abgrund hatte auch eine habituelle und biografische Dimension, die sich dann etwa in der Entfremdung der Studierendenbewegung von Adorno zeigte, dass dieser 1969 die Räumung des besetzten Instituts veranlasste oder das Brimborium um das »Busen-Attentat«, mit dem Adornos Vorlesung gestört wurde. Die Diskrepanz von Kritischer Theorie und radikaler Praxis trug immer auch die Signatur der historischen Zeit.

Für diese Vorbehalte gegen die Kritische Theorie wählte der marxistische Philosoph Georg Lukács das Bild des »Grand Hotel Abgrund« – also eine luxuriös eingerichtete Position in den bürgerlichen Verhältnissen, die in die Katastrophe laufen …

An solchen Polemiken ist ja immer auch ein Funken Wahrheit dran. Wenn man sich etwa Aufnahmen von früher ansieht, liegt die Idee nahe, dass bestimmte Akteure auch der älteren Kritischen Theorie in ihrer eigenen Blase leben würden. Das war eine programmatische Entrücktheit, die durchaus gewollt war.

Sie halten dem eine »Petite Auberge Aufbruch« entgegen, die kleine Herberge des Aufbruchs. Was meinen Sie damit?

Nunja, von einem Grand Hotel der theoretischen Reflexion kann spätestens heute überhaupt nicht mehr die Rede sein. Auch hier am Institut fließen nicht Milch und Honig. Privilegiert ist – vielleicht abseits vom Direktor – überhaupt niemand hier am Haus. Wir leben in Zeiten der unternehmerischen Universität und arbeiten unter den betriebs- und wettbewerbswirtschaftlichen Zwängen wie alle anderen im Wissenschaftsbetrieb auch. Und dass man sich in den Verhältnissen selbstgerecht eingerichtet hätte, lässt sich auch von den am Haus tätigen Wissenschaftler*innen, die zum größeren Teil unter prekarisierten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, schwerlich sagen. Sicher, es gibt auch hier Formen falschen Bewusstseins, eine bürgerliche und auch relativ abgesicherte Existenzweise, die nicht ohne Weiteres für ein vermeintlich revolutionäres Projekt aufgegeben werden würde – zumal es seltsam wäre, das als politisches Gütekriterium zu fordern. Trotzdem ist die Motivation aller derer, die am Institut unter den gegebenen Verhältnissen tätig sind, die intellektuelle Nähe zu den Anliegen und Vorhaben der Kritischen Theorie. Bei aller Verbürgerlichung oder Einbindung in die Verhältnisse, lässt sich diese Grundstimmung durchaus für einen Aufbruch mobilisieren, mindestens indem wir bestimmte wissenschaftlich-politische Praktiken, die lange Zeit an deutschen Universitäten abwesend waren, wieder ein wenig aufleben lassen.

Denn ich glaube, dass es heute – in ganz anderen generationalen Zusammenhängen, mit ganz anderen Figuren, Typen und Hintergründen des politischen Aktivismus – auch darum gehen muss, den Abgrund zwischen Theorie und Praxis doch wieder zu verringern. Die Theorie verbrennt sich nicht die Finger, wenn sie sich der politischen Praxis annähert. Da spielt, so glaube ich, selbst Habituelles schon eine große Rolle. Ich laufe normalerweise nicht so formell gekleidet herum, wie etwa zum Festakt des Instituts. Das würde Perry Anderson als Annäherung an die Bewegung zu Recht nicht reichen – weder in seiner damaligen Zeit noch später –, es ist aber trotzdem ein Symbol einer veränderten Praxis.

In diesem Zusammenhang steht auch die Idee, die das Institut mit der zweiten marxistischen Arbeitswoche, die zu Pfingsten diesen Jahres stattfinden wird, verbindet. Es soll kein Retreat werden, bei dem wir uns untereinander austauschen und nach eigenem Dafürhalten geniale Pläne entwickeln. Was wir tatsächlich suchen, ist die Auseinandersetzung mit den sozialen und politischen Akteuren unserer Zeit, um im kritischen Dialog die anstehenden Fragen zu bearbeiten: Was sind denn Problematisierungen, die der Gegenwart gerecht werden, und was bedeuten diese für ein kritisch-theoretisches Forschungsprogramm? Diese Aufgabe ist nicht zuletzt durch die gesellschaftliche Situation geboten. Und eben deswegen auch möglich.

Während früher angeblich das Subjekt der Arbeiterklasse verraten wurde, litt die Linke dann lange Zeit darunter, dass sie überhaupt kein revolutionäres Subjekt mehr adressieren konnte. Wen macht man denn als Subjekt für den politischen Wandel aus? Zu wem soll denn die Distanz abgebaut werden?

Gute Frage. Aber diesbezüglich würde ich auch immer zurückfragen: War es denn damals tatsächlich das Subjekt Arbeiterklasse, das verraten wurde? In der Wahrnehmung der handelnden Akteure und auch der Theorie mag es sich so dargestellt haben, aber schon damals dürfte es noch mehr potenziell verratene Subjekte gegeben haben, als die in all ihren Praktiken und Aktivitäten männlich durchdrungene Arbeiterklasse. Dieses Subjekt ist ja nicht vom Himmel gefallen, es war damals schon Ergebnis einer theoretischen Reduktion. Dafür gab es gute historisch-empirische Gründe, aber diese Reduktion der sozialen Frage auf die Arbeiterfrage ist ja erst einmal eine Setzung. Und womöglich steht der Misserfolg, dieses historische Subjekt zu mobilisieren, auch in Zusammenhang mit der Verengung der Analyse im wissenschaftlichen Marxismus.

Insofern bin ich mir nicht sicher, ob das mit dem revolutionären Subjekt der Transformation heute wirklich so viel schwerer ist als damals. Es lässt sich kaum bestreiten, dass wir in komplexeren gesellschaftlichen Verhältnissen mit höherem Grad der Individualisierung, einer Vielzahl von Subjektivierungseffekten und einer schier unüberschaubaren Konstellation sozialer Spaltungen leben. Aber es führt in die Irre und hemmt auch die politische Praxis, wenn man behauptet, damals habe es nur zwei Klassen gegeben, und selbst in diesen einfachen Verhältnissen habe das mit der Transformation nicht geklappt – wie aber dann heute, in dieser Pluralität von Identitäten?

Sie haben die Realität des Wissenschaftsbetriebs der Drittmittelfinanzierung und Abhängigkeit von Fördergeldern bereits erwähnt. Inwiefern lässt sich Ihr Anspruch einer kritischen Gesellschaftstheorie darin überhaupt realisieren?

Natürlich nur näherungsweise. Es ist völlig klar, dass wir hinter der Idealvorstellung eines solidarischen und transformativen Forschungszusammenhangs weit zurückbleiben, zurückbleiben müssen. Und es ist ebenso klar: Wir brauchen ein Forschungsprogramm, das letztlich auch Geld ins Haus bringt und jedenfalls nicht ausschließt, dass man als akzeptabler wissenschaftlicher Akteur für öffentliche Förderungen gesehen wird. Aber unter den gegebenen Verhältnissen muss man – nicht nur in der Universität, sondern meines Erachtens überall im gesellschaftlichen Leben – die Positionen und Möglichkeiten nutzen, die es erlauben, etwas anders zu machen. Und da sind die Chancen eben gar nicht so gering am Institut, allein durch das symbolische Kapital. Und wer weiß, was die eigene Praxis in einer chaotischen Gesellschaft für Verästelungen und Dynamiken nach sich zieht.

Es gibt den Witz, dass Habermas Beitrag zur Kritischen Theorie lediglich darin bestünde, jene Ampel am alten Uni-Campus Bockenheim durchgesetzt zu haben, die Adorno einst zur Sicherheit der Studierenden gefordert hatte. Für was wollen Sie als Institutsdirektor erinnert werden?

Also ich habe bereits das Geländer der Dachterrasse fixieren lassen. Das dürfte in Hinblick auf die Sicherheit der Kopfarbeitenden vergleichbar relevant sein wie die Ampel (lacht). Wofür ich aber tatsächlich stehen möchte, ist die Öffnung des Hauses. Das gilt für die Studierendenschaft, die das Institut wieder als einen Ort intellektueller Auseinandersetzung wahrnehmen soll, wie für die Universität insgesamt, an der das IfS deutlicher sichtbar sein soll. Über Jahre hinweg war es das kaum bis gar nicht. Aber es gilt auch für eine interessierte, nichtakademische Öffentlichkeit. Und schließlich auch für zivilgesellschaftliche und politische Akteure, für die das, was am Institut passiert, relevant sein soll, etwas, über das sie nicht hinwegsehen können, womit sie sich auseinandersetzen müssen. Und sei es nur in dem Sinne, dass sie sich dagegen stellen.

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