- Kultur
- Heinrich Böll und Irland
Flucht aus dem eigenen Land
Heinrich Böll zog sich oft an die raue irische Westküste zurück. Dort traf er auf eine andere Welt als die des westdeutschen Wirtschaftswunders
Als Heinrich Böll Anfang der 50er Jahre zum ersten Mal nach Irland kam, gehörte Achill Island in der Grafschaft Mayo zu den ärmsten Gegenden des Landes. Der 1917 geborene Böll war zu der Zeit noch kein Nobelpreisträger, sondern ein kaum bekannter Nachwuchsautor. Der Rheinländer und Antimilitarist war begeistert von der Landschaft, von den Iren und ihrer Geschichte und gab den Startschuss für die deutsche Irland-Reisewelle.
Böll lockte Abertausende deutschsprachige Touristen nach Dublin, nach Limerick, entlang des Shannon und vor allem nach Achill Island. Eines der beliebtesten Ausflugsziele ist Keel im Norden der Insel: Das kleine Dörfchen besteht aus einem Campingplatz, einem Pub, einem Golfklub, weiß getünchten Häuschen und einem kilometerlangen, feinen Sandstrand. Türkis schimmert der Atlantik. Irische Idylle. Hier verbrachte Heinrich Böll erstmals 1954 mit seiner Familie die Ferien.
Vermieter des Cottage waren die Eltern von Elizabeth Barrett: »Heinrich kam als Gast zu meinen Eltern ins ›Bervie‹. Er fühlte sich hier sofort wohl.« Die agile Mittsiebzigerin mit dem schlohweißen Haar betreibt das elterliche Bed and Breakfast mit 14 Zimmern. »In Deutschland dagegen war das Leben für Heinrich so konfliktreich. Er hatte eigene Gedanken und Ideen. Das kam nicht immer gut an.«
Irland habe ihm einen Zufluchtsort geboten, sagt die Germanistin und Böll-Spezialistin Eda Sagarra. »Er wollte weg, um zu schreiben. Die Kinder waren noch jung. Wenn man Bilder aus dieser Zeit sieht: Er war so mager, so ausgehungert, wie die Deutschen es waren. Aber er brauchte auch Anregungen.«
Jahr für Jahr sollte Böll mit seiner Familie nach Irland und Achill Island zurückkehren – in ein unzerstörtes Land, ganz anders als das von Bomben verwundete Köln. Häufig fuhr Böll allein nach Achill Island. Während in Deutschland im Rückblick auf die NS-Zeit eine »Wir haben doch nichts gewusst«-Mentalität grassierte und sich eine neue Lust am Überfluss ausbreitete, fand Böll in Irland eine Gegenwelt zu jenem Deutschland, das Jahre zuvor Europa mit Krieg überzogen hatte.
»Böll kam zum Schreiben hierher, aber er wurde auch Teil der Gemeinschaft und lebte nicht hinter verschlossen Türen in seinem Cottage«, sagt Edward King, Sohn des Inselarztes, der eng mit Annemarie und Heinrich Böll befreundet war. Die Gäste aus Deutschland finanzierten das Internat für die Kinder einer verarmten Familie auf der Insel, erinnert sich der eloquente 72-Jährige: »Böll nahm am Dorfleben teil und hatte einen engen Freundeskreis, mit dem er auch von Deutschland aus in Kontakt blieb.«
Auf der ganzen Insel gab es damals keine Bank, erzählt King, der wie sein Vater Inselarzt wurde. Die Männer gingen zum Arbeiten für viele Monate nach England, und in dieser Zeit ließen die zurückgebliebenen Familien beim Bäcker und im Einkaufsladen anschreiben. Wenn der Mann dann mit voller Lohntüte heimkehrte, wurde alles auf einmal bezahlt. Böll sei davon fasziniert gewesen und suchte nach einer Möglichkeit, das literarisch einem deutschsprachigen Publikum zu erzählen.
Das 1957 veröffentlichte »Irische Tagebuch« gehört bis heute zu den meistverkauften Büchern Bölls. Gespräche mit dem Inselarzt, mit Postbeamten, Ausflüge mit der Eisenbahn und Aufenthalte in Dublin animierten ihn, fast 20 Artikel für deutsche Tageszeitungen zu schreiben – über die hübsche Frau des Dorfarztes, die bei einem nächtlichen Unwetter um ihren Mann fürchtet, über eine Familie mit neun Kindern, die wegen ihrer Armut einige nach England schicken muss, und vor allem über die irische Seele.
Achill Island ist mit 22 Kilometern Länge und 19 Kilometern Breite die größte Insel Irlands. 10 000 Touristen besuchen in den Sommermonaten die Strände und Torfmoore. »Heinrich«, wie der damals exotische Gast aus Deutschland noch immer vertraut genannt wird, gilt nicht nur hier als »Vater des Irland-Tourismus«. Im »Bervie«, dem Bed and Breakfast von Elizabeth Barrett, hängt ein großes Porträtfoto des Schriftstellers im Eingang. Sie erinnert sich gut an den freundlichen Mann aus dem Rheinland. Im 14. Kapitel des »Irischen Tagebuchs« ist sie als »Das neunte Kind der Mrs. D. verewigt«.
Barrett erzählt von ihrem Erbe, von Großtante und Großonkel, die verheiratet waren, aber kinderlos blieben, von ihren acht Geschwistern, die alle im Guesthouse helfen mussten, um über die Runden zu kommen. Und von ihrem Mut, dieses Erbe als einziges Familienmitglied bis heute weitergeführt zu haben. Sie ist stolz, eine Protagonistin im »Irischen Tagebuch« zu sein. Böll habe ihre ungewöhnlichen Familienverhältnisse schnell erkannt und korrekt dokumentiert, sagt sie rückblickend voller Dank.
Einen Spaziergang von Keel entfernt, im Nachbarort Dugort, liegt hinter hohen Hecken versteckt das Heinrich-Böll-Cottage. Der Weg dorthin führt entlang grüner Wiesen, in der Ferne rahmen braune, mit dunklem Moos und trockenem Heidekraut bedeckte kleine Berge die Kulisse ein. Hinter jeder Hecke: grasende Schafe mit Farbklecksen auf dem Rücken, die ihr Besitzer als Markierung gesprüht hat.
Kurz hinter dem Ortsschild von Dugort ragen auf der rechten Seite drei schneeweiße Schornsteine empor: das frisch renovierte Böll-Cottage. 1958 hatte der Schriftsteller das Haus mit Blick auf den Atlantik erworben. Heute mahnt ein Messingschild an dem stählernen Eingangstor Passanten zu Ruhe und Respekt gegenüber den hier wohnenden Künstlern, die für zwei Wochen an einem Projekt arbeiten oder einfach nur die Seele baumeln lassen können. Die Stipendien vergibt die Achill Heinrich Böll Association, ein örtliches Gremium, in dem auch irische Künstler mitwirken.
Mittlerweile gehört das Böll-Cottage dem örtlichen Förderverein von Achill Island – mit dem Ziel, es Künstlern als Zufluchtsort zur Verfügung zu stellen. »Es gibt weder Fernsehen noch Internet«, erklärt John McHugh lachend, der sich um Haus und Stipendiaten kümmert. Dafür hängen im Haus jede Menge Böll-Bilder, und an seinem originalen Schreibtisch darf gearbeitet werden. »Böll saß hier frierend und klamm, während er in seinen Texten die Kirche in Deutschland kritisierte«, sagt McHugh.
Im »Irischen Tagebuch« findet sich nichts dergleichen, der irische Katholizismus bleibt ausgespart. Stattdessen habe Böll das einfache Leben beschrieben, so McHugh, und »glückliche Kinder, die Kühe auf die Weide treiben«. Damit habe er ein Gegenbild zu dem geschaffen, »was er in Deutschland erlebte und in seinen Büchern festhielt«.
War Böll auf Achill Island also ein unkritischer Beobachter? Nein, sagt Eda Sagarra, die Germanistik-Professorin vom berühmten Trinity College in Dublin. »Er war ein couragierter Mensch.« Seit Jahren nimmt Sagarra an der Böll-Woche teil, hält Vorträge, trifft die Mitglieder der Böll-Society und Vorstandsmitglied René Böll, Sohn und Nachlassverwalter seines Vaters.
Im Sommer werden im Innenhof des Böll-Cottage Kammerkonzerte gegeben. Jeweils im Mai treffen sich regelmäßig Böll-Experten, Begeisterte oder einfach nur Touristen zu einem Gedenk-Wochenende.
Für sein »Irisches Tagebuch« bekam Böll zwar viel Lob, aber auch Kritik. Der britische Germanist James Henderson Reid warf dem deutschen Autor soziologische Blindheit im Hinblick auf die irischen Verhältnisse vor. Böll habe zwar Land und Leute respektvoll und authentisch beschrieben, aber zugleich die Rolle des Katholizismus verharmlost, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Iren ignoriert und deren Alltag idealisiert. Insofern sei das »Irische Tagebuch« gar kein Buch über Irland, sondern ein Buch über all das, was in Deutschland damals fehlte, resümiert auch Eda Sagarra: »Das ›Irische Tagebuch‹ ist ein Zeitdokument. Böll hat das gesehen, was ihn interessierte. Aber es hat sehr viele Lücken.«
War es die Sehnsucht nach einem anderen Leben, einem Ort, wo man trotz der Armut, trotz der Schwierigkeiten des Lebens sein Los akzeptierte, wie Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki vermutete? Oder war es Bölls Erkenntnis, dass die Jagd nach Reichtum das Leben nicht reicher mache? »Gut ist es, immer Kerzen, die Bibel und ein wenig Whisky im Hause zu haben, wie Seeleute, die auf Sturm gefasst sind: dazu ein Kartenspiel, Tabak, Stricknadeln und Wolle für die Frauen, denn der Sturm hat viel Atem, der Regen hat viel Wasser, und die Nacht ist lang.« (»Irisches Tagebuch«)
Böll habe sich mit den Iren verbunden gefühlt, resümiert Sagarra. Obwohl: In den Pubs von Dublin und in den kleinen Cottages im Westen des Landes war man noch katholischer als in seiner Heimatstadt Köln, frommer als in Italien, dafür aber mit einem erfrischenden Optimismus gesegnet und mit Humor.
Tatsache ist, dass Böll nach 1972, nachdem er den Literaturnobelpreis erhalten hatte, nur noch selten nach Achill Island kam. Seine Söhne nutzten weiter das Ferienhaus, badeten im Meer und kamen zum Essen in das Guesthouse von Elizabeth Barrett. Für sie bleibt Heinrich Böll der Initiator einer großen Reisewelle deutschsprachiger Touristen nach Dublin und Achill Island, die bis heute nicht verebbt ist: »Er hat uns allen hier geholfen. Die Deutschen haben auf seinen Spuren zu uns gefunden, und sie kommen noch immer. Wer weiß, ob sie ohne das ›Irische Tagebuch‹ zu uns gekommen wären.«
In Keel hat sich das Abendlicht über den Strand gelegt. Dort, wo Heinrich Böll seinen ersten Abend auf Achill Island verbracht hatte, in der guten Stube des »Bervie Guesthouse«, hat Elizabeth Barrett inzwischen ein Torffeuer im Kamin angezündet, ein ungewöhnlicher Geruch – würzig, kräftig, erdig. Zwei Ehepaare aus Deutschland nehmen einen Drink vor dem Abendessen. Sie kommen jedes Jahr – im Gepäck das »Irische Tagebuch«.
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