Braune Erben enterben

Ulrich Sander über die Schuld der Wirtschaftseliten im NS-Staat, Geschichtsrevisionismus und Gedenkstättenarbeit

  • Interview: Karlen Vesper
  • Lesedauer: 9 Min.
Im alten Dortmunder Gestapogefängnis befindet sich seit 1992 die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache.
Im alten Dortmunder Gestapogefängnis befindet sich seit 1992 die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache.

Im Rat der Stadt Dortmund ist ein Bürgerantrag zum Erhalt einer Ausstellung über Widerstand und Verfolgung 1933 bis 1945 nicht auf Zustimmung gestoßen. Wieso das denn?

Interview

Der Journalist Ulrich Sander, geboren 1941 in Hamburg, war 1960 Mitorganisator des ersten deutschen Ostermarschs und wurde im Folgejahr Mitglied der 1956 verbotenen KPD, ab 1968 dann der DKP; er gehört heute der Linkspartei an. Bis 2020 war er Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA). Sensibilisiert für die NS-Verbrechen seit seinem Besuch der Schule am Bullenhuser Damm, wo sich in der NS-Zeit ein KZ und eine Hin­rich­tungsstätte befanden, befasst er sich publizistisch und kuratorisch mit der Aufarbeitung faschistischer Vergangenheit; jüngste Bücher: »Die Macht im Hintergrund. Militär und Politik in Deutschland von Seeckt bis Struck«, »Mörderisches Finale. NS-Verbrechen bei Kriegsende«, »Von Arisierung bis Zwangsarbeit. Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933 – 1945« und »Der Iwan kam bis Lüdenscheid. Protokoll einer Recherche zur Zwangsarbeit« (alle bei Papyrossa).

Das fragen wir uns auch.

Wer sind »wir«?

Eine Gruppe aus 15 Pädagogen, Angehörigen von Widerstandskämpfern und Zeitzeugen der Nazizeit sowie weiteren Demokraten und Antifaschisten, die sich zivilgesellschaftlich für die Erinnerung an die Verbrechen des deutschen Faschismus engagieren. Der Stadtrat will nicht nur die von uns mitgestaltete Ausstellung in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache durch eine neue ersetzen, er will auch die neue Ausstellung auf die Geschichte des alten Dortmunder Polizeigefängnisses beschränken, in dem in den Jahren der Hitlerdiktatur mehr als 66 000 Menschen inhaftiert, gefoltert und schwer misshandelt worden sind. Es soll nicht mehr die gesamte Geschichte des NS-Regimes in der Stadt vermittelt werden.

Die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache wurde 1992 eröffnet. Was haben Sie gegen die Neugestaltung einer seit 30 Jahren besehenden Ausstellung einzuwenden?

Wir befürchten, dass mit dem Abbau der jetzigen Ausstellung die Namen der frühen Förderer der NSDAP und Profiteure des faschistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieges verschwinden werden und damit auch die entscheidende Frage getilgt wird: Wie konnte es dazu kommen, wie kann solches künftig verhindert werden? Um künftiges Unheil zu verhindern, genügt es nicht, der Opfer zu gedenken, es müssen auch die Täter und Hintermänner benannt werden, nicht nur die Gestapo- oder SS-Schergen, sondern auch die Vertreter der Elite, vor allem der wirtschaftlichen wie Fritz Thyssen, die Krupps und Quandts oder Albert Vögler, Generaldirektor der Vereinigten Stahlwerke, der beim Industriellentreffen am 7. Januar 1933 in Dortmund dabei war, als man besprach, wie man Hitler an die Macht hievt. Im Krieg war Vögler dann Generalbevollmächtigter für die Kriegs- und Rüstungsproduktion im Ruhrgebiet. Er finanzierte die NSDAP bereits 1924 und war Mitglied des sogenannten Keppler-Kreises, einem Freundeskreis um den »Reichsführer SS« Heinrich Himmler.

Und Sie sind sich sicher, dass in der vom Stadtrat gewollten neuen Ausstellung er und die anderen Industriellen, die Hitler protegierten, nicht genannt werden sollen?

Ja, das hat die Verwaltung am 7. Februar kaltschnäuzig beschließen lassen. Sie nimmt vor allem Anstoß am derzeitigen Themenraum »Die Schwerindustrie setzt auf Hitler«.

Mit welcher Begründung?

Es wird behauptet, die Aussagen dort gegen Vögler, Springorum, Kirdorf und Co. entsprächen nicht mehr dem neuesten Forschungsstand. Das Gegenteil ist richtig. Es tauchen immer wieder neue Beweise auf für die immense Schuld der Dortmunder Industriellen, vorgebracht von international renommierten Forschern. Der namhafte britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat solche beispielsweise in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel »Ökonomie der Zerstörung« aus dem Jahr 2007 aufgelistet. Man könnte auch auf die Publikationen des Franzosen Eric Vuillard »Die Tagesordnung«, 2017 ausgezeichnet mit dem Prix Concourt, und »Braunes Erbe« des Niederländers David de Jong, erschienen im vergangenen Jahr, verweisen. Der Dortmunder Stadtrat hingegen stützt sich auf eine veraltete Darstellung eines US-amerikanischen Professors, Henry Ashby Turner, von 1985. Darin wird die wesentliche Beteiligung der Industrie und Finanzwelt an der Etablierung und Praktizierung des Naziterrors bestritten – mit der verblüffenden Begründung: »Entspricht die weit verbreitete Ansicht, dass der Faschismus ein Produkt des modernen Kapitalismus ist, den Tatsachen, dann ist dieses System kaum zu verteidigen.«

Das ist doch eine korrekte Feststellung.

Sie war von Turner aber nicht so gemeint, wie Sie dies jetzt vermutlich interpretieren, sondern vielmehr als Schutzbehauptung zur Wahrung des kapitalistischen Systems formuliert. Wenn man die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache von all den Fakten reinigt, die eindeutig, mit Namen und Adressen, die Verbrechen und Verbrecher belegen, käme dies einer Rehabilitierung der im Nürnberger Prozess der Alliierten 1945/46 gegen die Nazi- und Hauptkriegsverbrecher Verurteilten gleich. Vögler wäre dort wohl auch angeklagt worden, wenn er nicht 1945 vorgezogen hätte, seinem Leben ein Ende zu bereiten.

Hat der Dortmunder Stadtrat ohne wissenschaftliche Beratung entschieden?

Er vertraut Mitarbeitern des Stadtarchivs, die es offensichtlich nicht abwarten können, dass der Raum in der Ausstellung zur Verantwortung der Schwerindustriellen entfällt. Es wurde bereits ein neuer, knapp gefasster Katalog herausgegeben. Darin wird Franz von Papen und nicht Hitler als derjenige angegeben, der vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 mit der Regierungsbildung beauftragt worden sei. Am Ende des schmalen Heftes heißt es irreführend: »Der Kurzführer basiert inhaltlich weitgehend auf der Dokumentation bzw. dem Ausstellungskatalog, der (bisher) herausgegeben worden ist. Manche Angaben im Kurzführer unterscheiden sich von denen in der Ausstellung. Dies ist ggf. dem aktuellen Stand der historischen Forschung geschuldet.«

Merkwürdig, am vergangenen Freitag hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Auftakt eines Veranstaltungszyklus zum 150. Jahrestag der »Villa Hügel« in Essen explizit erklärt, dass »das Haus Krupp, wie wir wissen, nicht nur passiver Auftragnehmer des nationalsozialistischen Staates war, sondern es war bereits zuvor aktiver Förderer der NSDAP in den Wochen der Zerstörung der Weimarer Republik, der Ausschaltung demokratischer Parteien und freier Gewerkschaften«. Krupp habe sich bei der Finanzierung Hitlers und seiner Partei stark engagiert, und nicht nur der deutsche Diktator, auch der italienische, Benito Mussolini, waren Gast in seiner Villa. Hat der Dortmunder Oberbürgermeister nicht das gleiche Parteibuch wie Steinmeier?

Hat er, aber er verlässt sich auf die Mitarbeiter des Stadtarchivs und auf Wissenschaftler, die dem Zeitgeist gegen jede Kapitalismuskritik huldigen.

Dortmund ist ansonsten aber eine Stadt mit vielen vorbildlichen Projekten der Erinnerung und des Gedenkens.

Ja, darunter das von uns erstrittene neue Mahnmal am Phönixsee, einem Freizeitpark in Dortmund, wo sich ein Zwangsarbeitslager befand.

Steinmeier hat in seiner Rede am 10. Februar auch an die »ausgebeuteten und geschundenen Zwangsarbeiter« erinnert, denen sich ebenfalls der »mit Blut und Tod erkaufte Reichtum« der Krupps verdanke.

Jetzt hat es aber den Anschein, als ob sich Dortmund in die Riege jener Städte einreihen will, die das Gedenken von Kritik an den ökonomischen Eliten in Deutschland befreien will. Das geschah bereits in Gedenkstätten in Oberhausen, in Essen und auch in der Wewelsburg, der ehemaligen SS-Kultstätte, in der auch der Freundeskreis von Himmlers SS tagte. Dem vom Industriellen Wilhelm Keppler, später selbst ein SS-Brigadeführer und 1938 als Staatssekretär im Auswärtigen Amt maßgeblich an der Zerschlagung der Tschechoslowakei beteiligt, gegründeten »Studienkreis für Wirtschaftsfragen« hatten Personen angehört, die in der Nachkriegs-BRD eine führende Rolle spielen sollten.

Ist diese Kehrtwende, nicht mehr von Hitler-Protegés unter deutschen Industrie- und Finanzmagnaten zu sprechen, eine speziell nordrhein-westfälische?

Sicher nicht. Es gibt keine Fördermittel für ein Gedenken, das den Geschehnissen wirklich auf den Grund geht. Und so heißt es dann auch im Münchner NS-Dokumentationszentrum, in dem die Grundfinanzierung der NSDAP durch reiche Hitler-Fans durchaus vermerkt wird: »Die Partei wurde zwar von Teilen des Bürgertums und der Industrie unterstützt, zentral für ihren Aufstieg waren aber die Spenden- und Einsatzbereitschaft ihrer Mitglieder.« Das ist Geschichtsrevisionismus vom Feinsten.

Man bemerkt diesen Eifer überall?

Ja, Kapitalismuskritik wird als Verfassungsbruch eingestuft. Das mussten und müssen gerade wir von der VVN-BdA immer wieder erleben. Wir aber sagen: Kapitalismus ist kein Verfassungsprinzip. Natürlich: Kapitalismus muss nicht zum Faschismus führen, aber in Deutschland ist es so gekommen. Und es kann wieder geschehen. Deshalb seien wir gewarnt. Und darum wollen wir auch, dass bei der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit nichts geschönt oder verharmlost wird.

Schauen wir uns doch heute um: Einer der reichsten Männer Deutschlands, Bankier Baron von Finck, hat Gelder für die AfD bereitgestellt, deren Führungspersonal teils selbst vom Bundesverfassungsschutz als rechtsextrem erkannt worden ist. Die ehemalige Zyklon B-Produzentin und IG Farben-Partnerin Degussa macht Geschäfte zugunsten der AfD. Aus der Schweiz fließen der AfD bekanntlich Mittel schwerreicher Kreise zu. Die AfD bekommt als im Bundestag und Landesparlamenten vertretene Partei zudem reichlich staatliche Mittel, demnächst wohl auch Stiftungsgelder.

Nun kann man aber die Weimarer Republik und die heutige Berliner Republik nicht gleichsetzen …

Man kann aber bedrohliche Entwicklungen vergleichen. »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, schrieb Paul Celan in seinem Gedicht »Todesfuge« 1948. Und dieser Meister hieß fast 100 Jahre lang Krupp. Heute sitzen die Meister von Tod und Verderben vor allem in den Vorständen von Rheinmetall.

Das weitere Erstarken der AfD löst berechtigte Sorgen aus, die Militanz und die Aufrüstungsforderungen ehemaliger Kriegsdienstverweigerer bei den Grünen und Sozialdemokraten heute allerdings auch.

Zur dpa-Meldung über Steinmeiers Rede in der ehemaligen Villa der Krupps möchte ich noch sagen: Die darin gemachten Ankündigungen kritischer Firmengeschichtsschreibung sind wohlfeil. Solche gibt es auch bei Tengelmann in Essen. Krupp hat sich nicht an wirklicher Zwangsarbeiterentschädigung beteiligt, aber an der Hochrüstung in der BRD sehr wohl, obwohl der Konzern solcher kurz nach dem Krieg abschwor.

Wenn es Gerechtigkeit im Land gäbe, müssten alle Erben der Profiteure des faschistischen Raubkrieges und der Zwangsarbeit im Naziregime enterbt werden. Es kann doch nicht sein, dass das geraubte Gut bei den Erben verbleibt. Sie sind in meinen Augen gewöhnliche Hehler.

Die braunen Erben enterben – ein frommer, naiver Wunsch?

Nein, müsste er nicht sein. Unglaublich, aber wahr: Man vertraut heute beispielsweise den Nachkriegsschutzbehauptungen von Günther Quandt, er habe keinen Krieg gewollt. Dem steht jedoch dessen Aussage gegenüber: »Während man draußen wähnte, dass wir Kochtöpfe machen, bereiteten wir schon im Jahr 1934 des Führers Krieg vor.« Warum kam Quandt nicht in Nürnberg vor Gericht? Dazu heißt es im Buch von David de Jong: »Als das Hauptverfahren in Nürnberg zu Ende gegangen war, wurde immer deutlicher, dass es keinen zweiten, von den Alliierten gemeinsam geleiteten und gegen deutsche Geschäftsmänner gerichteten Prozess geben würde.« Zum einen hätte der Freispruch für Bankier Hjalmar Schacht einen negativen Präzedenzfall geschaffen, zum anderen machten sich die Westalliierten Sorgen über einen »sowjetisch dominierten, antikapitalistischen Schauprozess«. Und so nahm man im Westen mit Beginn des Kalten Krieges Abstand von einer Aufklärung über die wahre Rolle der Eliten im NS-Regime.

Was ist zu tun?

Ich wünschte mir, dass überall im Land anklagende Schilder an den heutigen und früheren Firmengebäuden der Quandts, aber auch der Krupps, Oetkers, Flicks und all der anderen angebracht werden würden. Deren unrühmliche Rolle bei der Etablierung der Hitlerdiktatur darf nicht in Vergessenheit geraten. Darauf hat vor zwei Wochen in dieser Zeitung ja auch dankenswerterweise der Jenenser Faschismusforscher Manfred Weißbecker hingewiesen.

Solche Schilder dürften für die braunen Erben aber nur Mückenstiche sein.

Trotzdem. Konsequenter wäre natürlich, den Erben die räuberisch erworbene Beute abzunehmen, um sie den Hinterbliebenen der Opfer zu geben, der Ermordeten und der Arbeitssklaven. Das bundesdeutsche Erbrecht ist ungerecht, weil es Lohn für nicht geleistete Arbeit ist. Aber wenn dieses sogar aus Geraubten erwächst – was dann? So wie die gestohlenen Kunstwerke den früheren Besitzern und ihren Erben zurückzugeben sind, so sollten den Erben der Zwangsarbeiter die Lohnnachzahlungen gewährt werden, die nie erfolgt sind. Die Erben der geraubten Erträge aus Zwangsarbeit müssen zugunsten der Nachkommen der Opfer enteignet werden. Und ebenso müssen die Nachkommen der Opfer von Massakern der SS und Wehrmacht, etwa in Griechenland und Italien, entschädigt werden. Es ist höchste Zeit.

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