Berlinale-Panorama: Emotionaler Ausnahmezustand in »Al Murhaqoon«

Der Film »Al Murhaqoon« zeigt das Thema Abtreibung aus jeminitischer Perspektive - Eine Familie zwischen wirtschaftlichen und religiösen Zwängen

Eine Familie am Rand des Möglichen. Können sie sich noch ein weiteres Kind leisten?
Eine Familie am Rand des Möglichen. Können sie sich noch ein weiteres Kind leisten?

Es klingt nicht besonders tiefschürfend, aber der Grund, warum die Berlinale viele Menschen so fasziniert, ist der gleiche wie beim Eurovision Song Contest: Der Blick in die Welt, den man sich sonst weder leisten noch erlauben kann. So ist es auch bei dem Film »Al Murhaqoon« (Die Belasteten) des polnisch-jemenitischen Regisseurs Amr Gamal. Filme aus und über den Jemen sind wie Smaragde, so selten, dass sie schon deshalb faszinierend sind. Vor über zehn Jahren lief einmal ein Dokumentarfilm des britischen Regisseurs Sean McAllister auf der Berlinale, ebenfalls in der Panorama-Sektion, der einen Touristenführer in Sanaa bei seiner Arbeit begleitete, der in der brizzlig-angespannten Stimmung des Arabischen Frühlings immer weiter in die jemenitische Protestbewegung gegen Diktator Ali Abdullah Saleh hineingerät. Ein Meisterstück des filmischen Porträts und ein seltenes zeitgenössisches Dokument der jemenitischen Zivilgesellschaft.

Einen ähnlichen, wenn auch fiktionalen Einblick in das Alltagsleben im Jemen gibt Amr Gamal. Ahmed (Khaled Hamdan) arbeitet eigentlich für den lokalen TV-Sender Aden TV. Aden, Hafenstadt ganz im Süden des Landes, einst Hauptstadt und noch viel früher Sehnsuchtsort für europäische Poeten wie Arthur Rimbaud, ist inzwischen vom Bürgerkrieg gezeichnet, was im Film durch unkommentierte Langeinstellungen dokumentiert ist, und hat eigentlich nichts Sehnsüchtiges mehr an sich. Ahmed jedenfalls wird seit drei Monaten nicht mehr von seinem Arbeitgeber bezahlt und schlägt sich deshalb als Taxifahrer durch. Genau in diese mehr als prekäre Lage rasselt die Nachricht, dass seine Frau Esra’a (Abeer Mohammed) zum vierten Mal schwanger ist. Beiden ist klar, dass sie sich ein weiteres Kind finanziell nicht leisten können. Schon das Schulgeld für die anderen Kinder bringt die Familie an ihre Grenzen und darüber hinaus. Also werden Habseligkeiten an Juweliere und der Stolz an Freunde und Verwandte verkauft, wenn die ihnen Geld leihen.

Das Thema Abtreibung ist im Kino wieder präsent wie lange nicht (»Call Jane«, »Niemals selten manchmal immer« – beide liefen in den letzten Jahren auf der Berlinale), aber so unaufgeregt und doch pointiert wie in »Al Murhaqoon« ist dieser emotionale Ausnahmezustand für alle Beteiligten selten inszeniert. Gamal erzählt die Geschichte der Familie als universelles »Same shit, different country«-Drama, das in jedem x-beliebigen Land so auch hätte stattfinden können. Der Körper einer Frau ist eben universell fremdbestimmt.

Esra’a gerät an eine Ärztin, die sie mit der Begründung abweist, alle Kinder seien ein Geschenk Gottes. Wobei es hier wirklich nicht auf den Islam ankommt, sondern das Argument vom zerstörten Leben auch in vermeintlich säkularen Gesellschaften vorgetragen wird. Sie sucht infolgedessen, wohl mehr für sich selbst als für ihre religiöse Integrität, nach Gründen, weshalb eine Abtreibung in diesem frühen Stadium der Schwangerschaft (sie ist in der 6. Woche) keine moralische Bankrotterklärung ist. Und so findet sich im Internet ein religiöses Urteil, das einen Abbruch vor dem 120. Tag nach der Empfängnis für gerechtfertigt erklärt, da das Kind bis dahin noch keine Seele hat.

Für Ahmed spielen solche Momente des Zweifels keine Rolle. Er ist in diesem Punkt der knallharte Homo oeconomicus und will um jeden Preis die Abtreibung vornehmen lassen. Dabei inszeniert ihn Gamal nicht mal als Brachial-Patriarch, der seiner Frau jegliche Individualität abspricht. Im Gegenteil, wenn Esra’a von Ahmed enttäuscht ist, weil der sie in einer Situation der emotionalen Überforderung körperlich zurechtweist (er schlägt sie nicht, aber geht sie hart an), dann weint er in der Küche vor seiner Frau.

»Al Murhaqoon« ist vielschichtig erzählt. Der Film hangelt sich neben der Haupterzählung auch entlang der immanenten Brüche des Jemen, ohne dass dies aufgesetzt wirkt, was dem starken Drehbuch zu verdanken ist. Wenn Ahmed in noch größere finanzielle Nöte gerät als die, in denen er sowieso schon steckt, weil ein Militärfahrzeug sein Auto rammt, dann bleibt ihm auf die Frage, warum er die Fahrer nicht angezeigt habe, nur der lakonische Spruch: »Als wüsste ich, wer gerade unser Land regiert.« So still und doch auf den Punkt inszeniert, ist der Film doch mindestens ein Außenseitertipp für die Sektions-Auszeichnung »Berlinale Publikumspreis«.

»Al Murhaqoon«: Jemen / Sudan / Saudi Arabien 2023. Regie und Drehbuch: Amr Gamal. Mit: Khaled Hamdan, Abeer Mohammed. 91 Minuten. Termine: 26.2., 16 Uhr: Cubix 5.

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