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Luíz Carlos Prestes: Vom Sieg der Niederlagen

Luíz Carlos Prestes über seinen Vater, den »Ritter der Hoffnung«, einen langen Marsch und einen verratenen Aufstand

Ein Berufsrevolutionär am Schreibtisch: Der junge Luíz Carlos Prestes als Senator, 1946 oder 1947
Ein Berufsrevolutionär am Schreibtisch: Der junge Luíz Carlos Prestes als Senator, 1946 oder 1947

Herr Prestes, ist es eine schwere Bürde, Sohn einer Legende zu sein, die Ihr Vater schon zu Lebzeiten war? Ihr Vater Luíz Carlos Prestes wurde und wird im brasilianischen Volk als »Ritter der Hoffnung« verehrt, sein Name ist weltweit bekannt.

Interview

Einer von sieben: Luíz Carlos Prestes Filho (Junior), Jg. 1959, ist das vierte Kind von Luíz Carlos und Maria Prestes. Aufgewachsen im sowjetischen Exil, widmet sich der Journalist, Komponist, Texter, Filmemacher und Illustrator heute vornehmlich dem Andenken seiner Eltern, die maßgeblich die linke Bewegung in Brasilien geprägt haben. Dieser Tage weilte der Sohn des »Ritters der Hoffnung«, der 37 Jahre an der Spitze der KP Brasiliens stand, in Berlin, um die auf Deutsch erschienenen Erinnerungen seiner Mutter vorzustellen: »Meu companheiro. Mein Leben mit Luíz Carlos Prestes« (Zambon, 281 S., br., 16 €, aus dem Russ. v. Gudrun Havemann).

Nein, keine Bürde. Ich bin stolz auf ihn. Er gilt im heutigen Brasilien als Nationalheld, wird von links bis rechts geschätzt. Straßen, Plätze, Schulen und Kindergärten sind nach ihm benannt. Es gibt Denkmäler und Büsten. In den Schulbüchern wird über den Marsch der »Colonne Prestes« berichtet, die er als Absolvent der Militärakademie, als junger Offizier, angeführt hatte. Damals war er noch kein Kommunist, sondern ein linksliberaler Patriot. Jorge Amado hat meinem Vater mit seinem Buch »Ritter der Hoffnung« ein literarisches Denkmal gesetzt. Der spanische Dichter Federico García Lorca schrieb ein Gedicht zu seinen Ehren, zehn Tage, bevor er von den Franquisten ermordet worden ist, bereits einen Monat nach dem Putsch von Franco. Und der große chilenische Dichter Pablo Neruda verglich meinen Vater mit dem Freiheitskämpfer Simón Bolívar. 

Seit 1996 gibt es einen gezackten Obelisken, gestaltet vom berühmten Architekten Brasiliens Oscar Niemeyer, einem Freund meines Vaters. Mit seinen 25 Meter Höhe erinnert er an die fast 25 000 Kilometer, welche die »Colonne Prestes« in den 20er Jahren quer durch Brasilien, von Nord nach Süd, von Ost nach West zurückgelegt hatte. Niemeyer entwarf auch das Memorial in Palmas, das 2001 eingeweiht wurde und als Museum sowie Kultur- und Begegnungsstätte dient.

Bolsonaro hat die Denkmäler und Erinnerungsstätten an Ihren Vater, den Kommunisten, nicht abräumen lassen?

Nein. Die Kommunistische Partei Brasiliens ist heute sehr schwach, die Rechten müssen den Kommunismus nicht fürchten. In den letzten vier Jahren hat es allerdings Angriffsversuche der äußersten Rechten, strammer Antikommunisten, auf die Gedenkstätte in Porto Alegre gegeben, dem Geburtsort meines Vaters, mit dem Ziel, sie zu schließen. Doch die Stadtväter und Einwohner sagten: »Was soll das?! Luíz Carlos Prestes ist ein Sohn unserer Stadt.«

Momentan ist es sehr ehrenwert, ein Sohn oder eine Tochter von Luíz Carlos Prestes zu sein. Das war nicht immer so. Als mein Vater 1945 nach neun Jahren Einzelhaft aus dem Gefängnis entlassen wurde und als Senator kandidierte, kamen von überall her Neffen und Nichten und andere entfernte Verwandte oder Freunde, von denen selbst mein Vater nicht wusste, dass es sie gab. Sie verschwanden ebenso schnell, als zwei Jahre darauf die Kommunistische Partei, zu deren Generalsekretär mein Vater noch in Haft 1943 gewählt worden war, wieder verboten, in die Illegalität und ins Exil gezwungen wurde. Nach der Amnestie 1979 tauchten sie dann wieder auf und versuchten, meinen Vater zu umschmeicheln.

Jetzt sind die Erinnerungen Ihrer Mutter auf Deutsch erschienen. Sie starb im vergangenen Jahr und stand eigentlich immer im Schatten ihres Mannes.

Sie war nicht nur seine Gattin, sondern auch seine Genossin. Deshalb auch der Titel: »Meu companheiro«. Sie hatte bereits ein bewegtes Leben, bevor sie Luíz Carlos Prestes kennenlernte und sich in ihn verliebte. Ihr Vater João Rodrigues Sobral war Gewerkschafter, Kommunist, Revolutionär und mehrfach in Haft. Meine Mutter und ihre Geschwister hatten wie wir sieben Prestes-Kinder später aus konspirativen Gründen verschiedene Namen. Ich erfuhr erst 1990, dass der eigentliche Vorname meiner Mutter nicht Maria war, sondern Altamira. Meine Mutter stammte aus ärmlichen Verhältnissen, kannte Hunger und bitterste Armut, hat keine höhere Schulbildung genossen. Sie trat früh der KP bei und traf Luíz Carlos Prestes erstmals, als sie 13 war, auf einem Meeting in Recife 1945. Sie war mit einer Freundin dort. Als Luíz Carlos Prestes an ihnen vorbeischritt, riefen die beiden ihm keck zu: »Sei gegrüßt, schöner Mann! Wir dachten, du wärst noch hübscher.« Sieben Jahre später, meine Mutter war 20, sollte sie Luíz Carlos Prestes vor den Häschern der Reaktion in einem Geheimquartier verstecken. Sie war erschrocken, dass die Partei ihr, noch ein junges Ding, diese Bürde auftrug. Sie hat den Auftrag vorbildlich erfüllt. Ein Leben lang.

2024 jährt sich der 100. Jahrestag des Marsches der »Colonne Prestes«. Ist zum Jubiläum etwas geplant?

Ich spreche nicht gern über Pläne, weil man nie weiß, ob sie sich auch erfüllen. Aber ja, der 100. Jahrestag ist ein großes Ereignis. Die »Colonne Prestes« war eine liberale Befreiungsbewegung. Sie kämpfte gegen die Korruption, für die Industrialisierung Brasiliens, die Modernisierung des Justizsystems, für das gleiche, geheime und freie Wahlrecht, auch für Frauen, für die Reformierung des Bildungssystems und generell die Demokratisierung des Landes. Die »Colonne Prestes« war eine Partisanenarmee, die zu verschiedenen Zeiten zwischen 1300 und 1700 Kämpfer umfasste.

Vergleichbar den Guerilleros unter Fidel Castro zwei Jahrzehnte später?

Nein, im Gegensatz zu den Anhängern von Fidel Castro, die in der Sierra Maestre eine Basis errichteten, um von dort nach Havanna aufzubrechen und die Batista-Diktatur zu stürzen, war es nie das Ziel der »Colonne Prestes«, Territorien zu erobern und die Hauptstadt einzunehmen. Sie war stets in Bewegung. Ihr Hauptziel war, dass der Geist der Veränderungen, die Flamme der Rebellion nicht erlischt. Das unterschied sie auch vom »Langen Marsch« von Mao Tse-tung und seiner Roten Armee, die 1934/35 China durchstreifte, um schließlich Peking zu erobern und die Regierung der Kuomintang unter Chiang Kai-Chhek zu stürzen. Zum 100. Jahrestag des Marsches der »Colonne Prestes« wird es jedenfalls an den Gedenkstätten Veranstaltungen geben. Und wir wollen auch internationale Symposien organisieren.

Wird auch die Route der »Colonne Prestes« noch einmal nachgelaufen?

Nein. Ich bin deren Weg in den 90er Jahren abgelaufen, natürlich nicht nur zu Fuß, sondern auch per Anhalter. Ich habe unterwegs 350 Menschen interviewt. Es war erstaunlich, wie viele sich noch als Augenzeugen erinnern konnten.

Obwohl Ihr Vater mit seinem Marsch in den 20er Jahren scheiterte, hat er zehn Jahre darauf einen erneuten Anlauf gewagt. Der Aufstand vom 27. November 1935, zu dem das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale in Moskau Ihrem Vater vollste Unterstützung zugesagt hatte und ihm als Begleitung die deutschen Kommunistin Olga Benario mit nach Brasilien sandte, wurde ebenfalls blutig niedergeschlagen. Ein vermeidbares Abenteuer?

Zunächst: Ich bin nicht der Meinung, dass die »Colonne Prestes« gescheitert ist. Im Gegenteil, es war eine der erfolgreichsten Kampagnen in der Geschichte Brasiliens. Die »Colonne Prestes« hat 17 Generäle der regulären brasilianischen Streitkräfte besiegt. Es ging darum, das Land aufzuwecken. Und in der Folge kam es zu sozialen Reformen und Fortschritten. 1935 war eine völlig andere Situation. Mein Vater und seine Mitstreiter, darunter Olga, in die er sich verliebte, wagten den weltweit ersten bewaffneten Aufstand gegen den Faschismus, ein Jahr vor dem Abwehrkampf der spanischen Volksfrontrepublik gegen die Franco-, Hitler- und Mussolini-Faschisten. Der damalige brasilianische Präsident Vargas war von Hitler begeistert und faschisierte das Land. Mein Vater wusste, gegen den Faschismus kann man nur mit der Waffe in der Hand ankämpfen, mit Faschisten kann man nicht verhandeln. Der Aufstand wurde verraten, Hunderte Genossen und Genossinnen verhaftet, grausam gefoltert und ermordet. Mein Vater wurde zu 43 Jahren Gefängnis verurteilt und Olga von der Vargas-Diktatur an Hitlerdeutschland ausgeliefert, wo sie im Berliner Frauengefängnis ihre gemeinsame Tochter Anita zur Welt brachte …

Auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn des Aufstandes.

Anita konnte dank internationaler Proteste den Nazis entrissen werden. Olga wurde 1942 in Bernburg ermordet. Wenige Tage zuvor hat Vargas Hitler ein Grußtelegramm zu dessen Geburtstag geschickt. Nach der Schlacht bei Stalingrad änderte er seine Meinung, schloss sich der Antihitlerkoalition an, erklärte Deutschland den Krieg und entsandte Truppen nach Italien. Brasilien war das einzige lateinamerikanische Land, das Soldaten in den Zweiten Weltkrieg schickte. Im gewissen Sinne ist dies auch ein Sieg meines Vaters gewesen, ein Ergebnis des Aufstandes von 1935. Man kann auf Niederlagen auf verschiedene Art schauen. Im Nachhinein erweisen sich manche als Siege.

Präsident Luíz Inácio Lula weilt zurzeit in China. Der Westen ist empört. Ihr Kommentar?

China ist unser größter ökonomischer Partner. China ist Brasilien freundlich gesonnen. Es bringt sein Kapital in viele staatliche und private Projekte ein, stellt sich auf unsere Bedürfnisse ein, anders als die USA und die EU. In der Amtszeit von Bolsonaro hatte sich China zurückgezogen, beispielsweise den Import von brasilianischem Fleisch eingestellt. In den letzten zwei Monaten wurden die Beziehungen wieder auf den Stand von vor vier Jahren zurückgeführt. Die Chinesen kaufen unsere Rohstoffe, wir kaufen von ihnen Technologie. Im Unterschied zu den USA und der EU gewährt uns die chinesische Regierung Zugang zu neuen wissenschaftlich-technischen Errungenschaften, um zu eigener Hightech-Produktion befähigt zu werden. Hier findet ein ehrlicher Austausch statt.

Deutschland fordert von uns, dass wir die Ukraine mit Waffen und Munition beliefern. Das wollen wir nicht. Brasilien will sich nicht in einen Krieg hineinziehen lassen, der nicht unser Krieg ist. Das ist ein Krieg der USA gegen Russland, unter dem das ukrainische Volk leidet. Und weil wir Waffenexporte nicht gutheißen, uns daran nicht beteiligen wollen, werden auch wir mit Sanktionen bestraft. Deshalb ist Lula in China. Für uns ist das ein großes Ereignis. (Schmunzelt) Wir lieben die Chinesen. (Lacht)

In der kommunistischen Bewegung Brasiliens gab es einst auch viele Maoisten.

Na ja. Um das hier heiter abzurunden: Ich glaube, dass die Chinesen mir auch noch etwas schulden. Als meine Mutter mich gebar, am 12. Juli 1959, traf mein Vater Mao in Peking. Mao war verantwortlich dafür, dass mein Vater nicht an meinem Geburtsbett war. Dafür erwarte ich eine Entschädigung. (Lacht) – Der Westen ist selbst daran schuld, dass sich Allianzen wie BRICS bilden. Wenn Brasilien, China, Indien von den G7, die nur zehn Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, nicht als ebenbürtig erachtet werden, müssen die westlichen Staaten sich nicht wundern, wenn sie sich anderweitig verbünden. Wir lassen uns nicht gängeln, wir verfügen über genug Selbstbewusstsein und wissen um unsere Potenzen und Kompetenzen.

Vor zwei Jahrzehnten diskutierten die Linken in Europa euphorisch den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, dessen Konturen sich in Lateinamerika auszubilden schienen, so in Kolumbien, Peru, Bolivien. Jetzt redet darüber niemand mehr. Ist der Sozialismus endgültig tot?

Ideen sterben nicht. Die Welt verändert sich stetig. Ich erinnere mich an die Aussage eines sowjetischen Schriftstellers, den man einst gefragt hat, ob er sich vorstellen könne, dass die Sowjetunion eines Tages kollabieren könnte. Er sagte: »Es gibt Vorgänge, von denen wir uns nicht vorstellen können, dass sie jemals eintreten. Aber wenn sie denn dann tatsächlich stattfinden, begreifen wir, dass es gar nicht anders kommen konnte.« Die Mittel und Methoden, mit denen man den Sozialismus oder Kommunismus im 20. Jahrhundert erreichen wollte, haben sich überholt, sind heute ungeeignet. Wir lesen Marx, Engels und Lenin jetzt anders. Die griechischen Philosophen schrieben, man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Ich denke, die Menschheit benötigt nach wie vor das Ideal von sozialer Gerechtigkeit und Brüderlichkeit.

Weise letzte Worte.

(Lacht) Ich bin noch zu jung für letzte Worte.

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