100 Jahre »Geschichte und Klassenbewußtsein«: Es geht um »alles«

Der marxistische Klassiker reflektierte das Scheitern der Revolution – um sie zu ermöglichen. Auch nach 100 Jahren hält das eine Lektion bereit

  • Robert Zwarg
  • Lesedauer: 15 Min.
Auch wenn der Sturm auf das Winterpalais und die Oktoberrevolution 1917 nicht jene erhofften welthistorischen Wendepunkte waren, sie demonstrierten einmal mehr die Möglichkeit einer Revolution. Um dieses Potenzial und seine praktische Verwirklichung drehte sich Georg Lukács’ frühes Denken.
Auch wenn der Sturm auf das Winterpalais und die Oktoberrevolution 1917 nicht jene erhofften welthistorischen Wendepunkte waren, sie demonstrierten einmal mehr die Möglichkeit einer Revolution. Um dieses Potenzial und seine praktische Verwirklichung drehte sich Georg Lukács’ frühes Denken.

Im Jahre 1923 erschien der neunte Band der »kleinen revolutionären Bibliothek« im von Wieland Herzfelde gegründeten Malik Verlag: »Geschichte und Klassenbewußtsein« des ungarischen Philosophen Georg Lukács. Das »von« seiner adeligen Herkunft aus einer wohlhabenden ungarisch-jüdischen Familie war da bereits aus dem Namen des 1885 geborenen Autors gestrichen, der in serifenloser, strenger Schrift auf dem Titel prangte. Das auf Weihnachten 1922 datierte Vorwort beginnt mit einer bescheidenen Bemerkung: Keine »systematische-wissenschaftliche Vollständigkeit« habe der Leser von den Aufsätzen zu erwarten, ihre Herausgabe in Buchform verleihe ihnen »keine größere Bedeutung« als den Texten als einzelnen zukomme und überhaupt handele es sich größtenteils um »Gelegenheitsarbeiten«, teils »mitten in der Parteiarbeit« verfasst.

Diese Relativierung ist bemerkenswert, denn in dem Buch geht es um nichts weniger als alles, nämlich die Revolution. Die Revolution ist geschehen, aber weil sie gescheitert ist, steht sie zugleich noch bevor. Deswegen schaut »Geschichte und Klassenbewußtsein« sowohl nach vorne als auch zurück. Aus dem Verhältnis dieser beiden Perspektiven, aus dem Wunsch, Niederlagen und Krisen zu verstehen, resultiert eine charakteristische Spannung des Werks, die es auch heute noch lesenswert macht. Mit aller Macht der Theorie war es Lukács darum zu tun, die Notwendigkeit der Revolution zu begründen. Aber das Buch ist dort am stärksten, wo es sich dem Scheitern stellt und am schwächsten, wo es seine eigene Ahnung zurückdrängt.

Vergangenheit und Zukunft

Es war also schon einmal um »alles« gegangen und für einen Moment konnte es scheinen, als sei auch »alles« errungen worden. Hinter »Geschichte und Klassenbewußtsein« liegt die Oktoberrevolution 1917, jenes Ereignis, das für Georg Lukács wie für viele andere bewiesen hatte, dass die Menschheit sich zum Positiven wenden konnte. Dabei lagen die Anfänge von Lukács’ Denken und Wirken nicht im Kommunismus. Der Philosoph und Literaturwissenschaftler studierte zunächst in Budapest, besuchte später Vorlesungen in Berlin, etwa bei Georg Simmel, und in Heidelberg, wo er mit Max Weber und Emil Lask bekannt wurde. Anfänglich prägten Lukács vor allem der Neukantianismus und die Lebensphilosophie, deren Spuren in seinen frühen Schriften noch deutlich sichtbar sind. In Budapest war er regelmäßiger Gast des von Béla Balázs gehaltenen »Sonntagskreises«, an dem auch Arnold Hauser und Karl Mannheim teilnahmen. (Mannheim reagierte später in zahlreichen Texten implizit und explizit auf »Geschichte und Klassenbewußtsein«).

Retrospektiv hat Lukács, bemüht um biografische Stringenz, seine frühe Schaffensperiode als einen »Weg zu Marx« dargestellt. Zwar hatte er Marx bereits als Schüler gelesen, aber erst während des Ersten Weltkriegs und vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Hegel studierte er die Marxschen Werke intensiver. Schließlich habe ihm aber das Jahr 1917, so Lukács später, »eine Antwort auf bis dahin unlösbare Fragen gebracht«. Die Oktoberrevolution bedeutete für ihn einen Bruch mit der Vergangenheit und eine Öffnung der Gegenwart hin zur Zukunft. Noch im Vorwort zur Neuauflage seiner marxistischen Frühschriften, das 1968 »Geschichte und Klassenbewußtsein« vorangestellt war, schreibt Lukács, nun sei »endlich! endlich! – ein Weg für die Menschheit aus Krieg und Kapitalismus eröffnet« worden. Vergleichbar wichtig wie der Eindruck der Oktoberrevolution war für Lukács nur noch der Einfluss seiner zweiten Ehefrau, Gertrud Borstieber. Lukács kannte sie seit seiner frühesten Jugend und lebte seit 1920 mit ihr zusammen; ihr widmete er »Geschichte und Klassenbewußtsein«.

Gut ein Jahr nach dem Sturm auf das Winterpalais folgte – und scheiterte – die Novemberrevolution in Deutschland. Im selben Jahr trat Lukács in die Kommunistische Partei Ungarns ein. In der kurzlebigen Ungarischen Räterepublik unter Béla Kun war Lukács Volkskommissar für Unterrichtswesen und als politischer Kommissar in der Roten Armee an der Front. Nach der blutigen Niederlage der Räterepublik ging er zunächst in den Untergrund und floh danach unter abenteuerlichen Umständen ins Exil nach Wien, wo aller Wahrscheinlichkeit nach »Geschichte und Klassenbewußtsein« 1922 in sehr kurzer Zeit fertiggestellt wurde. Wegen dieser politisch-biographischen Erfahrung, zu der auch die Begeisterung der Arbeiterschaft für die nationale Sache im Ersten Weltkrieg sowie die parteibürokratische Verknöcherung der Sowjetunion gehörte, ist das Buch nicht nur ein Dokument des revolutionären Enthusiasmus, sondern auch der Niederlage.

Eine Reflexion des Scheiterns

Gescheitert war nicht nur die Revolution, sondern auch die Theorie, die im Nachgang der Zweiten Internationale zu einem ökonomischen Reduktionismus aus mechanisch angewandten Marxschen Versatzstücken verwandelt wurde. »Geschichte und Klassenbewußtsein« gilt als das marxistische Werk, das am nachdrücklichsten für eine Rückkehr zu Marx’ Philosophie und deren Hegelschen Bezügen plädierte. Für Perry Anderson und vor ihm Maurice Merleau-Ponty begann mit Lukács der sogenannte Westliche Marxismus. Gern wird jedoch vergessen, dass beide von dieser Strömung nicht positiv, sondern als Verfallserscheinung sprachen. Anderson charakterisierte die Tradition 1967 in seinen – nun in einer deutschen Neuauflage erscheinenden – »Considerations on Western Marxism« als partikulare, vorübergehende Erscheinung, die in letzter Instanz überwunden werden müsse. Die von Professoren dominierte Denkschule, die sich in die bürgerliche Philosophie flüchtet, der Arbeiterklasse fernsteht oder sie gar kritisiert und zu der Anderson neben Lukács unter anderem auch Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und den französischen Soziologen und Philosophen Henri Lefebvre zählte, erschien ihm als »unendlicher Umweg um jede Form revolutionärer politischer Praxis«.

Anderson hatte diesem philosophischen »Resultat einer Niederlage«, wie er es nannte, kaum weniger als die Beschwörung der Einheit von Theorie und Praxis entgegenzusetzen, die er beispielsweise in Antonio Gramsci verkörpert sah. Aber seine Kritik nahm durchaus wahr, was »Geschichte und Klassenbewußtsein« eigentlich auszeichnete: das Moment des Innehaltens und der Versuch, das Scheitern der Revolution in sich aufzunehmen. Aus diesem Anspruch resultiert eine charakteristische, aus der Krise geborene Spannung zwischen revolutionärem Voluntarismus und ökonomischem Determinismus. Lukács schwankt zwischen der Einsicht, dass Revolutionen nicht automatisch entstehen oder scheitern können und dem unbedingten Willen, ihre Notwendigkeit theoretisch wie praktisch zu erzwingen. Durch diese Ambivalenz fällt »Geschichte und Klassenbewußtsein« gewissermaßen aus Lukács’ Werk heraus: Kurz nach Erscheinen des Buchs nimmt bei ihm die Tendenz Oberhand, alle politischen Widersprüche durch den Marxismus-Leninismus und die Partei als Autorität zu glätten.

Trotz seines Schwankens wurde »Geschichte und Klassenbewußtsein« kanonisch, vor allem jenes Essay, das als »Verdinglichungsaufsatz« tradiert ist. Damit erlitt das Buch aber auch das Schicksal anderer »Klassiker«, die als Titel oder als Phrase überleben und zu Lehrbucheinträgen verkürzt werden. Begriffe wie Verdinglichung, Totalität und die Rede vom Proletariat als »identisches Subjekt-Objekt« werden so zwar überliefert. Aber wer kennt noch das Essay mit dem zeittypisch ungegenderten Titel »Rosa Luxemburg als Marxist«, den das Buch enthält? Darin arbeitet Lukács aus Luxemburgs Akkumulationsschrift die für »Geschichte und Klassenbewusstsein« zentrale Prämisse heraus, dass die Akkumulation des Kapitals nicht grenzenlos voranschreiten kann. Damit werde, so Lukács, die Revolution unausweichlich. Und wer weiß noch, dass in dem Kapitel »Legalität und Illegalität« eine selbst heute relevante Theorie des Verhältnisses linker Bewegungen zum Recht umrissen wird, die weder das Recht vergöttert noch den Bruch mit dem Recht fetischisiert?

Verdinglichung und falsches Bewusstsein

Dass diese und andere Gedanken von dem gut 130 Seiten langen Aufsatz »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats« überschattet wurden, hat freilich auch sachliche Gründe: Lukács hat die Beiträge der Aufsatzsammlung systematisch angeordnet. Das Buch beginnt mit dem methodisch angelegten Beitrag »Was ist orthodoxer Marxismus«, der eine Rückkehr zu Marx fordert, sich aber auch als Kritik des instrumentellen Umgangs mit der Marxschen Theorie durch die kommunistische Führung lesen lässt. Und es endet mit dem durchaus pragmatischen oder gar taktisch argumentierenden Aufsatz »Methodisches zur Organisationsfrage«. Anders gesagt, das Buch möchte den Übergang von Theorie in Praxis selbst vollziehen. Lukács riet deswegen, die Texte in der entsprechenden Reihenfolge zu lesen, räumte aber ein, dass der Aufsatz über »Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats« philosophisch ungeschulte Leser*innen überfordern könnte. Deswegen legte er nahe, den Aufsatz zunächst auszulassen.

Und tatsächlich ist das Verdinglichungs-Kapitel in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Es bleibt als Einziges undatiert, so als ob ihm eigentümlicher Ewigkeitswert zukäme. Zudem führt es die Rede von der Verdinglichung und der Totalität begriffsgeschichtlich in die marxistische Diskussion ein und bietet damit schließlich eine hintersinnige Reflexion auf das Scheitern der Revolution. Denn im Grunde sind Verdinglichung, Klassenbewusstsein und Totalität jeweils Antworten auf die Frage, warum die Revolution, wie in Ungarn, nicht gelang oder, wie in der Sowjetunion, unerwartete Wege einschlug.

Um diese Gedanken zu erhellen, lohnt erneut ein Blick auf die innere Ordnung von »Geschichte und Klassenbewußtsein«. Direkt vor dem Verdinglichungsaufsatz steht der Beitrag »Klassenbewußtsein«, der nicht ohne Grund prominent den zweiten Teil des Buchtitels bildet. Darunter versteht Lukács zunächst, dass die Einzelnen sich als Teil einer Gesellschaft begreifen, deren grundlegendes Strukturmerkmal zwei, nur im Bezug aufeinander existierende Klassen sind, also Bourgeoise und Proletariat. Das hieße darüber hinaus, zu erkennen, worin das Interesse der jeweiligen Klassen bestehe. Diese Erkenntnis aber, so Lukács, kann nur gelingen, wenn die Gesellschaft nicht als bloße Ansammlung isolierter und mannigfaltiger Einzelerscheinungen verstanden wird, sondern als Ganzes – als Totalität. Lukács formuliert die Totalität damit als Ideal und gibt auch den Hinweis darauf, was die Verwirklichung des Klassenbewusstseins verhindert, nämlich die »mangelnde Einheit innerhalb des Bewußtseins« sowie die Trennung von politischem und ökonomischem Kampf.

Erst im Zusammenzug mit dem Verdinglichungs-Kapitel erschließt sich dieses Argument in Gänze. Denn das vielleicht wichtigste Hindernis des Klassenbewusstseins bestehe im Phänomen der Verdinglichung. So ist im Titel auch nur noch von »Bewusstsein« statt Klassenbewusstsein die Rede, gemeint ist also das tatsächlich existierende und nicht das ideale Bewusstsein des Proletariats. Verdinglichung – ein Begriff, der bei Marx so gut wie nicht vorkommt, der Sache nach aber in der Idee des Warenfetischs angelegt ist – entspringt Lukács zufolge der Warenstruktur selbst. Der Begriff bezeichnet ein Verhältnis zwischen Menschen, das den »Charakter der Dinghaftigkeit« annimmt und in seiner »strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt«.

Diese im Warencharakter der kapitalistischen Produktion gründende Form der Vergegenständlichung führt – darin ist Lukács nah an Max Weber – durch zunehmend rationalisierte und spezialisierte Organisation der Arbeit zu einem Zerreißen der »traditionellen Verknüpfung empirischer Arbeitserfahrungen«. Der Zergliederung des Produktes im Arbeitsprozess entspreche eine Fragmentierung des Subjekts. Dieser Verdinglichung, so Lukács, ist auch das Bewusstsein des Proletariats »vorläufig noch erlegen«. Ein solch verdinglichtes Bewusstsein zeigte sich für Lukács sowohl im »rohen Empirismus« und der stupiden Berufung auf vermeintliche Tatsachen als auch in »abstraktem Utopismus« und »idealistischer Kontemplation«. Keineswegs vergöttert Lukács also das Proletariat, vielmehr sieht er es als weit davon entfernt, das erhoffte »Subjekt-Objekt des gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungsprozesses« zu sein. Die Geschichte der Bildung des Klassenbewusstseins sei voller »Rückschläge«, eine »ewige Rückkehr zum Ausgangspunkt« und erfordere gerade deswegen – und dies richtete sich auch gegen die kommunistische Führung – »ewige Selbstkritik«.

Neben diesem retardierenden Moment einer Selbstkritik zum idealen Bewusstsein findet sich in »Geschichte und Klassenbewußtsein« aber auch die Berufung auf die Partei. Anders als in späteren Schriften changiert Lukács hier noch: Angelegt ist sowohl die Überhöhung der Partei zur letztlich uneingeschränkt herrschenden Avantgarde als auch die unter Berufung auf Rosa Luxemburg erfolgende Betonung des »Prozeßartigen« sowie die subtile Kritik, die Partei müsse sich das Vertrauen der Massen erst erkämpfen, bevor sie als »Trägerin des Klassenbewußtsein« fungieren kann. Bereits kurz nach Erscheinen kritisierte die kommunistische Führung, die die Kritik sehr wohl verstanden hatte, das Buch heftig. Lukács akzeptierte dies und distanzierte sich bald von der Schrift.

Das Ganze wiederherstellen?

Auch wenn »Geschichte und Klassenbewußtsein« eine singuläre Stellung im Werk von Georg Lukács’ einnimmt, ist die Nachwirkung seiner frühen Schriften in dem Buch nicht zu unterschätzen. Sowohl den Begriff der Totalität als auch die von Hegel übernommene und kritisch gewendete Rede von der »zweiten Natur« entwickelt Lukács bereits in der »Theorie des Romans« aus dem Jahre 1916. Dort spricht er von der zweiten Natur als »Welt der Konvention: eine Welt, deren Allgewalt nur das Innerste der Seele entzogen ist«. Die Totalität wiederum taucht dort als verlorenes Ideal der Antike auf, als geschlossenes und vollendetes Ganzes, in dem »alles … vorkommt, nichts ausgeschlossen wird und nichts auf ein höheres Außen hinweist«. Für Lukács ist es die kapitalistische Moderne, die diese positive Einheit zerreißt und die Menschen in den Zustand der – so eine weitere kanonisierte Formulierung – »transzendentalen Obdachlosigkeit« führt.

In seinen früheren Schriften ging Lukács davon aus, dass sich die zerrissene Totalität als »organisches Ganzes« wiederherstellen lässt, wie es in dem 1919 erschienen Aufsatz »Alte und Neue Kultur« heißt. Dieser holistische Gedanke findet sich auch noch an manchen Stellen von »Geschichte und Klassenbewußtsein«, in denen Totalität mehr meint als einen Bezug der Einzelerscheinungen auf ein Ganzes, nämlich die Restitution einer positiven Einheit durch das Proletariat. Gerade in dieser Vorstellung ist Lukács der idealistischen Philosophie näher, als es seine wortreiche Kritik am Idealismus erahnen lässt. Kanzelte er die bürgerliche Philosophie des Idealismus in »Geschichte und Klassenbewußtsein« noch aufgrund ihrer praxisfernen Haltung ab, versuchte er in seinem Buch »Die Zerstörung der Vernunft« von 1954, den »Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler« zu konstruieren und disqualifizierte jedes Denken abseits des Marxismus als irrationalistisch.

Gleichwohl hat kaum jemand die Überzeugung, dass das Klassenbewusstsein sich seinem Bezug auf die Geschichte verdankt, ernster genommen als Lukács selbst. Seine zahlreichen Selbstkritiken zeugen sowohl von einem nahezu unterwürfigen Vertrauen in die jeweilige »Linie« der proletarischen Massenorganisation wie auch von einer bemerkenswerten Bereitschaft, ein der historischen Situation angemessenes Bewusstsein zuallererst bei sich selbst anzustreben. Schon in »Geschichte und Klassenbewußtsein« dauert es kaum einen Absatz, bis sich Lukács gehalten sieht, die »übertrieben optimistische Hoffnung« des Aufsatzes über den »Funktionswechsel des Historischen Materialismus« zu relativieren. Die Neuauflage des Buchs 1968 im Verlag Luchterhand enthält ein 40-seitiges neues Vorwort, in dem er kritisch auf sein Werk zurückblickt und sich von seinem »messianistischen Utopismus« und einem zu breit angelegten Begriff der Verdinglichung distanziert.

Eine jüngst im Aisthesis Verlag erschienene Jubiläumsausgabe von »Geschichte und Klassenbewusstsein« präsentiert ein Faksimile des Handexemplars von Georg Lukács, in dem seine teils korrigierenden, teils sich die eigenen Gedankengänge vergegenwärtigenden Anmerkungen dokumentiert werden. Das Buch überhaupt wieder zugänglich zu machen, so erfährt man in dem instruktiven Nachwort von Rüdiger Dannemann, davon musste der Autor erst überzeugt werden. Lukács war sich sicher, dass seine frühen Schriften an konkrete historische Situationen gebunden waren. Deshalb sperrte er sich lange gegen eine Neuauflage zu seinen Lebzeiten. Erst das wachsende, auch internationale Interesse sowie prominente Äußerungen von Theodor W. Adorno, Lucien Goldmann oder Maurice Merleau-Ponty überzeugten ihn schließlich Anfang der 1960er Jahre, einer Wiederveröffentlichung zuzustimmen.

Was bleibt

Vor und nach seiner Wiederveröffentlichung wurde »Geschichte und Klassenbewußtsein« viel gelesen. 1923 nahm Lukács gemeinsam mit Friedrich Pollock, Karl Korsch und Karl August Wittfogel und anderen an der Marxistischen Arbeitswoche im thüringischen Geraberg teil; es war das erste Theorieseminar des gerade gegründeten Instituts für Sozialforschung. Die spätere Bindung Lukács’ an die kommunistische Doktrin wurde zwar scharf kritisiert, dennoch hatten jene frühen Schriften bis hin zu »Geschichte und Klassenbewußtsein« eine große, zumindest untergründige Wirkung auf das Umfeld der Kritischen Theorie. Überzeugt war etwa Adorno von der Zentralität des Begriffs der Verdinglichung gleichwohl nicht: »Leicht bildet Denken tröstlich sich an der Auflösung der Verdinglichung, des Warencharakters, den Stein der Weisen zu besitzen«, schrieb er 1966 in »Negative Dialektik«.

Positiver schloss die reformkommunistische Budapester Schule um die Lukács-Schülerin Ágnes Heller und Ferenc Fehér an den Philosophen an. Auch in den Vereinigten Staaten kam es in den frühen 1970er Jahren zu einer regelrechten Renaissance des Marxismus mit Lukács im Zentrum, als in Zeitschriften wie »Telos« und »New German Critique« die linken intellektuellen Traditionen des europäischen Kontinents entdeckt wurden. Moishe Postone, der in jener Zeit begann, seine eigene Marx-Lektüre zu entwickeln, wandte in »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« allerdings ein, Lukács verkenne die historisch einmalige Vermittlungsfunktion der Arbeit, indem er sich auf den Standpunkt der Totalität stellt, die er wieder herstellen wolle.

In den Sozialwissenschaften hatte die Rede von der Totalität und der Verdinglichung seit den 1980er Jahren im Zuge einer Abwendung vom Marxismus einen schweren Stand, was sich erst in jüngerer Zeit zu ändern beginnt. Dass sich Lukács erhellend lesen lässt, zeigen beispielsweise der von Markus Bitterolf und Denis Maier herausgegebene Sammelband »Verdinglichung, Marxismus, Geschichte« (2012) sowie die von Hanno Plass herausgegebene Textsammlung »Klasse Geschichte Bewusstsein« (2015), die auch ein Vorwort von Ágnes Heller enthält. Die Beiträge sind da erkenntnisreich, wo sie einerseits Lukács’ Kritik der Verdinglichung auf ihn selbst zurückwenden und andererseits den kritischen Anspruch des Totalitätsbegriffs als Idee eines ökonomischen Ganzen, das die Einzelerscheinungen strukturiert, wieder aufnehmen.

Zu den heute kaum noch gegenwärtigen Lektionen von Lukács gehört auch, dass die Linke einmal ihre besten Momente hatte, wenn sie die eigenen Niederlagen ins Bewusstsein hob, statt in ein einfaches Weiter-so zu verfallen. Diese Erkenntnis lässt sich kritisch auf die zeitgenössische politische Landschaft beziehen: So untergräbt die bürgerliche Klimabewegung, was an der Kritik von Naturzerstörung progressiv sein könnte, durch die beständige Anrufung vom Ende der Welt und vernachlässigt tendenziell den Zusammenhang zwischen Ökologie und sozialer Frage; der universitäts- und kulturbetriebsnahe Linksliberalismus begreift Gesellschaft nicht als Ausbeutungsverhältnis, sondern als Summe ihrer Diskriminierungen; gleichzeitig reüssiert eine auf die Orthodoxie zurückgreifende klassische Bewegungspolitik, die einzig von Mobilisierung zu Mobilisierung denkt. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich also, an »Geschichte und Klassenbewußtsein« zu erinnern. Nicht, weil das Buch einfach übertragbare Lösungen bietet oder gar widerspruchsfrei ist, sondern weil es sich – auch dort, wo es scheitert – an einer Politik orientiert, bei der es tatsächlich um »alles« geht.

Robert Zwarg ist Philosoph, freier Autor und Übersetzer. Er promovierte zur »Kritischen Theorie in Amerika«, übersetzte unter anderem Mark Fishers Textsammlung »K-punk« ins Deutsche und arbeitet derzeit zu Silvia Bovenschen.

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