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Spiegel der Zivilisation

Die Geschichte der Leipziger Buchmesse ist ohne jüdischen Geist undenkbar

Damals wie heute: Während der Messezeit ein Bett zum Nächtigen zu ergattern, ist ein Glücksspiel.
Damals wie heute: Während der Messezeit ein Bett zum Nächtigen zu ergattern, ist ein Glücksspiel.

Was wäre Leipzig, wenn sich hier nicht in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts jüdische Familien angesiedelt hätte? Die Stadt an der Pleiße wäre nicht die attraktive und erfolgreiche Messemetropole, als die sie seit Jahrhunderten gilt. Die Anno Domini 1015 erstmals urkundlich erwähnte Urbs Libzi (Stadt der Linden) bot zwar ihren Juden und Jüdinnen wie so viele andere Städte im abendländisch-mittelalterlichen Europa wahrlich nicht immer eitel Sonnenschein und Freude, im Gegenteil: Auch hier wütete christlicher Judenhass, wurde Juden und Jüdinnen Leben innerhalb der Stadtmauern verwehrt, verbannt in die Judengasse vor den Stadttoren. Nach 1441 lassen sich keine Belege mehr für eine jüdische Gemeinde in Leipzig finden. Wie deren gänzliche Vertreibung erfolgte, ist unbekannt, berichten Nora Pester und Sven Trautmann.

Die promovierte Politikwissenschaftlerin, seit 2010 Inhaberin und Leiterin des auf jüdische Geschichte und Gegenwart, Kultur und Geistesleben fokussierten Verlages Hentrich & Hentrich, ist gebürtige Leipzigerin, nennt sich ein »Kind des Waldstraßenviertels«, wegen seiner vielen jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner vor der Shoah auch »Neu Jerusalem« genannt. »Ich kannte die Häuser, Läden und Wohnungen, meine Klassenkameraden lebten hier, ich besuchte meinen Schulfreund in der Hinrichsenstraße 10, nicht ahnend, dass es sich um das einstige Wohn- und Gebetshaus von Rabbiner Israel Friedmann handelte«, bekennt Nora Pester eingangs zu ihrem neuen Buch. »Wir spielten unbeschwert im nahe gelegenen Rosental, wo seinerzeit auch die hier lebenden jüdischen Leipziger Familien gern ihre Freizeit verbrachten. Aber was wussten wir über die jüdische Geschichte dieses Viertels und das Schicksal seiner Bewohnerinnen und Bewohner? Wenig, allenfalls Gerüchte.« Eine erste Ausstellung über Juden in Leipzig 1988, die sie als Schülerin der Polytechnischen Oberschule »Gotthold Ephraim Lessing« an einem Pioniernachmittag 1988 besuchte, habe ihr und vielen Leipzigern und Leipzigerinnen »lange vergessene und verdrängte Kapitel der Leipziger Stadtgeschichte eröffnet«. Jetzt hat sich Nora Pester ausgiebiger mit der jüdischen Geschichte der Stadt ihrer Kindheit befasst, in die sie vor nunmehr fünf Jahren zurückgekehrt ist mit dem Umzug ihres Editionshauses von der Spree an die Pleiße. Tatkräftige Unterstützung erhielt die Verlegerin von Sven Trautmann, 1989 in Leipzig geboren, ebenfalls Politikwissenschaftler. Entstanden ist aus vereintem Wissen, Kompetenz und Erfahrung ein kluges und wichtiges Buch, sorgfältig editiert und – nicht typisch für Sachbücher heute – reichlich mit Illustrationen versehen.

Doch zurück zum Anfang. Selbst in Zeiten, in denen jüdische Nachbarn nicht wohlgelitten waren – wenn die Stadt eine Messe feierte, waren jüdische Kaufleute und Händler in Leipzig herzlich willkommen. Einst gab es drei jährliche Messen, informiert Trautmann: zu Jubilate um den dritten Sonntag nach Ostern, zu Michaelis Ende September und zu Neujahr. Diese sogenannten Messjuden stellten über Jahrhunderte die einzige kontinuierlich jüdische Präsenz in Sachsen dar, mit Ausnahme der »Hofjuden«. Und doch blieben auch sie nicht gänzlich verschont von Schikanen; sie waren gleichfalls antijüdischer Gesetzgebung unterworfen, wie etwa der Leipziger Judenordnung von 1682. »Sie mussten zeitweise besondere Pässe, ausgestellt am kurfürstlichen Hof, besitzen und darüber hinaus ein ›Schutzgeld‹ sowie erhöhte Messegebühren als Abgaben zahlen. Das Tragen eines gelben Tuchs zur Kennzeichnung war teilweise ebenso verpflichtend wie das Vorstelligwerden bei den Autoritäten der Stadt.«

Ab dem 18. Jahrhundert strömten vermehrt Besucher aus Osteuropa, aus dem heutigen Polen, der Ukraine, aus Belarus und Russland zu den Leipziger Messen. Die »Messjuden« waren zunächst maßgeblich, aber nicht nur im Tuch- und später im Pelz- sowie Rauchwarenhandel tätig und schließlich verstärkt im Buch- und Zeitschriftengewerbe. »Leipzigs Kulturleben wurde durch Jüdinnen und Juden bereichert.« Im frühen 19. Jahrhundert war es der jüdischstämmige Felix Mendelssohn Bartholdy, Kapellmeister des Gewandhausorchesters, der in Leipzig mit dem Konservatorium die erste Musikhochschule in deutschen Landen gründete. In diesem Säculum wurden auch etliche Verlage gegründet – zu den wichtigsten zählt Trautmann den von Kurt Wolff begründeten und den Musikverlag Anton J. Benjamin, die Akademische Verlagsgesellschaft; vorgestellt wird von ihr auch die wissenschaftliche Antiquariatsbuchhandlung List & Francke.

Unter dem Einfluss der Aufklärung und der Französischen Revolution wurden judendiskriminierende Gesetze schrittweise abgeschafft. »Allmählich kam es zur Emanzipation sowie gesetzlichen Gleichstellung. Dieser Prozess setzte in Sachsen relativ spät ein.« Und doch wurden auch die Regularien für die jüdischen Messebesucher zunächst gelockert und später ganz fallen gelassen. »Erst 1866 erfolgte die vollständige Gleichstellung von Jüdinnen und Juden in Sachsen, deren Anwesenheit, Glauben und Alltagsleben eine neue gesellschaftliche Akzeptanz erhielten, während gelebte Beschränkungen und Diskriminierungen im Alltag bestehen blieben.« Vollwertiges Bürgerrecht erlangte in Leipzig als Erster 1839 ein gewisser Salomon Veith. Und in eben jenem Jahr wurde Julius Fürst als erster Gelehrter jüdischer Herkunft Hochschullehrer; eine ordentliche Professur wurde ihm jedoch erst fast drei Dezennien später zugestanden.

Mit zunehmendem Zuzug orthodoxer Juden aus Osteuropa Mitte des 19. Jahrhunderts, die aus ihrer Heimat vor Hunger, Verfolgung oder Pogromen flohen, erwuchs in Leipzig ein »deutschlandweit einzigartiges Mit- und Nebeneinander zentraleuropäisch und osteuropäisch geprägter Gemeindemitglieder«. Wie in ganz Deutschland ließen sich auch Leipziger Juden im Ersten Weltkrieg rekrutieren, um »für Kaiser, Volk und Vaterland« an den diversen Fronten zu kämpfen. Gedankt wurde es ihnen nicht.

»Auf die Blütezeit des jüdischen Lebens in Leipzig folgte der tiefe und zerstörerische Zivilisationsbruch in der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945, der in der fast vollständigen Vernichtung der jüdischen Gemeinde in der Shoah gipfelte.« Anders als zuvor wurden jedoch mit Hitlers Machtantritt als Kanzler in Deutschland Judenhass und Rassenideologie per Staatsdoktrin, Berufsverbote, Boykottaufrufe befördert. Die Nürnberger Rassengesetze, »Arisierung« und Liquidation jüdischer Unternehmen führten zu einem Exodus Leipziger Juden. »Sie hatten früher als andere die Zeichen der kommenden schrecklichen Zeit erkannt, oder es fiel ihnen leichter als anderen, ihrer Leipziger Heimat den Rücken zu kehren«, vermutet Trautmann. »Mehrere Tausend konnten Leipzig noch rechtzeitig vor der Katastrophe verlassen. Nicht allen war dies jedoch möglich. Es fehlte an Papieren, Visa, Kontakten oder den nötigen finanziellen Mitteln.« Im Frühjahr 1939 erfolgte die Zwangseinweisung in sogenannte Judenwohnungen, ab Oktober in »Judenhäuser«. Im Januar 1942 verließ der erste Deportationszug Leipzig in Richtung Riga. »Die meisten Deportierten starben bereits auf dem Transport oder wurden in den Ghettos, bei Exekutionen oder in den Konzentrationslagern ermordet. Zum Kriegsende 1945 lebten weniger als 30 Jüdinnen und Juden in der Stadt, die sich den Morden und Deportationen entziehen konnten.«

Remigranten und Überlebende der Konzentrationslager, darunter die späteren Gemeindevorsitzenden Eugen Gollomb oder Aron Adlerstein, bemühten sich nach der Befreiung vom Faschismus, jüdisches Leben in Leipzig wiederzuerwecken, und engagierten sich für den Aufbau eines neuen, sozialistischen Deutschlands wie SED-Politbüromitglied Hermann Axen oder auch der Komponist Hanns Eisler. Durch die antireligiöse und antizionistische Politik der »führenden Partei« in der DDR kam es jedoch in den 50er/60er Jahren erneut zu Auswanderungen von jüdischstämmigen Menschen. Dass Trautmann in diesem Kontext den Philosophen Ernst Bloch und den Literaturwissenschaftler Hans Mayer nennt, ist diskutabel. Für beide dürften eher geistige Engstirnigkeit, Dogmatismus und Bevormundung die Gründe gewesen sein, die DDR zu verlassen. Aber auch das ist Fakt: Bereits 1966 ist der erste Gedenkstein für die zerstörte Große Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße und für die Opfer der Shoah aus Leipzig errichtet. Wann geschah Vergleichbares in der alten Bundesrepublik? Und in den 70er Jahren entwickelte sich »ein intensiver jüdisch-christlicher Dialog, der sich mit Fragen der christlichen Schuld, aber auch des Miteinanders befasste«, wie Trautmann erwähnt.

Im Bereich der Wissenschaft habe es jedoch »nur wenig, kaum wahrgenommene Forschung zur Geschichte von Jüdinnen und Juden in Leipzig« gegeben; Verdienste darum erwarb sich Manfred Unger. Bekanntlich hat sich die DDR- und SED-Führung dann aber in den 80er Jahren explizit für jüdische Geschichte und jüdisches Erbe interessiert und jüdischen Gemeinden mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Synagogen wurden restauriert, Gedenktafeln auch in Leipzig angebracht. »Heute hat die Gemeinde wieder über 1200 Mitglieder und ist nach Berlin die größte Gemeinde Ostdeutschlands. Sie ist orthodox geprägt, und mehr als 95 Prozent der Gemeindemitglieder stammen aus der ehemaligen Sowjetunion.«

Dem historischen Exkurs folgen, alphabetisch sortiert, Kurzbiografien berühmter und weniger berühmter, für Leipzig jedoch wichtiger jüdischer Persönlichkeiten, darunter nicht wenige Frauen, darunter die Frauenrechtlerin, Sozialpädagogin und Publizistin Henriette Goldschmidt, Emmy Rubensohn, die gar noch nach dem Machtantritt der Nazis einen Jüdischen Kulturbund gründete, die im Spanienkrieg 193 tragisch verunglückte Fotografin Gerda Taro sowie die Karikaturistin Friedel Stern. Umfänglich divergieren die Texte teils stark. Dies mag der jeweiligen Quellenlage geschuldet sein. Dass prominente zeitgenössische Leipziger und Leipzigerinnen, die deutschlandweit bekannt sind, nicht ausführlicher beschrieben werden, ist nachvollziehbar. Vorgestellt werden auch markante Leipziger Orte, wie der Brühl, »Weltstraße der Pelze«, und der Alte Jüdische Friedhof.

Als Fazit liest man: »Jüdisches Leben in Leipzig war stets geprägt von Annäherung, Integration und Liberalität, aber auch von Diskriminierung, Judenfeindschaft und Antisemitismus. Nicht selten war es die nichtjüdische Bevölkerung, die den Jüdinnen und Juden ihre Erfolge neidete, den eigenen Glauben durch den jüdischen Glauben bedroht sah oder schlicht Vorurteile gegen Menschen anderen Glaubens hatte. Der Umgang mit Minderheiten und die Fähigkeit, diese zu schützen, sind stets Spiegel des gesamtgesellschaftlichen Miteinanders, der Werte und der Zivilisation.«

Nora Pester/ Sven Trautmann: Jüdisches Leipzig. Menschen – Orte – Geschichte. Hentrich & Hentrich, 180 S., br., 19,90 €; Gespräch mit Nora Pester am »nd«-Stand auf der Leipziger Buchmesse am Donnerstag, 27. April, Halle 5, C 502, 14 Uhr.

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