- Kultur
- 1968
Ulrike Heider: »Sexualität spielte eine große Rolle«
Die Autorin Ulrike Heider über Sadomasochismus in der Linken, Joschka Fischer und die Kämpfe von 1968
Frau Heider, Sie beschreiben, wie in den 90er Jahren sadomasochistische Praktiken im Kulturbetrieb und auch in Teilen der Alternativszene zum Trend wurden. Wie erklären Sie diese Entwicklung?
Ulrike Heider, 76, ist in Frankfurt am Main geboren und war dort in der Studentenbewegung aktiv. In ihren Büchern befasst sie sich mit dem Wandel der Sexualität in der linken Protestbewegung. Kürzlich veröffentlichte sie das Buch »Die grausame Lust – Sadomasochismus als Ideologie«.
Sadomasochistische Praxis wurde in der Linken schon 1975 von schwulen Spontis thematisiert und kontrovers diskutiert. Der Filmemacher Frank Ripploh sprach sich für das Ausleben entsprechender Bedürfnisse im Sinne der Selbstverwirklichung aus. Der schwule Aktivist Elmar Kraushaar rückte den Männlichkeitsfetischismus der Ledermänner in die Nähe des Faschismus. Nicht viel später tauchten sadomasochistische Ideologien auf Theaterbühnen, Filmleinwänden und auch in den Äußerungen heterosexueller links-alternativer Publizist*innen auf. Die Vorstellung von einer friedlichen, Glück bringenden Sexualität, wie sie für die späten 60er und frühen 70er Jahre typisch war, wich der Beschwörung einer dämonisch bösen, gewalttätigen Lust. Erklärte Linke schwärmten von einem »Urkrieg der Geschlechter« oder liebäugelten mit einer ungezügelten Macht der Erotik.
Wo sehen Sie den Grund für diesen Wandel?
Das so rehabilitierte autoritäre Verhältnis zwischen Sexualpartnern, die Idealisierung ihrer angeblich luststeigernden Ungleichheit und die Idee von einer kämpferischen Sexualität ergänzten den zu dieser Zeit wiederkehrenden politischen und moralischen Konservatismus. In den 90er Jahren war all das schon Mainstream.
Sexualpolitische Themen spielten in vielen Ihrer Bücher eine Rolle. Woher kam das Interesse daran?
Dieses Interesse entspringt meinem Leiden an der heute kaum mehr vorstellbaren Prüderie der 50er und 60er Jahre. Der Kuppeleiparagraf wurde noch angewandt. Außerehelicher Sex galt als etwas Niedriges und Schmutziges. Geschiedene Frauen wurden als Huren und Schwule als Kinderschänder diffamiert. Meine Eltern waren politisch wie moralisch vergleichbar progressiv. Sie sympathisierten mit der Friedensbewegung, umgaben sich mit Künstler*innen und Schauspieler*innen, die unverheiratet zusammenlebten, und hatten sogar schwule Freunde. Als meine Mutter aber im Jahr 1967 herausfand, dass ich mit meinem ersten Freund geschlafen hatte, machte sie mir eine fürchterliche Szene und nannte mich ein »Flittchen«, das heißt eine Hure.
Die 68er-Bewegung wird oft mit dem Schlagwort »sexuelle Befreiung« verbunden. Feministinnen sprachen von einer männlichen Sichtweise. Würden Sie dem zustimmen?
In den späten 70ern etablierte sich eine Variante vom Feminismus, bei dem Sexualität eine große Rolle spielte. Die Vorstellung von der guten, sanften Frauenliebe, der die böse, gewalttätige Sexualität der Männer gegenübersteht, war äußerst populär. Anhänger*innen der amerikanischen Feministin Andrea Dworkin vertraten die These, dass ein Geschlechtsverkehr mit Penetration nichts anderes als eine Vergewaltigung sei. Die 68er-Revolte war für solche Feministinnen ausschließlich eine der Befriedigung der Männer dienende Sexbewegung. Linke Männer, hieß es, hätten Frauen zum Sex genötigt oder sie gar vergewaltigt. Ich habe das selbst nicht so erlebt. Die Abrechnung mit der verlogenen Sexualmoral der Adenauer-Ära war auch für mich eine Befreiung. Und links engagierte Männer waren meiner Erfahrung nach damals weniger chauvinistisch als Konservative, was nicht heißt, dass die Frauenbewegung überflüssig gewesen wäre.
Stimmt der Eindruck, dass in Ihren Büchern auch eine Trauer über die verlorene Utopie von 1968 zu finden ist?
Es gab in der 68er-Zeit unter rebellischen Schüler*innen und Student*innen ein euphorisierendes Gefühl von Veränderbarkeit. Auch Pessimist*innen wie ich, die nie an eine soziale Revolution zu eigenen Lebzeiten geglaubt hatten, waren überzeugt davon, dass die Neue Linke alle Institutionen der bestehenden Gesellschaft nachhaltig beeinflussen werde. Skrupellose Ausbeuter menschlicher Arbeit, kriegslüsterne Politiker, prügelnde Polizisten, sadistische Schullehrer und reaktionäre Professoren würden der Vergangenheit angehören. Wenn wir weiter den Kapitalismus als überkommene Gesellschaftsform entlarven, wenn wir weiter Wissenschaftskritik betreiben, den Schulbetrieb stören, die Autorität von Vater, Familie, Nation und Religion angreifen und für unsere Ziele auf die Straße gehen würden, sähe die Welt irgendwann anders aus. Ob das eine Utopie war, sei dahingestellt. Aber schon Mitte der 70er Jahre waren die meisten dieser Hoffnungen zerstört.
Wie reagieren jüngere Leser*innen, für die die 68er-Bewegung längst Geschichte ist, auf Ihre Bücher?
Ich bin in den letzten Jahren mehrmals von Studierenden zu Buchvorstellungen oder Vorträgen eingeladen worden. Diese jungen Menschen gehörten zu einer sehr kleinen Minderheit undogmatischer Linker an den Universitäten. Mit ihnen führte ich interessante Gespräche über Ziele, Theorie und Praxis der Linken meiner und ihrer Generation. Unser damaliges Fernziel, ein demokratischer Sozialismus nach dem libertär-sozialistisch-basisdemokratischen Rätemodell, scheint mir mit den heutigen Zukunftsvorstellungen junger links engagierter Menschen vergleichbar zu sein.
Damals gehörten Sie zur Undogmatischen Linken in Frankfurt am Main, wo auch ein Teil der späteren Grünen-Realos wie Josef Fischer aktiv war. Wie blicken Sie heute auf diese Szene zurück?
Als nach dem Ende der antiautoritären Revolte seit 1969 die neostalinistischen K-Gruppen gegründet wurden, gehörte ich zu deren schärfsten Kritiker*innen. Es empörte mich, dass in diesen Organisationen Entscheidungen an der Spitze im kleinen Kreis getroffen und dann von einem selbsternannten Zentralkomitee an die Kader nach unten befohlen wurden. Eine basisdemokratische Alternative dazu war in Frankfurt der RK (Revolutionärerer Kampf), die Gruppe, der Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer angehörten. Nach anfänglichen Versuchen, mit Fabrikarbeitern zusammenzuarbeiten, besetzten deren Mitglieder Häuser, gründeten Kinderläden, Buchhandlungen, Kneipen und Kommunikationszentren. Aus dem RK und seinem Umkreis wurde eine informelle linke Szene, der die K-Gruppler Spontaneismus vorwarfen. Undogmatische Linke hießen seither Spontis. Entscheidungen trafen die Spontis nur in öffentlichen Plena nach oft sehr langen Diskussionen.
Wieso kamen aus diesen Kreisen einige spätere Realpolitiker*innen?
Die Schwäche dieser Form von Basisdemokratie war die Macht von charismatischen Führern, die Dominanz von Männern wie Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer. Der Einfluss solcher Exponenten und der Cliquen um sie herum wuchs im Laufe der 70er Jahre, ohne dass dem von der sich mehr und mehr entpolitisierenden Sponti-Szene Einhalt geboten worden wäre. Es wunderte mich deshalb später wenig, dass Cohn-Bendit und Fischer politisch mehr und mehr nach rechts rückten.
In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie, wie auch in Sponti-Kreisen in den 70er Jahren Sadomasochismus rehabilitiert wurde. Ist das Ausdruck einer Abkehr von emanzipatorischen Vorstellungen insgesamt?
Sadomasochismus als Ideologie verdankt seine Beliebtheit unter (einstigen) Linken vor allem der Rezeption von Michel Foucault. Der von den Spontis favorisierte Philosoph erklärte Marquis de Sade und dessen Schüler Georges Bataille zu »Bürgern der Subversion« und schrieb den schwulen SM-Subkulturen seiner eigenen Zeit emanzipatorisches Potenzial zu. Ich halte die Begeisterung für den von Nietzsche und Heidegger beeinflussten Theoretiker, der nicht zufällig auf den Ayatollah Khomeini hereingefallen sein dürfte, für ein Zeichen des Niedergangs der Neuen Linken.
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