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Gedenktag 8. Mai: Die Kraft der Vorfahren

Ellen Brombacher über ihre ermordeten jüdischen Großeltern, widerständige Eltern und Prägungen

Ernst Harter mit Tochter Ellen
Ernst Harter mit Tochter Ellen

Was bewegt Sie am 8. Mai?

Interview

Ellen Brombacher, 1947 in Westerholt in Nordrhein-Westfalen geboren, übersiedelte 1959 in die DDR, wo sie das Abitur mit Berufsausbildung machte. Anschließend studierte sie an der Komsomol-Hochschule in Moskau sowie Russistik an der Hum­boldt-­Universität Berlin. Sie war in verschiedenen Funktionen in der FDJ und der SED tätig, darunter Vorsitzende der Berliner Pionier­organisation. Von 1976 bis 1990 war sie Abgeordnete der Volkskammer. Ellen Brombacher ist Mitglied der Linkspartei und gehört der Kommunistischen Plattform an. Über ihre »Kindheitsmuster« berichtet sie in dem jüngst im Verlag Neues Leben erschienenen Buch »Deutsch-jüdisches Familienbild« (237 S., br., 18 €). Fotos: Privat

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    Dankbarkeit, dass wir befreit wurden und Verzweiflung über den Weltzustand. Und der Wille, diesen nicht kampflos hinzunehmen.

    Sie haben jetzt ein Buch über Ihre deutsch-jüdische Familie veröffentlicht. Warum erst jetzt?

    Es gibt keinen tieferen Grund für den Zeitpunkt. Seit langem lebt in mir der Gedanke, meinen Eltern – sie waren wunderbare Menschen – ein Denkmal zu setzen. Und mit ihnen ihren Familien und engsten Freunden. Doch zwischen dem Willen, etwas zu tun, und dem Tun selbst liegen häufig die Alltagspflichten. Irgendwann begreift man jedoch, dass nicht ewig Zeit bleibt.

    Ihre Großeltern mütterlicherseits, Julie und Ivan Meyerstein, wurden im März 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert. Und dort verliert sich ihre Spur?

    Ja. Es gibt nur den Hinweis, dass aus dem Transport, mit dem meine Großeltern und weitere Familienangehörige deportiert wurden, sich nie wieder jemand gemeldet hat. Alle Nachforschungen sind vergeblich gewesen. Ich weiß nicht, ob sie noch den Ghettoaufstand 1943 miterlebt haben oder da bereits in Auschwitz ermordet worden sind. Dankenswerterweise hat die Kulturwissenschaftlerin Tonia Sophie Müller unter Mitarbeit von Eike Dietert eine Dokumentation über »Die jüdische Familie Meyerstein in Bremke und Göttingen« verfasst. Dort sind die von den Nazis ermordeten Mitglieder meiner Familie aufgeführt. Alle mit Deportationstermin, die wenigsten mit dem Ort ihres Todes. »Verschollen« heißt es bei den meisten. Verschollen steht für vergast, erschossen, erhängt, verhungert und all die unfassbaren Grausamkeiten, mit der die Nazis ihre Opfer zu Tode brachten. Meine Urgroßeltern Bertha und Max Meyerstein, beide damals über 80, kamen nach Theresienstadt, ins sogenannte Altersghetto, von dem ein NS-Propagandafilm höhnte: »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt«. Von ihnen gibt es eine sogenannte Todesfallanzeige. Beide »starben«, im Abstand von drei Monaten, angeblich an Darmkatarrh.

    Mindestens 40 Angehörige der Familie Ihrer Mutter sind dem mörderischen Antisemitismus der Nazis zum Opfer gefallen. Haben Sie mal versucht, sich in deren letzte Stunden und Minuten hineinzuversetzen? Oder geht das gar nicht?

    Ich habe es nicht versucht, weil es unvorstellbar ist. Es gibt andere Momente. Der Film »Der Untergang« zeigt in einer der letzten Szenen, wie Eva Braun sich vor dem Selbstmord die Lippen anmalt. Als ich das sah, dachte ich unwillkürlich – und ich gebe es zu – voller Hass: Das konnte deine Großmutter nicht, als sie sie ins Gas schickten oder sonst wie ermordeten.

    Ihre Mutter, die einen sehr, sehr deutschen Namen hatte: Brunhilde, verließ bereits im Herbst 1933 Deutschland. Warum sind deren Eltern nicht mitgegangen?

    Ellen Brombacher mit Sohn Sascha und ihrem Mann Pedro in Leningrad
    Ellen Brombacher mit Sohn Sascha und ihrem Mann Pedro in Leningrad

    Meine Mutter war jung. Sie hatte die Kraft, in eine völlig ungewisse Zukunft zu gehen. Ihre Eltern trauten sich das nicht mehr zu. Die mittlere Schwester meiner Mutter, Irma, ging 1936 nach Palästina. Die jüngere Schwester Anni holte meine Mutter kurz vor Kriegsbeginn 1939 zu sich nach Belgien in die Emigration. Irma und Anni gingen nach dem Krieg in die USA. Und im übrigen riefen alle meine Mutter nur »Hilde«.

    Obwohl als Jüdin verfolgt, gehörte Ihre Mutter dem Widerstand an. Ist sie da nicht ein doppeltes Risiko eingegangen?

    Das Risiko der Folter, vor der sie mehr Angst hatte als vor dem Tod. Eine Chance, als Jüdin zu überleben, wenn sie den Faschisten in die Hände fiele, hatte sie so oder so kaum. Allerdings hat meine Mutter das wohl kaum abgewogen. Sie wollte etwas tun gegen die Barbarei und sah in den Kommunisten die konsequentesten Hitlergegner und in der Roten Armee die größte Hoffnung. So ging sie, illegal lebend, in Belgien in den Widerstand und arbeitete – mit blondgefärbten Haaren – unter Wehrmachtsangehörigen. Sie war eine mutige Frau und konsequent. 1942 wurde sie Mitglied der KPD und blieb zeit ihres Lebens Kommunistin.

    Auch Ihr Vater war im Widerstand. Ein Bruder Ihres Vaters hat einen ganz anderen Weg eingeschlagen. War da zwischen beiden das Tischtuch zerschnitten? Und ist das typisch deutsch, dass der ideologische Riss quer durch die Familie ging?

    Typisch deutsch ist vielleicht nicht ganz präzise. So viele Widerstandskämpfer gab es ja in Deutschland nicht. Aber ja, der Riss ging durch so manche Familie. Ein ideologischer Riss war das zwischen meinem Vater und seinem Bruder Heinz aber eher nicht. Heinz war kein Nazi und stets solidarisch mit seinem ältesten Bruder Franz, der wie mein Vater Kommunist war und nach sieben Jahren Haft im KZ Sachsenhausen ermordet wurde. Heinz wurde dann in die Wehrmacht eingezogen und nahm am sogenannten Russlandfeldzug teil. Mein Vater wusste jedoch: Sich nicht fügen, hieß den Weg des Widerstands zu gehen; mit allen Konsequenzen, den diese Entscheidung mit sich brachte. Für meinen Vater bedeutete das: Zuchthaus und die Konzentrationslager Sachsenhausen und Mauthausen. Heinz war kein Mensch, der zu dieser Art Kampf bereit war. Auch nach dem Krieg hat er sich nie politisch engagiert. Mein Vater hat das realistisch eingeschätzt, und er hat ihn geliebt.

    Aus den Niederlanden haben Sie, nach dem Tod Ihres Vaters Ernst Harter, einen berührenden Brief erhalten. Die Freundschaft unter Leidensgefährten in den deutsch-faschistischen KZ und Zuchthäusern scheint weiterzuleben in deren Kindern. Wie kommt das?

    Der Enkel eines Holländers, der Sachsenhausen überlebte, hatte in den Aufzeichnungen seines Großvaters den Namen meines Vaters gefunden und fragte bei mir an, ob ich wüsste, dass sein 1946 geborener Vater nach einem »guten Deutschen aus dem Lager« benannt worden sei: Ernst. Das hat mich tief berührt. Inzwischen habe ich Mischa Lemaire persönlich kennengelernt – und da war da das Gefühl, man kannte sich schon lange. Wie das kommt? Vielleicht, weil die Achtung vor dem Mut und der Kraft der Vorfahren eine stark verbindende Gemeinsamkeit und zugleich Verpflichtung für die Nachkommen ist.

    Sie oder besser: Ihre Eltern sind »Republikflüchtlinge« im umgekehrten Sinne gewesen, von West nach Ost. Wie kam dies?

    Nach dem KPD-Verbot 1956 ging mein Vater in die DDR, meine Mutter und ich folgten ihm 1959. Ich bin bis heute dankbar, dass ich gute drei Jahrzehnte meines Lebens ohne Kapitalismus verbringen durfte.

    Haben Sie Antisemitismus in der DDR erlebt?

    Nein. Aber ich weiß, dass es den gab. Bodensatz hält sich, und das haben wir unterschätzt. Wogegen ich mich aber verwehre: der DDR strukturellen Antisemitismus zu unterstellen. Hermann Axen war Mitglied des Politbüros, die Auschwitznummer auf dem Unterarm. Globke, der Mitverfasser der Nürnberger Gesetze von 1935, war Kanzleramtschef unter Adenauer. Kein Zufall, sondern Ausdruck dessen, dass der Faschismus in der DDR ökonomisch mit den Wurzeln ausgerottet wurde, nicht so in der BRD.

    Ellen mit ihrer Mutter Hilde Harter
    Ellen mit ihrer Mutter Hilde Harter

    Was ist gegen Antisemitismus, Rassismus und Völkerverhetzung zu tun?

    »Teile und herrsche« ist ein unabdingbares Prinzip zur Aufrechterhaltung der Ausbeuterordnung. Solange es Kapitalismus gibt, wird es Rassismus und Chauvinismus geben. Und gerade deshalb muss man diese besonders mörderische Art des Zynismus bekämpfen.

    Hat der 24. Februar 2022 Ihr Weltbild zum Einsturz gebracht? Nicht nur, aber vor allem, weil der Vormarsch dermehrheitlich sich aus russischen Soldaten und Soldatinnen rekrutierenden Roten Armee 1944 Ihrer Mutter das Leben rettete – weshalb Sie auf der Welt sind, eine Familie gründen und ein sinnerfülltes Leben führen konnten?

    Der Vormarsch der Roten Armee hat meiner Mutter und meinem Vater das Leben gerettet, wenngleich beide von den Truppen der westlichen Alliierten befreit wurden: Meine Mutter in einem Sammellager für Auschwitz und mein Vater in Mauthausen. Die Sowjetunion trug die Hauptlast im Kampf gegen den Faschismus. Das haben mir meine Eltern früh beigebracht. Ich ging ja zunächst in eine westdeutsche Schule, in der man uns am Volkstrauertag der deutschen Soldaten gedenken ließ, die fern von daheim für die Heimat gefallen seien. Erst mit der 68er-Bewegung begann in der alten BRD so etwas wie eine Aufarbeitung der Naziverbrechen; die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten kam damals allerdings auch so gut wie nicht vor. Der Antikommunismus diktierte die Richtungen der Trauerarbeit. Das macht es heute in den alten Bundesländern so leicht, Russenhass zu schüren.

    Im Osten ist das schon schwieriger. Da wirken ungezählte menschliche Begegnungen nach: die Freundschaftszüge in die und aus der Sowjetunion. Zehntausende hatten drüben studiert oder gearbeitet. Erinnert sei nur an die »Druschba«-Trasse. Und wohl Hunderttausende haben ihren Urlaub in der Sowjetunion verbracht, mit unvergesslichen Erlebnissen. Der Großmut der sowjetischen Menschen uns Deutschen gegenüber war fruchtbarer Boden, in dem das Verständnis wachsen konnte, dass sowjetische Soldaten Befreier waren. Und das ist eben im Osten immer noch bei vielen präsent. Dem passt sich die AfD an, nicht umgekehrt.

    Die Sowjetunion gibt es nicht mehr; aber meine tiefe innere Bindung zu den Russen ist geblieben, nicht nur, weil ich ein Jahr in Moskau studiert habe und sehr häufig in diesem Land weilte. Mich schmerzt das, was gerade passiert, zutiefst. Ich wünschte mir von Herzen, dass es diesen völkerrechtswidrigen Krieg nicht gäbe, und ich hoffe sehnlichst, dass es bald einen Waffenstillstand und Verhandlungen geben wird.

    Das ist sehr zu hoffen.

    Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen – warum sollte der 24. Februar 2022 mein Weltbild zum Einsturz gebracht haben? Das kapitalistische Russland ist nicht die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Russland bricht das Völkerrecht. So wie der US-Imperialismus und andere Nato-Staaten es zuvor seit 1945 in regelmäßigen Abständen taten und tun, auch Deutschland mit der Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien. Es ist eine unfassbare Dreistigkeit, wie mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Russen wurden bis aufs Blut provoziert, Stichwort: Nato-Osterweiterung. Die Nato gefährde niemanden, hört man immer wieder. Das klingt in Anbetracht der Geschichte dieses Bündnisses wie ein Witz. Kurzum: Der Krieg in der Ukraine hat eine Vorgeschichte, und die Aggressivität, mit der der Mainstream reagiert, wenn diese Vorgeschichte erwähnt wird, zeugt von deren Bedeutung.

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