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- »Leben? Oder Theater?«
Charlotte Salomon: Im Stil der Stillosigkeit
Das Münchner Lenbachhaus zeigt den Werkzyklus »Leben? Oder Theater?« der in Auschwitz ermordeten Künstlerin Charlotte Salomon
Wie viele Extreme passen in ein Leben? Zu viele, um sie vollends zu erfassen. Charlotte Salomon wurde am 16. April 1917 geboren, zehn Tage nachdem die USA Deutschland den Krieg erklärt hatten, wodurch sich der kontinentale Konflikt endgültig zum Weltkrieg auswuchs. Neun Jahre später stürzte sich ihre Mutter aus einem Fenster in den Tod. Nachdem sie bereits in jungen Jahren die Schule wegen antisemitischer Anfeindungen verlassen hatte, beendete sie ihr Studium an der Kunsthochschule Berlin aus dem gleichen Grund. Dennoch war sie hungrig aufs Leben: auf Lieben, Leidenschaften und Freundschaften.
Mit ihren Großeltern emigrierte sie 1939 nach Südfrankreich, wurde interniert, wieder freigelassen, erlebte den Suizid ihrer Großmutter, heiratete, wurde schwanger, erneut deportiert und am 10. Oktober 1942 in Auschwitz im Alter von nur 26 Jahren ermordet.
Wie viele Extreme passen in die Kunst? Eine ganze, schier unüberschaubare Menge. In 769 Bildern hat die Berliner Malerin Charlotte Salomon ihr Leben dokumentiert, akribisch detailversessen, jedes Bild wie ein Comic mit Textzeilen und Musikzitaten collagiert, nahezu manisch innerhalb von nur zwei Jahren nach ihrer Flucht erschaffen.
In kräftigen Gouache-Farben ziehen an den kalten Betonwänden des Münchner Kunstbaus, des in einer U-Bahn-Station gelegenen Galerieraums des Lenbachhauses, die Szenen ihrer wechselvollen Geschichte vorbei: der Selbstmord ihrer Tante Charlotte, die sich im Schlachtensee ertränkte; die Depression ihrer Mutter mit anschließendem Suizid; der Aufstieg der Nationalsozialisten; immer wieder die Rolle, die Musik und bildende Kunst im Leben der jungen Frau spielten; ihre Lieben, ihre Enttäuschungen, ihre eigene Depression; die Emigration und Deportation.
»Leben? Oder Theater?« hatte sie selbst dieses Konvolut an Bildern, dieses Storbyboard of Life genannt, das sie wie ein Theaterstück – oder auch »Singspiel«, so der Untertitel – in Vorspiel, Hauptteil und Nachwort einteilte. Der Kunstbau hat diese Struktur durch die drei Wandfarben Blau, Rot und Gelb auch räumlich adaptiert. Nicht alle Figuren und Szenen in dieser Erzählung sind biografisch verbürgt. Vielmehr zeugen die Charaktere, die so sprechende Namen wie Herr und Frau Knarre, Paulinka Bimbam und Doktor Singsang tragen, von der narrativen Kraft der Künstlerin, die sich ebenso in ihren Bildern manifestiert.
Als »Stil der Stillosigkeit« bezeichnet die Salomon-Expertin Evelyn Benesch die Technik der Künstlerin, deren »Ausdrucksverlangen«, so der Kunsthistoriker Werner Hofmann, größer gewesen sei als strenge Formsprachen.
Das Lenbachhaus zeigt in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Amsterdam, von wo die Gouachen stammen, 237 der 769 Bilder – und schon allein in dieser Auswahl ist der visuelle Reichtum kaum zu erfassen.
Im Vorspiel erinnern die einzelnen Bilder mit ihren vielen Einzelszenen an mittelalterliche Bibelmalerei, es finden sich Michelangelo- und Rembrandt-Anleihen, der Expressionismus mit Munch und Beckmann ist vertreten bis hin zu immer weiter aufbrechenden Formen und Farben am Schluss. Letzteres hat einen besonders bedrückenden Grund: Im Exil gingen Charlotte Salomon Blätter und Farben aus. Die Szenen wurden skizzenhafter, unvollständiger und wirken wie gehetzt.
Tatsächlich schien Charlotte Salomon getrieben davon, ihre Geschichte zu erzählen: in Bildern, Texten und Musik. Sie war eine tief in die historischen Ereignisse, vor allem aber in die Ambiguitäten des Lebens eintauchende junge Intellektuelle, die mit feiner Ironie und lakonischem Zug philosophische Fragen stellte. »Um das Leben ganz zu lieben«, heißt es in einem Szenentext, »dazu muss man auch seine andere Seite, den Tod … umfassen und begreifen.«
Beim Betrachten dieses Werkes kommt einem dabei unweigerlich der Begriff des Manischen in den Sinn. Manie ist interessanterweise ein genderneutraler Begriff. Galten Frauen in der Geschichte gemeinhin als hysterisch, Männer als exzentrisch – oder genial –, so scheinen sich in der Manie, künstlerisch übersetzt in einen allumfassenden Schaffensdrang, beide Geschlechter zu treffen. Darin liegt der emanzipatorische Aspekt in Charlotte Salomons Werk. Sowie, ex negativo, in einem weiteren brisanten Detail: Mitten im Raum hängt an einer Stellwand ein in bunten Tuschefarben eng beschriebener Brief. Darin schildert Salomon, wie sie nach dem Suizid ihrer Großmutter ihren Großvater vergiftete. Ein biografisches Ereignis, das lange unbekannt war und einen in seiner gefühlskalten Schilderung frösteln lässt. Eine junge Frau, eine Mörderin? Offenbar.
Bedauerlicherweise konnte das Lenbachhaus dem Ansatz nicht nachkommen, die Werke des Vorspiels mit den dazugehörigen Textblättern zu zeigen. Salomon hatte ursprünglich die Szenentexte, statt sie wie später direkt in die Bilder zu integrieren, auf durchsichtige Transparentseiten gesetzt, die, auf die Bilder gelegt, zusätzlich mit durchgepausten Umrissen der darunterliegenden Szene versehen waren. Diese künstlerisch extrem interessante Multilayer-Technik geht in der Ausstellung, weil die Transparentseiten aufgrund ihres Alters nicht mehr ausgestellt werden können, leider verloren. Auch die Musikausschnitte lassen sich an Hörstationen nur abgekoppelt von den Szenenbildern rezipieren, denen Salomon sie zugedacht hatte.
Am Ende, als letztes Bild, sehen wir Charlotte Salomon am Meer in Südfrankreich sitzen, den Rücken dem Zuschauer zugewandt, auf dem, wie ein unlöschbares Tattoo, der Titel ihres Lebenswerks steht: »Leben? Oder Theater?« Das Motto eines künstlerisch überbordenden Geistes.
»Charlotte Salomon: Leben? Oder Theater?«, bis 10. September, Lenbachhaus, München
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