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Aki Kaurismäkis Film in Cannes: Verlorene Seelen

Arbeiter*innen finden in Aki Kaurismäkis »Fallen Leaves« Liebe und Rich Kids in Jessica Hausners »Club Zero« Zugang zur radikalen Ernährung

Die für den finnischen Regisseur Aki Kaurismäki typische Kneipenszene fehlt auch in »Fallen Leaves« nicht.
Die für den finnischen Regisseur Aki Kaurismäki typische Kneipenszene fehlt auch in »Fallen Leaves« nicht.

Manche Regisseur*innen kreieren lieber ihre Filmwelten, statt in der realen Welt zu drehen. Der finnische Aki Kaurismäki ist einer von ihnen. Seine Werke handeln zwar hauptsächlich vom Leben der Arbeiterklasse und unteren Gesellschaftsschichten, aber seine Protagonist*innen nimmt er erstmal aus der realen Gesellschaft heraus, um sie dann auf einer durch Verfremdungseffekt künstlich wirkenden Bühne zu inszenieren. Dort bewegen sich seine Charaktere fast zombieartig durch den Film, sind da, aber abwesend, schauen ausdruckslos in die Kamera, sprechen selten, und wenn überhaupt, dann lakonische Sätze in Staccato – Kaurismäki-Dialoge halt.

Zwei seiner Hauptfiguren sind Ansa (Alma Pöysti) und Holappa (Jussi Vatanen); Ansa arbeitet in einem Supermarkt, Holappa auf einer Baustelle. Ansa lebt allein, Holappa hat ein Bett in einem Wohncontainer. Ansa nimmt weggeworfene Lebensmittel mit nach Hause, Holappa trinkt während der Arbeit. Eines Abends begegnen sich beide in einer Karaoke-Bar. »Fallen Leaves«, der neue Film Kaurismäkis, erzählt die Geschichte zweier verlorener Seelen, die irgendwie zueinander finden. Dabei wiederholt sich vieles aus seinen früheren Werken – Arbeits-, Kneipen- und Kinoszenen inklusive. Vor allem Ansa erinnert stark an Iris in »Das Mädchen aus der Streichholzfabrik« (1990). Auch hier wird schweigend gegessen, während die Nachrichten zu hören sind. Nur in »Fallen Leaves« geht es in den aktuellen Nachrichten um den Ukraine-Krieg. Wie bei Michael Haneke sind die Nachrichten auch in Kaurismäkis Filmen oft ein Bestandteil der Bilder, die die Einsamkeit der Figuren verstärken.

Eine eigenartige, sich jenseits der realen Welt befindende Kulisse baut sich ebenso die österreichische Regisseurin Jessica Hausner für ihren Wettbewerbsfilm »Club Zero« auf. Ihre Protagonist*innen, ebenfalls zombiehaft, komisch in die Kamera guckend und sich im Slow-Motion-Rhythmus bewegend, sind im Kontrast zu jenen von Kaurismäki reiche Menschen. Während also in Kaurismäkis Welt Arbeiter*innen Alkoholprobleme haben und containern, bekommen die rich kids einer englischsprachigen Eliteschule in »Club Zero« gerade einen neuen Ernährungskurs angeboten, in dem ihnen Methoden von »Conscious Eating« (bewusster Ernährung) beigebracht werden sollen. Die Teilnehmer*innen haben jedoch unterschiedliche Motive, den Kurs zu besuchen: Die einen möchten abnehmen, die anderen den Planeten retten. Die neue Lehrerin Miss Novak (Mia Wasikowska) begrüßt erst einmal alle Gründe. Ihre Ernährungstipps beginnen mit der Werbung für ihren selbst hergestellten Tee, gehen weiter mit »mehr Gemüse, weniger Zucker«, bis hin zu »langsamer essen, weniger essen«. Alle scheinen happy zu sein: die Kinder, die Eltern, die Schuldirektorin. Doch bald entpuppt sich der anfangs harmlos und gesund klingende Conscious-Eating-Kurs als eine radikale Sekte. Die Lehrerin will nach einer Weile, dass die Kinder gar kein Essen mehr zu sich nehmen, um sich dadurch zu verewigen.

Der Film beginnt mit einer Triggerwarnung wegen der Szenen, die Essstörungen beinhalten. Wie Hausner in »Club Zero« die Angewohnheiten der Reichen auf ihre Art und vor allem anhand des Themas Essen zu parodieren versucht, das weist einige Parallelen zu dem Gewinnerfilm des vergangenen Jahres, »Triangle of Sadness«, auf (Stichwort Kotzszene), dessen Regisseur Ruben Östlund Jurypräsident des diesjährigen Wettbewerbs ist. Und wenn jemand für Sandra Hüller in der Kategorie Beste Schauspielerin eine Konkurrenz wäre, dann Mia Wasikowska. Ihre künstliche Ruhe ausstrahlende, übertrieben langsam sprechende und manipulative Miss Novak geht einem richtig auf die Nerven, zumal die ganze Szenerie durch die Töne der Klangschale und Om-Rufe noch pseudo-spiritueller wirkt.

Kaum hat man die Bilder der Club-Zero-Mittagspausen aus dem Kopf, in denen Schulkinder eine einzige Kartoffelscheibe auf dem Teller haben, um bewusste Ernährung zu praktizieren, bekommt man einen anderen Wettbewerbsfilm präsentiert, in dem fast nur gegessen oder gekocht wird. Im französischen Beitrag »The Pot-au-feu«, der im Jahr 1885 spielt und von einem berühmten Gourmet, Dodin Bouffant (Benoît Magimel), und seiner Köchin Eugénie (Juliette Binoche) handelt, werden in den ersten 30 Minuten nur Speisen zubereitet.

Aus dem Müll essen, gar nichts essen oder fast nur essen: Was das Kulinarische angeht, wird also im diesjährigen Wettbewerb die ganze Bandbreite abgedeckt.

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