- Wirtschaft und Umwelt
- Lieferengpässe bei Medikamenten
Strukturelle Knappheit bei Arzneien
Experten sind skeptisch, ob die Gesetzespläne der Bundesregierung viel bringen
In seiner Einrichtung seien nur wenige Medikamentenregale leerer als sonst, sagt Torsten Hoppe-Tichy, Leiter der Apotheke des Universitätsklinikums Heidelberg. Diese seien sogar eher voller, da man sich auf mögliche Lieferengpässe vorbereite und den Inventurbestand bereits vor Jahren verdoppelt habe. Außerdem setze man mehr auf Austausch-Generika, Importe und auf eigene Herstellung, indem man Rohstoffe einkauft und vor Ort »verkapselt«, so Hoppe-Tichy bei einem Pressegespräch des Science Media Center. Im Krankenhaus muss man aber auch im Unterschied zu gewöhnlichen Apotheken deutlich weniger verschiedene Medikamente bereithalten. Die Versorgung der Patienten in den Betten der Uniklinik sei nicht das Problem. Aber nach der Entlassung könne es bei der Nachbehandlung anders aussehen.
Dass es Lieferprobleme und Engpässe bei ganz unterschiedlichen Medikamenten gibt, ist Experten seit Jahren bekannt. In der Corona-Zeit verschärfte sich die Lage noch, und seit einigen Monaten diskutiert auch die Politik über das Thema. Im Bundestag wird derzeit ein Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums beraten, der die Belieferung Deutschlands attraktiver machen soll. So sollen die unter Preisdruck leidenden Generika-Hersteller ihre Abgabepreise für bestimmte Kinder-Arzneien einmalig um bis zu 50 Prozent des zuletzt geltenden Festbetrages anheben dürfen. Zudem soll eine Art Frühwarnsystem für absehbare Engpässe geschaffen, eine »Lagerhaltung« der Pharmafirmen von mindestens drei Monaten zur Pflicht und die Beschaffung von Medikamenten im Ausland gefördert werden. Die Pläne stoßen auf Kritik: Die Regierung setze »alles auf eine Karte: mehr Geld für die Pharmaindustrie«, kritisieren etwa die Krankenkassen.
Kritik kommt auch von der Bundestagsopposition: Allein das »Drehen an der Rabattschraube« werde den hochkomplexen Prozess nicht lösen, sagte der CDU-Abgeordnete Georg Kippels bei der ersten Lesung in der vergangenen Woche. Und Kathrin Vogler, Gesundheitsexpertin der Linksfraktion, bemängelte, die vorgesehene Vergütung für die Beschaffung von Ersatzmedikamenten decke den Arbeitsaufwand der Apotheker nicht annähernd ab.
Auch Experten sind skeptisch, ob das Gesetz viel bringt. Minister Karl Lauterbach (SPD) wie auch die EU-Kommission mit ihren Plänen setzen auf eine Diversifizierung bei der Beschaffung. Doch da bei Generika, die 80 Prozent des hiesigen Medikamentenmarktes ausmachten, etwa zwei Drittel der Wirkstoffe in Indien und China hergestellt werden, sei eine Diversifizierung kaum möglich, wie David Francas, Experte für Daten- und Lieferkettenanalyse an der Hochschule Worms, erläutert. Außerdem gebe es bei bestimmten Wirkstoffen weltweit überhaupt nur noch einen Hersteller.
»Es wird langfristig nicht möglich sein, bei wichtigen Generika allein auf Lieferungen aus Asien oder aus anderen Ländern angewiesen zu sein«, sagt denn auch Lauterbach. Er wie auch Brüssel wollen die Rückholung der Produktion fördern. Aus der Linken kommt sogar der Ruf nach staatlicher Medikamentenherstellung. Frankreich mit seiner industriepolitischen Tradition ist hier einen Schritt weiter: Dank üppiger Förderung durch die Regierung soll ab kommendem Jahr beim Unternehmen Sequens in Roussillon bei Lyon erstmals seit 2008 wieder in Europa der Schmerzmittelwirkstoff Paracetamol hergestellt werden.
Ulrike Holzgrabe, Pharmazie-Expertin an der Universität Würzburg, findet es hingegen »naiv zu sagen, wir holen die Produktion zurück«. Nicht nur, weil dies für jedes Produkt mindestens drei bis fünf Jahre dauern würde. Bei Wirkstoffen brauche es zudem viele Zwischenproduktehersteller, die ebenfalls in Asien angesiedelt sind. Daher werde in Roussillon lediglich die letzte Stufe der Produktion, die »sehr einfache Synthese«, stattfinden. Die Zwischenprodukte dafür müssten weiter aus China bestellt werden. Bei vielen Medikamenten gebe es aber keine Engpässe beim Wirkstoff selbst, sondern bei einzelnen Hilfsstoffen.
Aus Sicht von Holzgrabe ist es zwar wichtig, unabhängiger von China zu werden, es sei aber schlicht »unmöglich, unabhängig zu werden«. Sie weist darauf hin, dass es sich bei bestimmten Hilfsstoffen um Chemikalien handle, die aus Umweltgründen schon lange nicht mehr in Europa hergestellt werden. Um Genehmigungen dafür zu erhalten, müssten eventuell sogar wichtige Umweltauflagen gelockert werden. Und dann steht auch noch das Problem der hohen Energiekosten in Europa einer Rückverlagerung der energieintensiven Chemikalienherstellung entgegen.
Ein weiteres Problem bei der Rückholung der Generika-Produktion ist, dass sie in Deutschland schlicht defizitär wäre. In früheren Jahren produzierten europäische Pharmakonzerne noch dank einer Mischkalkulation unter einem Dach selbst entwickelte, profitträchtige Blockbuster und unrentable Nachahmerprodukte. Mittlerweile gibt es aber nur noch ein derart breit aufgestelltes Unternehmen, doch die Schweizer Novartis versucht gerade, ihre Generika-Tochter Sandoz zu veräußern.
Dies zeigt, dass es um weit mehr geht, als bei einzelnen Medikamenten für höhere Preise zu sorgen, was der Kern der Lauterbach-Pläne ist. Es braucht die Entwicklung einer langfristigen Strategie, die sich auch an strukturelle Dinge heranwagt, darüber sind sich die Experten einig. Es gehe darum, »ein gesamtes Ökosystem zu ändern«, wie es Lieferkettenforscher Francas ausdrückt. So könne man nicht national ein Problem lösen, das sich nur international lösen lasse.
Apothekenchef Hoppe-Tichy weist zudem auf ein ethisches Problem hin, wenn man das Beschaffungswesen weiter verbessert, was die Regierung vorhat: »Wenn wir zunehmend auf Importe von Medikamenten aus anderen Ländern setzen, kaufen wir deren Märkte leer.«
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