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»Für eine starke Linke darf sich niemand in ihr schwach fühlen«
Jan Richter aus dem Linke-Vorstand über die Auseinandersetzung mit und um Sahra Wagenknecht sowie die Defizite der Partei
Am vergangenen Wochenende hat der Linke-Vorstand Sahra Wagenknecht und die Unterstützer ihres Parteiprojekts aufgefordert, ihre Parlamentsmandate abzugeben. Diejenigen, die damit gemeint sind, lehnen das erwartungsgemäß ab. Eine rechtliche Handhabe hat der Vorstand nicht. Was ist so ein Beschluss wert?
Jan Richter, geboren 1979, lernte Kaufmann im Einzelhandel und arbeitete dann bei der Modekette H&M. Dort war er in Berlin auch Vorsitzender des Betriebsrats. Später war er im Büro der Linke-Bundestagsabgeordneten Jutta Krellmann tätig, seit 2017 ist er Koordinator des Fraktionsarbeitskreises »Arbeit und Soziales«. Richter gehört der Bundesarbeitsgemeinschaft »Betrieb & Gewerkschaft« an. Seit Februar 2021 ist er Mitglied des Linke-Bundesvorstands.
Keine Partei kann tatenlos dabei zuschauen, wie unter ihrem Dach ein Konkurrenzprojekt aufgebaut wird. Der Beschluss verurteilt dieses Gebaren und setzt ein Stoppsignal. Man muss aber kein Hellseher sein, um zu erahnen, dass Teile der Mitgliedschaft enttäuscht oder auch entsetzt sind. Ich denke, wir sind deshalb als Parteivorstand angehalten, den daraus entstehenden Fliehkräften mit Sensibilität zu begegnen. Wir müssen klarmachen, dass es nicht darum geht, einem ganzen Flügel den Stuhl vor die Tür zu setzen.
Wagenknecht selbst und andere werfen dem Vorstand vor, mit seiner Forderung den Fraktionsstatus der Linken im Bundestag zu gefährden. Darin steckt die Drohung, das Mandat zu behalten, aber die Fraktion zu verlassen. Wären die damit verbundenen starken Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit der Linken im Bundestag ein akzeptabler Preis in der Auseinandersetzung um die Hoheit in der Linkspartei?
Allen ist bewusst, dass unsere Fraktion ein hohes Gut ist. Davon bin ich überzeugt. Der Kurs der Ampel und das Agieren der rechtskonservativen Opposition brauchen eine starke linke Fraktion im Parlament. Aktuell zeigt sich das vor allem beim Angriff auf das Asylrecht. Das ist allen Seiten klar. Das gilt für die Abgeordneten, die aufgrund ihrer dezimierten Anzahl Doppel- und Dreifachbelastungen stemmen. Und das gilt erst recht für die Beschäftigten der Fraktion, die sich dort täglich den Arsch aufreißen. Niemand geht mit der Situation leichtfertig um.
Über eine Parteigründung durch Wagenknecht wird seit Langem spekuliert; die Politikerin nährt diese Spekulationen regelmäßig. Was ist passiert, dass der Parteivorstand jetzt diesen drastischen Beschluss gefasst hat?
Die Situation hat sich aufgrund konkreter Vorkommnisse verschärft. Wir wissen, dass vermehrt Mitglieder angesprochen werden, um in eine sogenannte Wagenknecht-Partei zu wechseln. Dabei werden Mandate, die diese neue Partei künftig erringen will, in Aussicht gestellt. Hinzu kommt: Einzelne Abgeordnete haben bereits ihre Wahlkreisbüros gekündigt. Kurz: Der Aufbau einer konkurrierenden Partei konkretisiert sich, da kann kein Parteivorstand zusehen.
Die Aufforderung zur Mandatsniederlegung wurde einstimmig beschlossen. War das gleich klar im Vorstand, oder gab es dazu zunächst auch andere Meinungen?
Der Text lag erst bei der Behandlung als Tischvorlage vor, deshalb konnte das nicht klar sein. In der Debatte wurden natürlich Bedenken diskutiert, auch von mir. Ich habe diesem Beschluss am Ende zugestimmt, weil ich wichtig fand, dass der Parteivorstand als Gremium in dieser zugespitzten Situation geschlossen auftritt. Aber es war keine leichte Entscheidung.
Sie haben im Februar den Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zu einer Friedensdemonstration unterstützt, anders als andere in der Linken. Ist Ihre Zustimmung zu dem jüngsten Vorstandsbeschluss Ergebnis eines neuen Nachdenkens?
Ich entscheide danach, worum es geht, nicht um wen. So falsch ich die Pläne für eine neue Partei finde, mit ihrer Kundgebung für den Frieden am 25. Februar hat Sahra richtig gelegen. Ich hätte mir die Unterstützung dafür durch meine Partei gewünscht. Leider führen wir seit Jahren keine strategischen Klärungsprozesse, sondern innerparteiliche Machtkämpfe. Daraus erwächst eine Überforderungssituation, die sich bei der Positionierung zum »Manifest für Frieden« deutlich gezeigt hat. Eine selbstbewusste Partei, die weiß, wo sie steht, die eine klare Einschätzung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und eine Vorstellung von der eigenen Rolle hat, hätte hier anders agiert. Sie hätte auf Augenhöhe mit den Initiatoren um eine Abgrenzung nach rechts gestritten, statt Schaufensterbeschlüsse zu fassen und sich damit aus der gemeinsamen Aktivität herauszunehmen.
Sevim Dağdelen, eine Vertraute Wagenknechts und in der Linksfraktion für Außenpolitik zuständig, hat vor einiger Zeit der Führung im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg vorgeworfen, die Partei in eine Kriegspartei zu verwandeln, sich sogar – wörtlich – »an die Spitze der Kriegsparteien in Deutschland zu setzen«. Was antworten Sie darauf?
Dieser Vorwurf ist falsch. Die Linke lehnt Waffenlieferungen ab, ist gegen Aufrüstung und damit eine Friedenspartei. Wenn diese Aussage eine Replik auf die Rufe nach schweren Waffen ist, die wir gelegentlich aus den Landesverbänden Thüringen, Berlin oder Bremen hören, dann sage ich: Diese Rufe sind nicht durch unser Programm abgedeckt. Sie schaden unserer Partei.
Der Punkt, den Wagenknecht für sich hat, ist: Die Linke ist seit Längerem in einem schwierigen Zustand, und es muss für die vielen schlechten Wahlergebnisse der vergangenen Jahre Ursachen geben, die nicht nur mit Wagenknechts Dauerkritik zu tun haben. Welche wären das?
Der desolate Zustand der Partei Die Linke ist nicht nur individuelles Führungsversagen. Er muss eingebettet werden in die aktuelle gesellschaftliche Krisensituation. Es gibt zu viele ungeklärte Fragen: Was ist die Kernaufgabe einer sozialistischen Partei in einer Zeit tiefer sozialer und ökologischer Widersprüche? Wie definiert sie ihre Rolle in diesen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und wer sind ihre zentralen Bündnispartner? Ohne die Klärung dieser Fragen wissen die Menschen nicht, wofür Die Linke steht. Unser desaströses Abschneiden zwingt uns eine Strategiedebatte auf, die endlich geführt werden muss.
Eine der von Wagenknecht permanent vorgetragenen Kritiken, auch in ihrem Buch »Die Selbstgerechten«, lautet: Die Linke vernachlässige die soziale Frage zugunsten von Nebenfragen. Sie selbst waren Betriebsratsvorsitzender bei der Modekette H&M. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Es ist falsch zu behaupten, Die Linke kümmere sich nicht mehr oder zu wenig um die soziale Frage. Richtig ist: Sie hat ihren Klassenkompass beim Betrachten gesellschaftlicher Entwicklungen verloren. Als »alter Betriebsratsvorsitzender« bin ich davon überzeugt, dass wir den Blickwinkel der abhängig Beschäftigten einnehmen müssen, wenn wir soziale Fragen aufgreifen. Die Welt der Arbeit muss der politische Bezugspunkt sein. Das ist an einigen Stellen verloren gegangen.
Zum Beispiel?
Wir haben gute Kontakte zu Gewerkschaften, wir unterstützen Streiks und so weiter. Aber mein Eindruck ist, dass wir beispielsweise oft zu sehr über die Höhe von Sozialleistungen reden statt grundsätzlich über die soziale Lage von Familien. Ich finde, wir sollten auf alle Themen – auch solche wie Migration, Krieg und Frieden oder Klimabewegung – wieder stärker aus dem Blickwinkel der abhängig Beschäftigten schauen.
Sahra Wagenknecht bezeichnet die Mitglieder des Linke-Vorstands als Hasardeure, die »zurücktreten und vernünftigen Leuten Platz machen« sollten. Haben angesichts der beiderseitigen Konfrontation diejenigen in der Linken noch eine Chance, die wie Gesine Lötzsch in dem Streit vermitteln wollen?
Ich bin der Meinung, die Partei sollte aufmerksam zuhören, wenn Gesine sich hier zu Wort meldet. Denn sie weiß erstens, wie man Wahlen gewinnt, und zweitens um die Wirkungslosigkeit parlamentarischer Arbeit ohne Fraktionsstatus. Als Gewerkschafter und ehemaliger Betriebsrat sage ich: Wir brauchen mehr Vermittler wie Gesine. Denn stark ist Die Linke nur, wenn wir zusammenstehen. Es wird Zeit, den innerparteilichen Streit so zu führen, dass er uns stärkt. Das setzt auf allen Seiten ein Mindestmaß an Grundsolidarität voraus. Für eine starke Linke darf sich niemand in ihr schwach fühlen. Das steht auch im Vorstandsbeschluss und bedeutet, Auseinandersetzungen so zu organisieren, dass nicht nur Sieger oder Besiegte übrigbleiben. Das nehmen wir als Parteivorstand ernst und verstehen es als Selbstverpflichtung.
Es gibt einen zweiten Beschluss des Linke-Vorstands vom Wochenende – einen Strategieplan für die Bundestagswahl 2025. Darin ist von Comeback und Erneuerung die Rede. Was müsste Kern einer Erneuerung der Linken sein?
Michael Brie und Heinz Bierbaum haben jüngst die Schaffung eines strategischen Zentrums ins Spiel gebracht. Das halte ich in Anbetracht unseres Zustands für überlegenswert. Letztlich geht es darum, einen Strategieprozess einzuleiten, der alle Flügel einbindet und damit die Diskussionen nach innen kanalisiert, die aktuell öffentlich geführt werden. Hierzu sollte man sich auf die besonnensten Köpfe der Flügel und Landesverbände konzentrieren und diese zusammenholen. Dabei kann im Übrigen der Gewerkschaftsflügel der Partei eine besondere Rolle spielen, denn Betriebsräte wissen, wie man über alle Meinungsunterschiede hinaus Gremien zusammenhält. So könnte der Erneuerungsprozess angegangen werden.
In dem Beschluss heißt es, die Linke widerspreche jenen Projekten, die die gesellschaftlichen Konflikte in Kulturkämpfe umdeuten wollten. Wer ist damit gemeint?
Offenbar alle, bei denen der Klassenkompass nicht mehr funktioniert. Ich denke, wir müssen zwei Dinge tun: Wir müssen die Unklarheit über Schwerpunktsetzung und Zielgruppen überwinden. Und wir müssen eine unserer Pluralität angemessene Streitkultur entwickeln. Der Streit der Flügel um unterschiedliche Herangehensweisen bei den Themen Migration, Krieg und Frieden, Soziales, Identitätspolitik oder das Verhältnis zur Klimabewegung hat die Partei in den vergangenen Jahren an ihren Rändern polarisiert. Jetzt braucht es strategische Klärungsprozesse, die die Partei nicht weiter verletzen, sondern stärken. Dazu gehören auch strukturelle Veränderungen und sichtbare Signale des Aufbruchs: Veränderungen im Apparat, eine Verbesserung des Verhältnisses von Fraktion und Partei und die Verstetigung des strategisch-inhaltlichen Austauschs. Große Aufgaben, die wir jetzt angehen müssen. Dabei ist klar: Zu welcher Partei sich Die Linke bis 2025 entwickelt, wird maßgeblich auch davon abhängen, wer in ihren Gremien, Zusammenschlüssen und Strömungen um ihre inhaltliche Ausgestaltung ringt.
Die Linke-Führung gibt das Ziel aus, bis 2025 mindestens 10 000 neue Mitglieder zu gewinnen – bei gut 54 000 Genossen Ende des vergangenen Jahres. Ist das eine realistische Größenordnung?
Das ist eine ambitionierte Größenordnung.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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